Im Fokus: Die Angst der Soldaten

Im Ersten Weltkrieg beschäftigten sich Politiker und Militärs mit der Angst der Soldaten. Warum, erklärt der Historiker Jörn Leonhard im Interview.

Die schwarz-weiß-Fotografie zeigt Soldaten im Ersten Weltkrieg im Schützengraben bei Sedan
© akg-images

Herr Leonhard, warum wurde Angst im Ersten Weltkrieg ein wichtiges Thema?

Zunächst besitzen wir aus dem Weltkrieg viel mehr Selbstzeugnisse von Soldaten als etwa aus den Kriegen des 19. Jahrhunderts, was auch mit den höheren Alphabetisierungsraten zusammenhängt. Zudem bekam das Thema Angst durch die Entwicklung der Psychoanalyse einen neuartigen Stellenwert. Offiziere, aber auch Militärärzte und Politiker fragten sich, wie Soldaten die enorme Belastung an der Front über lange Zeit aushalten und damit…

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Politiker fragten sich, wie Soldaten die enorme Belastung an der Front über lange Zeit aushalten und damit Frontverläufe stabilisieren konnten. Das war nicht länger nur eine Frage von Waffensystemen, Munition und Rohstoffen. Vielmehr wurden Emotionen zum ersten Mal explizit als kriegswichtiger Faktor wahrgenommen.

Zwei zeitgenössische Schlüsselbegriffe traten in diesem Zusammenhang hervor: zum einen die „starken Nerven“. Der Krieg, so die Überzeugung vieler Stabsoffiziere und militärischer Ausbilder, werde am Ende nicht durch überlegene Waffen, sondern durch Nervenstärke und Nervenstabilität entschieden. Der zweite damit zusammenhängende Begriff, den wir in praktisch allen Militärkulturen vor 1914 finden, ist der Begriff des menschlichen Willens. Auch hier dominierte die Auffassung, dass nicht die technologische Überlegenheit, sondern der unbedingte Wille zum Sieg am Ende entscheide.

Im Ersten Weltkrieg gab es viel weniger Nahkämpfe als in früheren Kriegen. Hatten die Soldaten vor dem Nahkampf mehr Angst?

Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass die Soldaten weniger Angst vor dem direkten Gegner hatten, sondern vor der Anonymität des Kampfgeschehens und der permanenten Bedrohung. Das Geschoss, das zehn Kilometer vor der Front abgeschossen wurde, konnte jederzeit einschlagen. Demgegenüber erschien der sichtbare Gegner als jemand, den man konkret bekämpfen konnte. Gegenüber dem Beschuss durch schwere Artillerie fühlten sich sehr viele Soldaten machtlos.

Es ist die Angst, in einer kontingenten, also einer vom Zufall bestimmten Situation passiv ausharren zu müssen. Das zeigt sich auch daran, dass viele weniger den konkreten Einsatz fürchteten als das lange Warten darauf. Um diese Ängste zu ver­stehen, muss man berücksichtigen, dass im Ersten Weltkrieg die Artilleriegeschosse etwa 70 bis 75 Prozent aller Verletzungen ausmachten. Dagegen waren Nahkampfwaffen zu vernachlässigen. Selbst die ikonische Waffe des Weltkriegs, das Maschinengewehr, hatte einen deutlich geringeren Anteil an den Verletzungen.

Waren die Soldaten auf den starken Artilleriebeschuss vorbereitet?

Alle Beteiligten erwarteten im Sommer 1914 einen intensiven, aber kurzen Krieg. Natürlich wusste man aus den Manövern vor 1914, was moderne Artilleriewaffen anrichten konnten. Aber der Stellungskrieg und die Verdichtung von Gewalt auf begrenztem Raum verbanden sich zu einer neuen Qualität. Daraus entstanden auch neuartige Phänomene wie das sogenannte „Kriegszittern“, das auf das unkontrollierte Zittern der Körper betroffener Soldaten hinwies, oder im Englischen der shell shock, der Granatschock. Das Phänomen zeigte sich vermehrt an der europäischen Westfront, wo der Bewegungskrieg seit Ende 1914 in einen Stellungskrieg übergegangen war.

Wie äußerte sich das Kriegszittern?

Es umfasst jedenfalls sehr viel mehr Symptome, als es der Begriff nahelegt. Insofern ist „Kriegszitterer“ auch ein etwas unpräziser Begriff, weil nur ein Symptom herausgegriffen wird. Manche Soldaten konnten nicht mehr sprechen beziehungsweise sich artikulieren. Häufig kam es zu Bettnässen, völligem Verstummen, Schlafstörungen, manchmal auch zu Erbrechen oder Reizdarmsymptomen. Bekannt sind die Kriegszitterer geworden, weil es zeitgenössische Filmaufnahmen von ihnen gibt und diese zum Teil auch unter Militärärzten vorgeführt wurden.

Die Mediziner kannten solche Phänomene bislang nicht in solcher Zahl und Variationsbreite. Was sie verunsicherte, waren physische und psychische Krankheitsbilder, für die es keine eindeutigen physiologischen Gründe zu geben schien. Daraus entstand der Verdacht, dass die Soldaten nur simulierten, physisch gesund seien und auf Rückkehr in die Heimat oder eine Invalidenrente spekulierten. Es dauerte, bis sich unter den Ärzten die Auffassung durchsetzte, dass das neue Krankheitsbild keine physiologischen, sondern im weitesten Sinne psychologische Ursachen hatte.

Gab es Behandlungen?

Es gab verschiedene Therapieformen, zum Teil mit entsetzlichen Folgen – wenn zum Beispiel mit Elektroschocks gearbeitet wurde. In Großbritannien setzten einige psychoanalytisch geschulte Experten auf eine Art von Gesprächstherapie oder auf Traumdeutungen. Das massenhafte Auftreten der Symptome verschwand auch nicht mit dem Ende des Krieges im November 1918. Viele ehemalige Soldaten litten später in der Nachkriegsgesellschaft unter dem Druck, immer wieder beweisen zu müssen, dass sie keine Rentensimulanten waren. Aus vielen Tagebüchern und Briefen wissen wir, wie diese Belastungen über den Krieg hinaus andauerten und auch in die Familien getragen wurden.

Wie lange mussten die Soldaten durchschnittlich in den Gefechtsständen ausharren?

Das war sehr unterschiedlich. In deutschen Verbänden an der Westfront tendenziell länger, in den französischen Einheiten eher kürzer. Auf dem Höhepunkt der Schlacht von Verdun – die von Februar 1916 bis Dezember 1916 währte – wurden französische Soldaten durch ein neuartiges Rotationssystem alle zwei bis drei Wochen abgelöst. Diese Momente der Ablösung erwiesen sich immer wieder als besonders sensibel, weil Soldaten sich auf die ihnen zugesagten Rhythmen verließen.

Das Gleiche galt für die Ankündigung von Heimaturlaub. Wann immer es hier zu Störungen kam und Soldaten länger aushalten mussten, traten mit höherer Wahrscheinlichkeit auch Widerstand und Proteste auf. Dazu kam noch die Angst davor, dass man kurz vor dem Ende eines Einsatzes „umsonst“ sterben könnte, weil man zum falschen Zeitpunkt an der falschen Stelle war.

Hatten die Soldaten Angst vor schweren Verwundungen und Tod?

Es gab sicher eine besondere Angst vor neuartigen und massenhaft auftretenden Verletzungen, Gesichtsverletzungen etwa, Erblindung durch den Einsatz von Gas oder Invalidität und damit dem Verlust der Rolle als Ernährer der Familie. In dem Maße, in dem die Todeszahlen nach der Frühphase des Krieges im Stellungskrieg durch Schützengräben und Unterstände zurückgingen, traten solche Ängste deutlicher hervor. Es existierten anfangs keine Schützengräben, weil die Kommandeure glaubten, dass Schützengräben den Siegeswillen beeinträchtigen und einen Vorschub für Feigheit bilden könnten.

Das ist unglaublich zynisch.

Es kennzeichnete jedenfalls den Kult vieler Kommandeure und Ausbilder um das Bild des männlich-heroischen Kampfes. Nach dem Bau von Schützengräben gingen die Todeszahlen deutlich zurück, weil professionelle Unterstände einen wirksamen Schutz boten. Hinzu kam, dass sich die medizinische Behandlung sehr verbesserte und man als Soldat ab 1915 mit relativer Wahrschein­lichkeit auch einen Bauchschuss oder eine Amputation überleben konnte, während das zu Anfang des Krieges praktisch ein Todesurteil war.

Eine andere Belastung ergab sich aus der Tatsache, dass es im Gegensatz zu früheren Kriegen nun viele Tote gab, die aufgrund der Gewalteinwirkung überhaupt nicht mehr identifiziert werden konnten. Daran knüpfte sich die Angst, dass die eigene Familie keinen Beweis dafür hatte, dass der vermisste Angehörige gefallen, verletzt oder in Gefangenschaft geraten war.

In Ihrem Buch Die Büchse der Pandora erwähnen Sie eine Dissertation des Psychologen Walter Ludwig aus dem Jahr 1919, in der er Angst unter Soldaten untersuchte. Wovor fürchteten sich die Soldaten besonders?

Sie fürchteten, wie bereits angedeutet, weniger den direkten Kampfeinsatz als das zermürbende Warten, die Macht des Zufalls und die eigene Machtlosigkeit. Diese Mischung aus Kontingenz und Passivität war für die Soldaten extrem belastend.

Was half den Soldaten, mit den Ängsten umzugehen?

Das ist eine spannende Frage und spielt in der Dissertation auch eine große Rolle, denn Ludwig befragte die Soldaten dazu. Sie sollten Erscheinungen nennen, die der Furcht entgegenwirkten. Drei Aspekte wurden mit Abstand am häufigsten genannt: Religion, Heimat und Kameradschaft. Begriffe wie Patriotismus oder Disziplin wurden demgegenüber viel seltener genannt.

Mit Heimat waren die Familie und das eigene Dorf gemeint?

Heimat bezeichnete weniger das Vaterland, sondern die konkrete Lebenswelt, aus der man stammte, die Familie, das Dorf, das berufliche Umfeld, die Region. Heimat bedeutete zugleich eine Form der emotionalen Selbststabilisierung, denn viele Soldaten hielten daran fest, dass man, egal wie schrecklich der Krieg auch war, nach seinem Ende wieder in die alte Lebenswelt zurückkehren könne. In der historischen Forschung wird dies mit dem französischen Begriff nostalgie umschrieben.

Bei der Rückkehr der Soldaten nach dem November 1918 spielte dieses Moment eine enorme Rolle, weil viele Rückkehrer feststellten, dass die Welt eine andere geworden war als die, die sie im Sommer 1914 verlassen hatten. Das führte immer wieder zu großen Anpassungsproblemen. Neben der Heimat spielte Religion eine enorme Rolle, selbst in Staaten wie Frankreich, wo die laizistische Republik sich eigentlich von der Kirche distanziert hatte.

Aber viele französische Soldaten reagierten empfindlich, wenn sie an der Front nicht regelmäßig an der Kommunion teilnehmen konnten. Der dritte immer wieder genannte Aspekt war Kameradschaft: nicht die große militärische Einheit, sondern die kleine Gruppe von fünf bis zehn Personen, die zusammen eine Überlebensgemeinschaft bildeten, in der sich jeder auf jeden verlassen konnte.

Weiß man, warum Walter Ludwig die Dissertation geschrieben hat?

Da kann ich nur mutmaßen. Aber viele psychologische Experten betrachteten den Krieg durchaus als Chance für empirische Feldstudien, die sonst so kaum möglich gewesen wären. So erfuhr der Weltkrieg früh eine intensive wissenschaftliche Begleitung. Das galt für alle Disziplinen, deren Vertreter die Kriegsrelevanz herausstellen wollten, und betraf zum Beispiel die Chemie, die Physik, die Volkswirtschaftslehre, aber auch die Historiker. In ganz besonderer Weise galt das für medizinische Fächer.

In diesem Bereich nahm die Zahl der Dissertationen mit kriegsrelevanten Bezügen stark zu. Viele der Projekte wurden auch staatlich unterstützt, man konnte als Wissenschaftler eventuell dafür abgestellt und finanziell gefördert werden. Es war gerade für junge Ärzte eine Möglichkeit, die eigene Karriere voranzubringen. Viele Lehrstühle unterstützten solche Arbeiten und betonten, dass es sich um eine Art patriotischen Dienst handele.

Wie beurteilen Sie die Arbeit Walter Ludwigs?

Man muss sie quellenkritisch lesen. Lud­wig ließ die erkrankten Soldaten Aufsätze schreiben, aber viele Patienten antizipierten in ihren Antworten sicher auch das, wovon sie glaubten, dass die Behörden es hören wollten. Es gab also vermutlich eine Art von innerer Zensur, weil sie keine Schwierigkeiten bekommen wollten. Trotzdem ist die Arbeit sehr interessant, weil sie uns einen Eindruck davon vermittelt, wie wichtig das Thema Angst im Weltkrieg wurde. Die Äußerungen weisen auch einen eigenen Quellenwert auf, weil sie an manchen Stellen die Erwartungen unterlaufen, die es vonseiten der Behörden wahrscheinlich gegeben hat.

Warum gab es so wenige Desertionen, warum endete der Krieg nicht früher?

Viele Soldaten verwiesen noch in der Endphase des Krieges darauf, dass man die Kameraden nicht im Stich lassen dürfe, denn die Desertion war für sie ein Verrat am Prinzip der Überlebensgemeinschaft. Noch ein zweites Motiv erklärt, warum der Krieg trotz der enormen Verluste so lange fortgesetzt wurde: Viele Männer wollten den konkret erfahrenen Krieg von der eigenen Heimat fernhalten.

Gerade angesichts der Gewalterfahrung schien es umso wichtiger, dafür zu sorgen, dass die eigenen Kinder, die eigene Familie nicht das erleben mussten, was man selbst täglich erfuhr. Selbst als vielen deutschen Soldaten im Laufe des Jahres 1918 bewusstwurde, dass man den Krieg nicht mehr gewinnen würde, blieb das Leitmotiv dominant, die Gewalt so lange wie möglich von der Lebenswelt der eigenen Familie und Heimat fernzuhalten.

Jörn Leonhard ist Professor für neuere und neueste Geschichte an der ­Universität Freiburg. 2014 ­erschien sein Werk Die Büchse der Pandora. ­Geschichte des Ersten ­Weltkriegs (C.H. Beck).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2022: Frauen und ihre Mütter