Frau Degele, die Political Correctness befindet sich in einem Dilemma: Die Befürworter wollen damit Gleichheit und Gerechtigkeit erreichen, die Gegner klagen über Zensur und Meinungsdiktatur. Wie kann es sein, dass das eigentlich Gute so viel Konfliktpotenzial birgt?
Politische Korrektheit steht für die eigentlich selbstverständliche Forderung nach Anerkennung von Minderheiten und ausgegrenzten Gruppen, weil sie eine solche Anerkennung bislang nicht erfahren haben. Zum Konflikt kommt es, weil diese…
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Gruppen, weil sie eine solche Anerkennung bislang nicht erfahren haben. Zum Konflikt kommt es, weil diese Forderungen bei der Mehrheitsgesellschaft oft eine Angst davor auslösen, eigene Privilegien zu verlieren. Es wird so empfunden, als wolle jemand Sonderrechte für sich und schlimmer noch: meine Rechte einschränken. Dabei handelt es sich bei diesen in Wahrheit ja um Vorrechte. Das ist deshalb herausfordernd, weil den Personen ihre Privilegien oft gar nicht bewusst sind. Es war schließlich immer so, demnach muss es normal sein. Wenn Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden, setzt oft ein Verteidigungsreflex ein.
Ob gleichgeschlechtliche Ehe oder Antidiskriminierungsgesetz: Auf rechtlicher Ebene hat sich bereits einiges zur Anerkennung von Minderheiten getan. Emotional und hitzig wird es aber immer noch, wenn es um Sprache geht. Der Vorwurf lautet dann, man dürfe gar nichts mehr sagen.
Das ist tatsächlich die typische Ohrfeige gegen Political Correctness. Es soll da eine Elite geben, die irgendwie die Meinungsfreiheit eingrenzt. Das ist natürlich Quatsch, denn selbstverständlich dürfen weiterhin alle ihre Meinung sagen. In dem Vorwurf steckt vielmehr der Anspruch, die eigene Meinung sagen zu dürfen, ohne Widerspruch dafür zu ernten. Die oft zentrale Forderung von politischer Korrektheit ist, Ausdrücke zu verwenden, die für die bezeichneten Minderheiten adäquat sind. Wer dann plötzlich das seit der Kindheit so selbstverständliche Wort Zigeuner nicht mehr benutzen soll, ist durchaus verunsichert und kann wütend werden – oder auch dazulernen.
Aber wer kann über die Legitimität von Begriffen entscheiden?
Die Gruppen sollten untereinander entscheiden, wie sie bezeichnet werden wollen. Wenn Sinti und Roma den Begriff Zigeuner als eindeutig rassistisch bewerten, gibt es keinen Grund, ihn weiter zu verwenden. Abgesehen davon gibt es aber keine übergeordnete Instanz, die bestimmen kann, wie gesprochen wird. Sprache ist historisch und entwickelt sich permanent weiter. Ich rede je nach Situation ja auch anders – in einem Seminar an der Universität anders als auf einer Familienfeier. Es sind also die Kontexte, die Bedeutungen machen: „Hey Alter“ kann eine Wertschätzung signalisieren oder auch beleidigen. Das macht den Diskurs um politische Korrektheit einerseits entwicklungsfähig, andererseits aber auch hochumstritten.
Grundlegend stellt sich die Frage, wie stark der Zusammenhang zwischen Denken, Sprechen und Handeln wirklich ist. Man kann ja durchaus Dinge sagen und ganz anders handeln, oder?
Natürlich beeinflusst Sprache unser Handeln. Sie transportiert Einstellungen, Bewertungen und Haltungen. Dabei muss zwar nicht immer zwingend B aus A folgen, es gibt aber viele deutliche Hinweise darauf, dass Sprache unsere Realität prägt. Ein Beispiel ist die gendergerechte Sprache. 2013 beschloss etwa die Universität Leipzig, in ihrer Grundordnung ausschließlich die weibliche Form zu verwenden. Dazu der Hinweis, Männer seien mitgemeint. Darüber haben sich einige Feuilletons lustig gemacht und die Aktion als Genderwahnsinn diskreditiert. Das ist schon vielsagend: Einmal nicht die männliche Form als Standard zu verwenden provoziert offensichtlich. Daran merkt man, dass es eben doch nicht „nur Sprache“ ist, wie es immer so beschwichtigend heißt – es geht um ein Selbstverständnis, das damit zum Ausdruck gebracht wird.
Die korrekte Bezeichnung ist allerdings nicht immer eindeutig – oft gibt es auch innerhalb einer Gruppe noch keine Einigkeit. Manchmal entsteht der Eindruck, dass man der Dynamik kaum folgen kann, wenn man nicht aktiver Teil des Diskurses ist. Ist da was dran?
Teilweise. Denkt man beispielsweise an die Bezeichnung für geschlechtliche sexuelle Minderheiten, hatte das ja mal mit gay für schwule Männer angefangen, was aber lesbische Frauen ausgeschlossen hat. Dann ging es weiter mit den englischsprachigen Abkürzungen für lesbian, gay, bi- und transsexual, also LGBT, und hat sich dann immer weiterentwickelt. Historisch ist das nachvollziehbar und richtig: Da hat sich erst einmal eine Minderheit Sichtbarkeit verschafft, und dann kamen weitere wie intersexuelle, asexuelle und andere Communitys dazu, die nicht fehlen wollten. Fast logischerweise entsteht damit aber das Problem, dass bei Abkürzungen wie LGBTQIA+ viele Menschen irgendwann aussteigen.
Und auch hier ist wieder der Kontext entscheidend: Geht es um die Sichtbarkeit nach außen, also darum, politische Forderungen durchzusetzen? Das erfordert dann eine für die gesellschaftliche Mehrheit nachvollziehbare Bezeichnung. Oder geht es um die innerhalb der Communitys existierende Sichtbarkeit und Anerkennung? Dann ist Genauigkeit gefragt – bis hin zu umständlichen Buchstabenfolgen. Es gibt aber auch in den entsprechenden Communitys kontroverse Diskussionen darüber, wie sich das wieder vereinfachen lässt. Ich persönlich finde Q [für queer, Anm. d. Red.] als verallgemeinernde Bezeichnung nicht schlecht, lasse mich aber gern von besseren Alternativen überzeugen. Das ist zwar ein anstrengender, aber notwendiger Prozess, den ich wichtig finde und verteidige.
Bräuchte es da aber bisweilen nicht mehr Toleranz im Sinne der gemeinsamen Sache? Die queerfeministische Rapperin Sookee hatte etwa in einem Text auf die Diskriminierung von Lesben und Schwulen aufmerksam gemacht und zog damit den Vorwurf auf sich, sie schließe dadurch andere Diskriminierte wie transgeschlechtliche Personen aus.
Dafür würde ich auch plädieren. Denn es lässt sich nicht alles gleichzeitig thematisieren, und mit irgendwas muss man anfangen. Ich halte es zudem auch für problematisch innerhalb der Linken, dass mitunter die Bereitschaft fehlt, mit Leuten im Gespräch zu bleiben, die sich nicht immer politisch korrekt ausdrücken – obwohl oftmals kein böser Wille dahintersteht. Ein typisches Beispiel wäre die Frage: „Woher kommst du?“ Für viele Menschen mit Migrationshintergrund ist das nur noch nervig, völlig zu Recht. Für sie bedeutet das: Du gehörst doch eigentlich nicht hierher. Das ist oftmals so, aber es ist nicht zwingend die einzige Sichtweise. Es kann auch echte Neugierde an einer Lebenswirklichkeit bedeuten, über die ich nichts weiß. Ich würde mir schon wünschen, dass unterschiedliche Möglichkeiten des Etwas-Meinens in der Praxis mehr verhandelt werden.
Es gibt nicht wenige, die Donald Trumps Wahlsieg im Jahr 2016 als Widerstand gegen die politische Korrektheit deuten. Wie beurteilen Sie das?
Das finde ich zu einfach. Political Correctness ist schon lange vor Donald Trump oder Barack Obama ein Thema in den USA gewesen. Sie mag zwar vielen Konservativen ein Dorn im Auge sein, aber politische Phänomene wie die Präsidentschaftswahlen sind dann doch deutlich vielschichtiger. Da geht es um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen, die dazu führen, dass sich Menschen nicht mehr berücksichtigt fühlen, dass ihre Arbeit plötzlich nichts mehr wert ist. Das hat mit politisch korrekten Sprechweisen nur wenig zu tun.
Diese Sprechweisen stehen dort aber doch symbolisch für eine vermeintliche linksliberale Elite, die wiederum verantwortlich für die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen gemacht wird.
Das ist tatsächlich der verkürzte und auch suggestive Vorwurf, der vor allem seit der Präsidentschaft Barack Obamas wieder starkgemacht wurde. Natürlich stand Obama für eine Politik, nach der alle Bevölkerungsgruppen die gleichen Rechte und Chancen haben und die sich auch politisch korrekt ausgedrückt hat. Wenn also diese Ziele dem eigenen politischen Feindbild entsprechen, dann steht auch Political Correctness stellvertretend für dieses Feindbild.
In diesem Zusammenhang wird oft darauf verwiesen, dass die sogenannte Arbeiterschicht angeblich von zu viel politischer Korrektheit verschreckt würde. Aber sind nicht die emotionalsten Kritiker meist gutsituierte Akademiker?
So ist es. Die sogenannte Arbeiterschicht ist oft viel weltoffener und toleranter, als es einem diese klischeehafte bürgerliche Erzählung immer weismachen möchte. Für viele aus dem nichtakademischen Milieu ist das Thema gar nicht so relevant. Ihnen sind Begriffe egal, weil sie sich oft nicht so über sprachliche Kompetenzen definieren wie etwa Journalistinnen und Journalisten, von denen meistens die schärfste Kritik stammt.
Selbst unter Linken, also grundsätzlichen Befürwortern von Gleichheit und Gleichberechtigung, führt politische Korrektheit aber zunehmend zu Diskussionen. Warum?
Innerhalb der Linken stehen auf der einen Seite diejenigen, denen es wichtig ist, wie sie sich ausdrücken. Auf der anderen Seite solche, die sagen, die Frage der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit muss im Mittelpunkt unserer Agenda stehen. Das Ziel, Möglichkeiten in einer Gesellschaft gerecht zu verteilen, eint beide Lager. Der Konflikt dreht sich aber um den richtigen Weg dorthin und um die Frage, ob adäquate Sprache nur ein störender Nebenkriegsschauplatz ist. Solche Diskussionen sind mir lieber als die gegen Gleichberechtigung und Gleichheit zielende Ablehnung durch Rechte.
Die Kritik geht aber doch noch weiter. Da heißt es, dass die lauten „Sprachkriege“ die notwendigen ökonomischen Verteilungskämpfe übertönten und so wirkliche Veränderungen im linken Sinne sogar blockierten.
Das sehe ich nicht so. Sichtbarkeit und Einfluss hängen eng miteinander zusammen. Wer kommt denn in den politischen Debatten um diese Verteilungskämpfe zu Wort und wer nicht? Wer spricht für wen? Da sagt die Zusammensetzung politischer Talkshows doch fast alles: Frauen und Nichtweiße sind dramatisch unterrepräsentiert, auch bei Debatten um Black Lives Matter oder Systemrelevanz in Zeiten der Pandemie. Wer nicht an der Sichtbarkeit ausgeschlossener oder unterdrückter Gruppen interessiert ist, wer deren Wunsch nach angemessener sprachlicher Anerkennung zurückweist, beharrt vielmehr auf dem zu lange unhinterfragten Recht, selbst darüber bestimmen zu können, wer sich beleidigt fühlen darf und wer nicht.
Wer das Genervtsein eines Angesprochenen auf die Frage: „Woher kommst du?“, nicht als Aufforderung wahrnimmt, den eigenen Sprachgebrauch zumindest zu hinterfragen, benutzt das „Ich habe es aber nicht so gemeint“ als Freibrief für den eigenen privilegierten Sprachgebrauch. Stattdessen könnte man auch einfach sagen: „Entschuldigung.“ Das Festhalten an diskriminierendem Sprechen blockiert also vielmehr mögliche Koalitionen und verhindert Solidarität – die Grundlage für wirkliche Veränderungen.
Sie werben angesichts dieser Konflikte für eine neue Streitkultur. Wie soll diese aussehen?
Auf der einen Seite braucht es die Bereitschaft, sich mit der Kritik von Minderheiten aufrichtig auseinanderzusetzen und diese anzuerkennen. Auf der anderen Seite sollten diejenigen, die Vorwürfe erheben, sich darauf einlassen, dass die Sichtweisen der anderen auch lohnend sein können. Es bringt nichts zu sagen: „Die machen es falsch, damit will ich nichts mehr zu tun haben.“ Ich sehe das gerne als Anfang einer Diskussion, bei der tatsächlich eine Einigung möglich ist.
Deshalb bin ich der Meinung, dass wir Political Correctness gerade jetzt brauchen, auch den Begriff. Denn angesichts des Rechtsrucks der vergangenen Jahre ist es eben nicht damit getan, dass die Leute bloß anständig miteinander umgehen. Sie müssen auch Position beziehen. Wir brauchen Political Correctness, um aktiv zum Ausdruck zu bringen, dass es uns an einer gerechten Gesellschaft liegt, in der auch diejenigen berücksichtigt werden, die es nicht so leicht haben wie die Mehrheit.
Dr. Nina Degele ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihr Buch Political Correctness – Warum nicht alle alles sagen dürfen ist bei Beltz Juventa erschienen