Europa: In Vielfalt geeint?

Die EU steckt in der Krise, viele Bürger denken wieder nationalistisch. Die Psychologin Constanze Beierlein über tribalistisches Denken.

Foto zeigt drei Männer, die sich die Europafahne ins Gesicht gemalt haben.
Die Europäische Union: Taugt sie noch zur Identifikation? © ullstein bild - mirrorpix

Frau Professor Beierlein, ob Brexit oder Proteste in Frankreich: Politische Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikte in Europa nehmen zu. Doch die Mehrheit der EU-Bürger findet laut Umfragen die Idee Europa nach wie vor gut. Warum ist das so?

Ich glaube, dass viele Menschen durch die aktuellen Entwicklungen sehr wohl irritiert und verunsichert sind. Bisher war klar, dass Deutschland selbstverständliches Mitglied der Europäischen Union ist. Dies hat bei vielen auch dazu geführt, dass sie affektive…

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Mitglied der Europäischen Union ist. Dies hat bei vielen auch dazu geführt, dass sie affektive Bindungen an Europa und die Europäer als gemeinsame soziale Gruppe entwickelten. Die EU-Mitgliedschaft Deutschlands hat damit auch das Bild vom eigenen Selbst beeinflusst, viele fühlen sich als Europäer. Seit einigen Jahren wird jedoch diese Zu­gehörigkeit – insbesondere durch politische Akteure selbst – immer mehr infrage gestellt.

Seit der Aufhebung der Blöcke des Kalten Kriegs scheint unsere Ambiguitätstoleranz besonders herausgefordert zu sein. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland weiß zwar, dass die Europäische Union kein einheitliches Gebilde ist, sondern dass es eine Menge Unterschiede gibt – und Widersprüche. Und wenn man Ambiguitätstoleranz hat, kann man diese Vieldeutigkeit aushalten. Aber wenn diese Toleranz zu stark gefordert wird, können uneindeutige Situationen uns belasten. Mittlerweile macht sich bei zahlreichen Menschen das Gefühl breit, dass die Welt zu komplex geworden ist.

Laut denselben Umfragen sehen sich die meisten Europäer zuerst als Angehörige ihrer eigenen Nation. Fühlt man sich sicherer, wenn man eine Identität bevorzugt?

Nicht unbedingt. Wir haben alle mehrere soziale Identitäten und fühlen uns als Teil verschiedener sozialer Gruppen. Wenn grundlegende Werte wie das Demokratieverständnis oder die Freiheit bei uns die gleichen sind wie in der ganzen EU, können wir uns gut mit der Nation, in der wir leben, und zugleich mit der größeren gemeinsamen Gruppe „Europa“ identifizieren. Und wenn wir das tun, dann sagt uns das auch, wer wir sind, und wir zweifeln nicht an unseren Überzeugungen und Einstellungen. Wenn wir uns dagegen nur einer einzigen Gruppe oder Wertegemeinschaft zugehörig fühlen, kann das negative Folgen haben, weil wir dann stärker dazu neigen, uns von anderen abzugrenzen. Für die eigene Psyche ist das genauso wichtig wie das Gefühl der Zugehörigkeit. Allerdings führt starke Abgrenzung fast automatisch dazu, dass andere ausgeschlossen, abgelehnt und diskriminiert werden.

Von der nationalen Identität ist seit dem Brexit und dem Aufblühen der Rechtspopulisten wieder viel die Rede. Warum hat die Idee der Nation immer noch eine so große Bindekraft?

Die Idee der Nation bietet besonders denen eine Möglichkeit, sich positiv zu identifizieren, die sich anderen Gruppen nicht zugehörig fühlen wollen oder können und die das Gefühl haben, keine Wahl zu haben. Wer besonders verunsichert ist, neigt eher dazu zu sagen: Ich bin Deutscher, ich bin Franzose. Das ist ja prinzipiell eine gute und hilfreiche Sache, sich mit einer großen Gruppe von Menschen zu identifizieren und schwierige Phasen im Leben nicht allein zu bewältigen. Studien zeigen, dass gerade im politischen Bereich gilt: Wenn ich mich mit einer sozialen Gruppe identifiziere, dann nehme ich das, was mir passiert, weniger als mein individuelles Schicksal wahr, sondern vielmehr als Ungerechtigkeit innerhalb eines politischen Systems. Daraus schließe ich, dass die Gruppe etwas dagegen ausrichten kann. Mit starken Gruppen identifiziert man sich wiederum gerne, denn dann fühlt man sich selbst stärker. Aber wie gesagt, es steigt dadurch auch das Risiko, dass andere abgelehnt werden. 

Offenbar hat sich das Verhältnis der EU-Länder zueinander seit der Aufhebung der Blöcke verändert. Inwiefern?

Die Länder der EU sind in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs zusammengewachsen. Freiheit, Frieden und Demokratie sind die Pfeiler. Aber die Volkswirtschaften haben sich in der Tat seit 1990 unterschiedlich entwickelt. Es gibt mehr wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen den europäischen Regionen. Dabei handelt sich um eine wirkliche Konkurrenz zwischen den Staaten um begrenzte Ressourcen und somit um einen realistischen Gruppenkonflikt. Die Kooperation hat sich verschlechtert. Während der Finanzkrise in Griechenland hat sich zum Beispiel deutlich gezeigt, wie unterschiedlich die Interessen der Länder waren. Diese Konkurrenz und die Interessenkonflikte sind den Menschen wieder mehr bewusstgeworden. Und auch das fördert den Wunsch, sich mit der eigenen Nation stärker zu identifizieren.

Ist die wirtschaftliche Situation also psychisch mächtiger als Freiheit und Demokratie?

Studien zeigen, dass es häufig bereits reicht, sich wirtschaftlich bedroht zu fühlen und nicht reell bedroht zu sein, um nationalistische oder konservative politische Einstellungen zu verstärken. In osteuropäischen Ländern wie Ungarn oder Polen wurden Regierungen gewählt, die Freiheitsrechte eingeschränkt und rechtsstaatliche Elemente abgeschafft haben. Die Menschen wissen in der Regel, wen sie wählen. Das legt nahe, dass in diesen Fällen die Einschränkung der Freiheitsrechte zumindest in Kauf genommen und von manchen positiv gesehen wird. In individualistischen Gesellschaften ist es vielen zwar wichtig, unabhängig denken und handeln zu können. Aber in Zeiten, in denen es ein Gefühl von Bedrohung gibt, neigen auch hier manche wieder mehr zu konservativen Werten, etwa Sicherheit oder Konformität.

Studien zeigen immer wieder, dass höher Gebildete sich stärker mit Europa identifizieren. Warum ist das so?

Bildung führt dazu, dass man Wissen erwirbt und lernt, sich mit Themen, Argumenten und komplexeren Zusammenhängen auseinanderzusetzen, diese von verschiedenen Seiten zu betrachten. Mit einer höheren Bildung geht zudem oft ein höheres Einkommen einher, was es wiederum erleichtert, zu reisen und die Freiheit auszukosten, die die EU bietet. Diese eigenen Erfahrungen sind sehr wichtig. Eine aktuelle Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass die „Generation Erasmus“ das eigene Land stärker hinterfragt als andere Generationen.

Wenn Auslandserfahrungen so wichtig sind für eine größere Ambiguitätstoleranz und für die Identifikation mit Europa, sollte man dann nicht allen Jugendlichen ein Auslandsjahr ermöglichen?

Ich denke, dass generell der Umgang mit Heterogenität weiterentwickelt und geübt werden muss. Nach den Erkenntnissen der Vorurteilsforschung werden Empathie, Wissen und die Reduktion von Angst durch den Kontakt mit Menschen unterschiedlicher sozialer Gruppen gefördert.

Die tribalistische Funktionsweise unseres Gehirns erschwert es ebenfalls, dass wir Uneindeutigkeiten aushalten: Wir halten nur das für richtig, was die von uns bevorzugte Gruppe denkt und sagt. Der Anspruch der EU ist, Vielfalt zu einen. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das sind tatsächlich widerstrebende Ziele. Wenn wir eine bestimmte Haltung einnehmen und uns eine Meinung bilden, neigen wir dazu, nach Informationen zu suchen, die diese unterstützen. An dieser Stelle kommt die Gruppe ins Spiel. Da wir aus den Menschen, mit denen wir unser Leben teilen, auch positiven Selbstwert ziehen, widersprechen wir ihnen ungern. Wenn wir trotzdem anderer Meinung sind, bleibt uns oft nur, diese Meinung im Sinne der anderen zu ändern. Geht es um eine politische Partei, die wir bevorzugen, können wir uns von einzelnen Standpunkten distanzieren.

Die Identifikation mit Parteien und der Politik nimmt in Deutschland seit längerem ab. Es gibt generell nur noch wenig Vorgaben dafür, wie wir unser individuelles Leben gestalten. So muss man sich selbst ein Bild von den Geschehnissen machen, auch von der EU. Man muss mehr nachdenken, sich mehr anstrengen. Was die EU betrifft: In der Wissenschaft wird seit einiger Zeit diskutiert, dass deren Gegner homogener zu sein scheinen, etwa im Hinblick auf die Ablehnung des Euro und der Währungsunion, als ihre Befürworter. Diese verbinden damit Unterschiedliches. Sie finden die EU gut, aber aus verschiedenen Gründen, etwa wegen der Reise- und Zollfreiheit, der gemeinsamen Währung oder wegen gemeinsamer Werte wie Freiheit und demokratische Teilhabe.

Der Soziologe und Philosoph Oskar Negt spricht von Europa als einer politischen Utopie und hebt hervor, es sei wichtig, dass wir „politische Fantasien“ haben. Was ist eine Utopie aus psychologischer Sicht?

Eine Utopie umfasst eine Reihe von Vorstellungen darüber, wie eine Gesellschaft sein und in welche Richtung sie sich entwickeln sollte. Es geht darum, was als wichtig erachtet wird. Möchte ich etwa mehr Hierarchien oder mehr Chancengleichheit, möchte ich das bewahren, was da ist, oder einen Wandel zulassen? Utopien geben Orientierung, sie sind etwas, nach dem man streben kann. Gleichzeitig nehmen sie auch Unsicherheiten, da ich mir mittels Utopien ein Bild davon machen kann, wie mein Leben und das anderer Menschen in der Zukunft sein soll und sein wird. Sie machen das Unbekannte konkreter und erfahrbarer.

Wenn Europa eine Utopie ist – welchen psychologischen Nutzen hat es, daran zu glauben?

Europa ist nicht nur eine Utopie. Viele Menschen wissen zu schätzen, was die EU ihnen gebracht hat, etwa die Möglichkeit, ohne Grenzkontrollen in viele Länder reisen zu können und mit der gleichen Währung bezahlen zu können. Positiv wird auch erlebt, dass die EU auf Kooperation aufgebaut ist, nicht auf Konkurrenz, und dass sie mit dem Ziel gegründet wurde, Frieden zu erhalten. Letzteres ist vor allem den älteren Generationen noch bewusst, so scheint es mir. Dieser Aspekt müsste aus meiner Sicht wieder generell mehr vermittelt werden, es wird als zu selbstverständlich genommen.

Könnten die Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten wie in Ungarn, Frankreich oder Großbritannien unsere europäische Identität längerfristig doch beschädigen?

Das ist offen. Einige Wahlergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass unter Umständen Werte wie Freiheit und Demokratie hintangestellt werden. Und die politischen Konflikte machen es manchen vielleicht schwerer, sich mit der europäischen Idee und den Werten zu identifizieren. Aber womöglich wenden sich gerade wegen dieser Risiken wieder mehr Menschen Europa zu. Und dies kann auch der Fall sein, wenn es Druck von außen gibt. Seit die politischen Konflikte zwischen den USA und Russland zunehmen, steht die EU wieder stärker zwischen diesen Mächten, und auch das kann die Menschen innerhalb der EU emotional stärker zusammenschweißen.

Constanze Beierlein ist Psychologin und Politikwissenschaftlerin. Als Professorin an der Hochschule Hamm-Lippstadt lehrt sie kulturvergleichende Sozialpsychologie und Diagnostik und forscht unter anderem über Autoritarismus und politische Partizipation

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Hans-Böckler-Stiftung, www.boeckler.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2019: Vom Glück, Verantwortung zu teilen