Neuerdings gehe ich einmal pro Woche mittags mit meinem Nachbarn Herrn Pohl spazieren. Herr Pohl muss raus, weil sein steinalter Zwergpinschermischling Elise raus muss. Ich muss raus, weil mein mittelalter unterer Rücken vehement um Unterbrechung der sitzenden Tätigkeit bittet.
Herr Pohl ist ein stiller und sehr höflicher Mensch, und meistens ist er guter Dinge. Heute aber ist er ungehalten. „Sie müssen entschuldigen“, sagt er, „ich bin heute etwas unwirsch.“
„Nussecke?“, frage ich, denn das ist Herrn Pohls…
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„ich bin heute etwas unwirsch.“
„Nussecke?“, frage ich, denn das ist Herrn Pohls Lieblingsgebäck.
Die Schlange in der Bäckerei ist lang. An der Theke steht eine kleine alte Dame mit vielen Tüten, die längst dran wäre, von der Verkäuferin aber ständig übersehen wird, und immer, wenn die alte Dame gerade Luft holen will, um ihre Bestellung aufzusagen, drängelt sich ein anderer vor. „Entschuldigung“, rufe ich der Verkäuferin zu, „ich glaube, die Dame dort ist jetzt dran.“ Die Dame schaut mich an, als hätte ich sie aus einem tiefen Sumpf gezogen. „Zwei Mohnbrötchen, bitte“, sagt sie.
Der inneren Stimme lauschen?
Herr Pohl und ich gehen mit Nussecken weiter, und dann, im Park, kommt heraus, warum Herr Pohl so ungehalten ist. Es ist wegen etwas im Radio. Heute früh, berichtet Herr Pohl, erzählte eine Frau im Radio, dass sie vor Jahrzehnten mal eine Flugreise unternehmen wollte – und als sie schon auf der Treppe ins Flugzeug war, habe ihre innere Stimme ihr gesagt, dass sie um Himmels willen nicht in dieses Flugzeug steigen solle. Die Frau sei ihrer inneren Stimme gefolgt und habe auf dem Absatz kehrtgemacht – und dann sei die Maschine auf ihrem Flug abgestürzt. Seither, scheint es Herrn Pohl, spricht die Frau von nichts anderem mehr als von ihrer gehaltvollen inneren Stimme.
„Was sagt man dazu?“, fragt Herr Pohl. Er fragt das nicht ausdrücklich mich, sondern eher in die Luft. Weil die nicht antwortet, sage ich reflexhaft: „Ist doch toll“, ich sage es zähneknirschend, weil ich immer etwas neidisch auf Leute mit glasklaren inneren Stimmen bin, genauso übrigens auf Leute, die Sportstudios nicht nur zur Schnupperstunde aufsuchen und deswegen keine maulenden, sondern bestens gelaunte untere Rücken haben.
„Ich finde diese Frau respektlos“, sagt Herr Pohl, „Und arrogant ist sie obendrein. Diese Geschichte von der rettenden inneren Stimme nämlich macht aus allen Passagieren, die in die Maschine gestiegen sind, mangelhafte Tropfe, die außerstande waren, ihrer inneren Stimme zu lauschen.“ Da hat Herr Pohl natürlich recht.
„Ein wortloses Dings, das ein Gefühl hochtreibt
Wir schauen Elise zu, die zu überlegen scheint, ob sie einem jungen Setter nachsetzen soll. Es bleibt offen, was sie schließlich davon abhält, ihre innere Stimme oder ihre steife Hüfte.
„Darf ich Sie mal was fragen“, sage ich, „haben Sie eigentlich auch diese innere Stimme? Die eine, wahre, gute?“
„Nein“, sagt Herr Pohl, und er schaut dabei nicht wie ein mangelhafter Tropf, „und ich weiß auch nicht genau, was das eigentlich sein soll: die eine, wahre, gute innere Stimme.“
Ich stelle mir die innere Stimme ungefähr so vor wie die Dame in der Bäckerei, als eine Stimme also, die eigentlich längst dran wäre, die immer wieder anhebt, etwas zu sagen, und dann von stattlicheren Stimmen übertönt wird.
„Was soll denn das sein, diese innere Stimme?“, wiederholt Herr Pohl, und ich sage: „Ich weiß es nicht.“
„Ist es wirklich eine Stimme? Ich meine: redet die wirklich zu einem? Muss man nicht zum Psychiater, wenn man Stimmen hört? Ist die innere Stimme nicht vielmehr ein wortloses Dings, das ein Gefühl hochtreibt?“
Auch in Elise wird gerade ein Gefühl hochgetrieben, Panik nämlich, denn sie befindet sich irgendwo unter einem bärenhaften Bernhardiner.
„Ich weiß es nicht“, sage ich. Herr Pohl seufzt und sagt: „Ich dachte, Ihre Eltern sind Psychologen“, und jetzt kann ich endlich das Sprichwort zum Besten geben, das letztens die Tochter eines Orthopäden sagte, als ich ihr meinen unteren Rücken schildern wollte, nämlich: „Die Kinder des Schusters laufen barfuß.“ Herr Pohl lächelt und zieht Elise unter dem Bernhardiner hervor.
„Und wie kommt man an diese angeblich echte innere Stimme überhaupt heran?“, fragt Herr Pohl, und weil ich nicht schon wieder sagen will, dass ich es nicht weiß, sage ich: „Zehn Jahre Meditation, nehme ich an.“
Das Adeln von Ängsten
„Es ist so“, sagt Herr Pohl, „ich habe nicht nur eine, sondern eine Herde innerer Stimmen, und sie behaupten alle, die innere Stimme zu sein und genau zu wissen, was gut und wahr und richtig ist.“ Das kenne ich. Herr Pohl bleibt stehen. „Glauben Sie, ich muss mit den ganzen Stimmen auch zum Psychiater?“, fragt er, und ich sage: „Wenn, dann muss ich mit. Sie haben da übrigens etwas Nussecke im Mundwinkel.“
Herr Pohl wischt sich mit seinem riesigen Stofftaschentuch über den Mund. „Vielleicht ist die innere Stimme ja die, die zu allen anderen sagt: Jetzt reicht’s aber auch mal“, sage ich und stelle mir vor, wie die unglückliche Dame, die gleichzeitig beim Bäcker und knietief in einem Sumpf steht, ein Megafon aus einer ihrer Tüten zieht und den ganzen Verkaufsraum mit „Jetzt aber sofort zwei Mohnbrötchen, bitte“ beschallt, und alle quasselnden Vordrängler fahren erschrocken herum und sind endlich, endlich still.
„Die Frau, die nicht in das verunglückte Flugzeug gestiegen ist“, sagt Herr Pohl und nimmt Elise auf den Arm, die genug hat von stattlichen drängelnden Artgenossen, „die hatte einfach Flugangst. Und die Angst, dieses blinde Huhn, hatte ein einziges Mal im Leben recht. Und deshalb wird sie jetzt als weise innere Stimme geadelt.“
„Da haben Sie vollkommen recht“, sage ich, und Herr Pohl sagt: „Jetzt reicht’s aber auch mal“, und ich denke, dass er damit das Adeln von Ängsten meint, aber er meint das Spazierengehen. Also drehen wir alle um, Herr Pohl mit seiner Verstimmung und mit Elise, ich mit meinem maroden Rücken, diesem wortlosen Dings.
Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker