Herr Deininger, Sie sind so etwas wie der führende deutsche Therapeut für katholische und evangelische Geistliche. Wie sind Sie in diese Rolle geraten?
Ich habe zusätzlich zur Medizin Theologie studiert. Dadurch habe ich immer schon eine engere Verbindung zu all den Menschen gehabt, die sich mit Glauben, Spiritualität und Religion beschäftigen. Seit über 30 Jahren bin ich auch Vertrauensarzt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Gutachter für katholische Gerichte.
Weder Ingenieurinnen noch…
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Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Gutachter für katholische Gerichte.
Weder Ingenieurinnen noch Juristen gehen bevorzugt zu einem auf ihre Berufsgruppe spezialisierten Therapeuten. Warum tun es die Geistlichen?
Viele haben das Gefühl: Wenn ich zu jemandem gehe, der auch theologisch kompetent ist und sich mit Glaubensfragen beschäftigt, versteht er mich vielleicht besser.
Braucht es da besonderes Verständnis?
Gerade katholische Priester sind in einer speziellen Situation, weil sie allein leben und von allen nur als „Geistliche“ gesehen werden. Evangelische Pfarrer und Pfarrerinnen haben oft eine Familie, stehen aber ebenso unter starker Beobachtung. Schon ihre Kinder hören in der Schule: „Du bist das Kind vom Pfarrer, du darfst doch nicht lügen.“ Auch die Geistlichen selbst werden äußerst kritisch gesehen. Diesem Druck ist kaum standzuhalten.
Sie haben viele Geistliche psychotherapeutisch behandelt. Haben diese vielleicht zu hohe Erwartungen an sich selbst?
Im Katholizismus muss der Gläubige, wenn er zu Gott will, den Weg über den Priester nehmen. Dieses Gefühl – „Ich bin Gott näher als die anderen“ – setzt den Einzelnen natürlich extrem unter Druck. Denn er merkt, dass er diesen moralischen Ansprüchen, die er auch selbst an sich hat, nicht gerecht wird, zum Beispiel wenn es um die Sexualität geht oder um die eigene Aggressivität.
Was passiert, wenn Geistliche an den eigenen Ansprüchen und denen anderer scheitern?
Am häufigsten entwickeln sie Depressionen mit allen Begleiterscheinungen wie Antriebsmangel, Schlafstörungen und körperlichen Symptomen. Um die Depressionen zu unterdrücken, greifen sie oft zu Suchtmitteln. Es gibt viele Alkoholiker und Tablettenabhängige im theologischen Berufsfeld.
Welche Probleme sehen Sie außerdem häufig?
Oft geht es um Aggressionen, die nicht ausgelebt werden können. Man brüllt seine Sekretärin eben nicht an, sondern schluckt den Ärger runter. In der Schule muss die Religionslehrerin ertragen, dass die Pubertierenden die Füße auf den Tisch legen. Die unterdrückten Aggressionen führen oft zu zwanghaftem Verhalten.
Ich habe schon viele Pfarrer behandelt, die unter schwersten Zwängen gelitten haben. Also etwa dem Zwang, wieder und wieder kontrollieren zu müssen, ob sie den Herd auch wirklich ausgemacht haben. Andere müssen vermeintlich bestimmte Rituale absolvieren, um Unheil abzuwenden. Einer konnte erst schlafen gehen, wenn er mehrmals unter das Bett geschaut hatte, ob dort Staub oder etwas anderes lag.
Dass Seelsorge, die Konfrontation mit Krisen, Krankheit und Tod oft psychisch stark belastet, ist klar. Deshalb sollten eigentlich nur psychisch stabile, fest verwurzelte Menschen diesen Beruf ergreifen, oder?
Das Gefühl der Berufung halte ich für eine Mär. Das mag vielleicht vor 50 Jahren noch so gewesen sein, das wird es auch noch heute im Einzelfall geben. Aber gerade bei denen, die katholische Priester werden wollen oder ins Kloster gehen, kristallisiert sich zunehmend heraus, dass sie schon im Kindergarten und in der Schulzeit Außenseiter waren: „Mit dem Franz kann man nicht saufen gehen, der hockt dauernd da und betet, und mit Frauen läuft schon gar nichts.“
Ich habe von 40-, 50-Jährigen oft gehört, dass sie sich immer schon als anders erlebt haben. Als Ausgeschlossene, als Menschen, mit denen man nichts zu tun haben wollte.In Therapien sehen Sie aber auch nur die Pfarrerinnen, Pfarrer und Priester, die Probleme haben.
Sind die repräsentativ?
Befreundete Theologieprofessorinnen und -professoren bestätigen meine Beobachtung. Sie sagen, dass in den Seminaren und Vorlesungen nach ihrem Eindruck sehr skurrile Menschen versammelt sind. Diese Aussage hat aber keinen wissenschaftlichen Anspruch.
Warum ergreifen gerade Außenseiter diesen Beruf?
Das Amt scheint gut geeignet, ihr geringes Selbstwertgefühl zu kompensieren. Geistliche haben eine sehr wichtige Rolle in den Gemeinden. Vor allem in der katholischen Kirche bestimmt nur der Priester, wo es langgeht, in der evangelischen gibt es noch den Kirchenvorstand, der mal was entgegnen kann. Der Priester ist etwas Besonderes, nicht mehr der kleine Franz, mit dem keiner spielen will. Solche Menschen tanken ihren Selbstwert in hohem Maße aus ihrem Beruf.
Wo ist das Problem, wenn es ihnen damit besser geht?
Es ist ein künstliches Geschehen. Dies Selbstwertgefühl ist kein gewachsenes, keines, das sich auf die Menschen selbst bezieht, sondern immer auf die Rolle, immer auf das Amt. Ohne dies bleiben die Personen Außenseiter, wie sie es auch früher in der Grundschule oder auf dem Gymnasium waren.Katholische Priester zahlen für ihr Amt einen hohen Preis: Ihnen sind Beziehungen zu Frauen verboten, insbesondere natürlich sexuelle.
Können sich junge angehende Priester tatsächlich bewusst zum Verzicht entschließen – für den Rest ihres Lebens?
Das ist so wie bei jedem anderen Menschen auch: Man kann sich vieles vornehmen, aber das Vornehmen und das Umsetzen sind zwei verschiedene Dinge, gerade wenn es um essenziell im Menschen angelegte Grundbedürfnisse wie Sexualität geht. Natürlich gibt es eine kleine Gruppe von Menschen, die keinerlei sexuelle Bedürfnisse haben.
Aber ich schätze, dass 95 Prozent aller Menschen sie haben und mit ihnen umgehen lernen müssen. Manche Männer und Frauen entscheiden sich, monogam zu leben. Das heißt, mit 19 sagt man zu einer Roswitha: „Dich heirate ich und dann bleibe ich bis 90 mit dir zusammen.“ Aber das entspricht nicht der menschlichen Psyche, die eher polygam angelegt ist.
Und wie geht es dem Priester, dem ja nicht einmal diese eine Partnerin oder dieser eine Partner erlaubt ist?
Es ist kaum möglich, die Sexualität völlig aus dem eigenen Erleben auszuklammern. Die fehlende Erotik mit Kunst, Sport oder Ähnlichem zu kompensieren klappt vielleicht ein Stück weit, aber nie ganz. Menschen, die mit 20 sagen: „Ich lebe jetzt ohne Sexualität“, machen sich wieder zum Außenseiter, zu einem Märtyrer.
Sie haben aber immerhin einen narzisstischen Gewinn, also: „Ich bin der, der ohne Sexualität lebt. Alle anderen können das nicht.“ Wenn die Außenwelt dann sagt: „Das ist ja ganz toll, wie du das schaffst“, dann hilft das schon. Aber eben auch nur in einem begrenzten Maße.
Was sind die Konsequenzen?
Ungelebte, verdrängte Sexualität kann sich in Aggressionen verwandeln, etwa gegen Schwächere. Kein Wunder, dass in kanadischen katholischen Missionsschulen für indigene Kinder viele misshandelt wurden und über tausend an Krankheiten, Unfällen oder aber auf der Flucht gestorben sind.
Welche anderen Folgen kann es haben, wenn Priester ihre sexuellen Bedürfnisse unterdrücken?
Oft werden zur Kompensation Suchtmittel wie Alkohol eingesetzt. Andere wiederum essen so viel, dass sie immer dicker werden, das kann schon krankhaft sein. Wenn Sie die Bischöfe im Fernsehen sehen, dann haben Sie das Gefühl, dass sie deutlich zu viel verzehren, sehr viele jedenfalls.Priestern bleibt die Möglichkeit, gegen den Zölibat zu verstoßen und doch eine sexuelle Beziehung einzugehen.
Ich habe tatsächlich oft die Erfahrung gemacht, wenn Menschen sagen: „Das ist ein guter Pfarrer, mit dem kann man wirklich toll reden, der hält tolle Predigten, in der Jugendarbeit ist er sehr beliebt“, dann handelt es sich eigentlich immer um Pfarrer, die in Beziehungen leben.
Für Heterosexuelle sind die Lehren der katholischen Kirche ja schon schwierig, für Homosexuelle aber noch mehr. Eigentlich müssten sie das Priesteramt doch meiden?
Und doch hat sich erst vor wenigen Jahren bei einer anonymen Befragung gezeigt: Etwa 85 Prozent aller katholischen Priesteramtskandidaten sind homosexuell. Das ist durchaus verständlich. Wenn ein homosexueller Junge von seinem Vater gesagt bekommt: „Das Schlimmste für mich wäre, wenn du schwul bist“, verurteilt dieser sich möglicherweise selbst und ergreift einen Beruf, in dem er sich eine hohe soziale Anerkennung erhofft. Außerdem hat er im Priesterseminar gute Chancen, einen Partner zu finden, wenn da 85 Prozent homosexuell sind.
Für Schlagzeilen gesorgt haben in den letzten Jahren viele Fälle, in denen vor allem katholische Geistliche sich an Ministranten oder anderen ihnen anvertrauten Kindern vergangen haben. Wie können Sie ihnen in der Therapie helfen?
Es kommt darauf an. Bei manchen ist eine Anlage verantwortlich, die sich früh herausgebildet hat. Sie sind pädophil, und das ist nicht behandelbar. Die Betroffenen können nur lernen, sich von Kindern und Jugendlichen fernzuhalten.Und die anderen? Das sind jene Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl. Sie erleben sich als innerlich klein und mickrig, trauen sich eine Beziehung zu einem Erwachsenen nicht zu, weil sie denken, dass sie so unattraktiv sind, dass kein erwachsener Mensch mit ihnen in Kontakt treten will.
Diese Personen regredieren dann: Obwohl sie in dem äußeren Gewand eines 30-Jährigen sind, sind sie innerlich auf der Stufe eines 13- oder 14-Jährigen. Deshalb nehmen sie mit Jugendlichen, vielleicht sogar mit Kindern sexuellen Kontakt auf – weil sie sich innerlich als Kinder fühlen. Das wiederum kann man behandeln, weil dahinter ein neurotisches Problem steht, eine schwere Selbstwertstörung.
Spendet bei Problemen Geistlichen nicht wenigstens der Glaube Trost und gibt Kraft?
Oft ist das so. Aber es gibt viele Pfarrer, die ich kenne oder untersucht habe, katholische wie evangelische, die glauben gar nichts mehr. Ich denke, je mehr man sich mit Religion beschäftigt, auch wissenschaftlich, desto stärkere Zweifel gibt es. Gerade in den theologischen Berufsgruppen ist der Zweifel, ob das denn sinnvoll ist, was sie machen, viel größer als bei einem „normalen Gläubigen“, der am Sonntag in seine Kirche geht. Trotzdem bleiben die Männer und Frauen in ihrem Job, weil sie Geld verdienen müssen, und praktizieren die kirchlichen Rituale.
Könnten sie sich nicht beruflich neu orientieren?
Je länger die Geistlichen in ihrem Beruf sind, desto weniger Perspektiven gibt es. Die evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer gehen oft in Nebenfelder, indem sie Spezialpfarrämter anstreben in Verwaltungseinheiten oder Diakoniewerken, in denen sie nicht ständig mit der Gemeinde in Kontakt sind.
Und die katholischen Theologen?
Da ist es noch schwieriger. Wenn jemand kein Priester mehr sein will, bekommt er keine Anstellung mehr. Ich habe in meiner weitläufigen Verwandtschaft einen Priester, der sich in eine Nichte von mir verliebt hat und sie geheiratet hat. Er wollte statt des Priesteramtes als Religionslehrer arbeiten. Das ist ihm nicht ermöglicht worden. Er musste ganz von vorne anfangen und ist jetzt Altenpfleger. Das geschieht öfter. Viele, die schon länger im Beruf sind und keine Perspektiven entwickeln können, bleiben deshalb dabei und machen Dienst nach Vorschrift.
Was müsste sich ändern, damit nur Menschen Geistliche werden, die sich für den Beruf eignen?
Schon im Studium müssten alle angehenden Theologinnen und Theologen eine therapeutisch angeleitete Selbsterfahrung durchlaufen. Das heißt, sie sollten nicht nur Griechisch, Latein, Kirchengeschichte und dergleichen lernen, sondern es wäre wichtig zu sehen: Was für eine Persönlichkeit haben die Studierenden, welchen Reifegrad? Wie gehen sie mit Aggressivität um und – gerade in der katholischen Kirche – wie mit ihrer Sexualität? Das findet aber überhaupt nicht statt. Das ist ein rein theoretisches Studium. Was ist denn, wenn sie im Krankenhaus stehen und sich um einen jungen Patienten mit Krebs kümmern sollen oder um Menschen, die versucht haben, sich umzubringen? Das fragt niemand.
Bernd Deininger ist Psychiater, Psychoanalytiker und Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus Martha-Maria in Nürnberg sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Abtei Münsterschwarzach, in der Priester und Ordensleute therapeutisch behandelt werden