In der Schlange eines Drive-in-Schnellrestaurants im kanadischen Manitoba wartete vor ein paar Jahren ein netter Mensch auf sein Essen: Er bezahlte, als er an die Reihe kam, auch gleich die Rechnung des hinter ihm Wartenden. Das freute den Beschenkten so sehr, dass er es machte wie sein Vorgänger und seinerseits die Rechnung für den Nächsten hinter ihm beglich. Die Kette liebenswürdiger Handlungen wuchs auf 226 Leute an.
Freundlichkeit, Güte oder Liebenswürdigkeit können anstecken wie eine Viruserkrankung,…
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wie eine Viruserkrankung, nur dass es sich um eine erwünschte, angenehme Infektion handelt. Das sei „wissenschaftlich verbrieft“, versichert der britische Psychologe Lee Rowland von der Non-Profit-Organisation Kindness.org, der an der Universität Oxford forschte.
Rowland beschäftigt sich seit Jahren mit diesem für ihn existenziellen Thema. Etliche Studien „belegen inzwischen den wahrscheinlichen Nutzen der Freundlichkeit für alle“, so der Forscher. Von Nettigkeit profitieren also auch diejenigen, die nett sind: Akte der Freundlichkeit geben Seele und Körper der „Spender“ einen kleinen Kick, sie machen glücklich und geben Kraft – nicht viel, aber doch in einem Maße, dass es gerade in unruhigen Zeiten einen entscheidenden Unterschied macht.
Freundlichkeit im Basisrepertoire
Man kann zu jedem nett sein: zum Partner, zu Mutter, Vater und Geschwistern, zu Freunden, zu Kollegen. Und zu wildfremden Menschen. Tatsächlich mag es manchmal sogar leichter sein, einen Unbekannten mit Freundlichkeit zu beschenken als nahestehende Menschen. Grundsätzlich aber kann jede zugewandte Handlung gewertet werden als Tat des Trotzes gegen eine Welt, die zunehmend emotional kälter und hasserfüllter erscheint.
Die Freundlichkeit zählt zum Basisrepertoire des Verhaltens des Homo sapiens. Das bedeutet: Prinzipiell ist jeder von uns dazu in der Lage, freundlich zu anderen zu sein – wir können es, auch wenn wir es nicht immer sind oder auch dann, wenn uns nicht danach zumute ist. Das Bestechende an ihr, so Rowland: „Jeder kann sie einfach so aus dem Hut zaubern, sie ist prinzipiell offen für alle Menschen, egal ob alt oder jung, ob reich oder arm, ob aus Tasmanien oder Deutschland.“
In der Psychologie liegt die Erforschung der Freundlichkeit im Trend. Das hat laut Rowland diverse Gründe. Zum einen sieht der Forscher darin eine Gegenreaktion zum Meditationsboom, in dem eine Gefahr liege: „Trotz vieler Vorteile für das Befinden ist man ausschließlich auf die eigenen Gefühle und Gedanken zentriert, so dass andere Leute ausgeblendet werden.“ Zum Zweiten gebe Freundlichkeitsforschung in diesen Zeiten großer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Aufregung vielen Menschen Hoffnung. Zum Dritten seien die Ergebnisse zum Thema meist ermutigend – was immer mehr Forscher dazu veranlasse, die Effekte des Nettseins zu untersuchen.
Ein spezielles Aroma
Die Frage, was genau Freundlichkeit eigentlich ist, wurde in der Psychologie noch nicht einheitlich definiert: Geht es nur um eine zugewandte Haltung anderen gegenüber oder ist immer auch die gute Tat gemeint? In manchen Studien gilt Großzügigkeit als Freundlichkeit, in anderen das Spenden von Trost, in dritten alles mögliche „prosoziale“ Verhalten, in weiteren Studien rein altruistisches Gebaren. „Zwar hat Freundlichkeit Schnittmengen mit den unterschiedlichsten positiven Verhaltensweisen“, sagt Rowland, „aber dann doch ihr ganz eigenes Aroma, das wir herausfinden müssen.“
Sein Kollege David Canter hat es versucht und drei Kernkomponenten ausgemacht. Erstens eine Art alltägliche Höflichkeit inklusive der Akzeptanz anderer und Zuneigung zu den Mitmenschen. Zweitens ein Grundempfinden dafür, dass andere Menschen Gefühle haben. Drittens ein altruistisches Verhalten, das auch ohne die Erwartung von Gegenseitigkeit gezeigt wird.
Freundlichkeit ist wohl in uns angelegt. Dies gilt auch für das Wissen, dass jeder das Gegenteil sein kann, nämlich unfreundlich. Von Geburt an seien uns also die Basiszutaten der Freundlichkeit mitgegeben, meint Lee Rowland: „Trotzdem müssen wir Kindern nettes Verhalten immer wieder beibringen.“ Felix Warneken und Michael Tomasello vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie beobachteten in ihren Studien Zweijährige, wie sie zum Beispiel bereitwillig Essen und Spielzeug an andere abgaben.
Gegenseitigkeit und Altruismus
„Mit etwa fünf Jahren“, erklärt Warneken, „werden sich Kinder ihrer guten Taten langsam bewusst. Sie beginnen, den Wert für ihre Reputation zu erkennen.“ Das heißt, sie erkennen, dass sich Freundlichkeit bewusst einsetzen lässt, wenn man vom anderen etwas will.
Genau an dieser Schnittstelle setzt eine Studie britischer Wissenschaftler an. Sie belegt, dass offenbar eine Zweiklassengesellschaft freundlicher Handlungen existiert. Die Forscher von der University of Sussex nahmen in einer Metaanalyse die Resultate 36 vorliegender Untersuchungen zu dem Thema unter die Lupe. Diese Studien beleuchteten mit etwa 1150 Probanden anhand von Hirnscans, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir uns freundlich verhalten. Es zeigte sich, dass das Gehirn dabei zwischen großzügigen, altruistischen Freundlichkeiten und den netten Handlungen im Zuge von Gegenseitigkeit unterscheidet.
Zeigten Probanden diese strategischen Freundlichkeiten, die auf eine Gegenleistung ausgelegt sind, schaltete ihr Gehirn seine Areale des Belohnungszentrums an, die dafür sorgen, dass man sich wohlfühlt. Bei selbstlosen Nettigkeiten wurden jedoch noch weitere Regionen in der Großhirnrinde aktiviert, die dafür sorgen, dass es uns immer wieder leichtfällt, großzügig zu sein.
„Das Motiv hinter den freundlichen Akten ist doch wichtig“, meint Studienleiter Daniel Campbell-Meiklejohn und wirft Fragen auf, die sich aus den neuen Erkenntnissen ergeben. Zum Beispiel: Wenn man nach einem langen Arbeitstag noch einer Freundin beim Umzug hilft und sich diese mit einem Zehner bedankt, könnte sich das schöne Gefühl der altruistischen Hilfe verflüchtigen – und die eigene künftige Bereitschaft zu freundlichem Verhalten abnehmen.
Weniger Angst, mehr Zeit
Freundliche Taten sind angenehm für diejenigen, die sie empfangen, aber offenbar auch für die, die sie tun. Unter anderem haben Lee Rowland und seine Kollegen in einer Metaanalyse 27 Laborstudien mit über 4000 Teilnehmern unter die Lupe genommen. „Das Wohlbefinden verbessert sich schwach bis moderat“, fasst Rowland das Resultat zusammen. Der positive Effekt ist unabhängig von Alter und Geschlecht.
Allerdings gibt Rowland zu bedenken: Fast alle dieser Studien haben eben nicht das Motiv der Freundlichkeit berücksichtigt. Der eher moderate Effekt könnte also damit zu tun haben, dass ein Teil der Probanden dieser Studien keine Verbesserung des Wohlbefindens erlebte, weil sie strategisch freundlich waren und eine Gegenleistung erwarteten. Würde man nur Menschen mit einem rein altruistischen Antrieb untersuchen, wäre der Effekt vielleicht größer.
Ob nur freundlich oder auch altruistisch: Wie gut es tut, nett zu sein, belegt eine Reihe von Studien:
• Bonus für die Herzgesundheit: An einer Studie eines kanadisch-kalifornischen Forscherteams nahmen Patienten mit hohem Blutdruck teil, die Geld bekamen. Die Hälfte der Probanden sollte das Geschenk für sich behalten, die anderen sollten es spenden. Ergebnis: Der Blutdruck der Probanden in der „Samaritergruppe“ sank beachtlich – vergleichbar mit den Wirkungen üblich eingesetzter Medikamente oder von Sport.
• Reduktion von Angst: Kanadische Psychologen verordneten Menschen mit sozialer Phobie vier Wochen lang Akte der Freundlichkeit. Diese Leute fürchteten sich meist so sehr vor den Mitmenschen, dass sie soziale Kontakte nur schwer ertrugen beziehungsweise gänzlich vermieden. Wer aber vier Wochen lang den Rasen der Nachbarn mähte oder den Abwasch eines Mitbewohners erledigte, milderte seine Ängste – anders als die Teilnehmer zweier Kontrollgruppen. Zudem fühlten sich diese Probanden weniger gestresst von sozialer Interaktion. Offenbar verringern freundliche Taten die Angst, abgelehnt zu werden.
• Statusgewinn: In standardisierten Spielen konnten sich Probanden entscheiden, ob sie entweder etwas für sich selbst tun wollten oder etwas für die ihnen zugewiesene Gruppe. In drei solcher Experimente kletterten die nettesten, altruistischsten Probanden auf der Statusleiter am höchsten. Sie genossen den größten Respekt, zeigten das höchste Selbstwertgefühl und wurden am wahrscheinlichsten zu Führungspersonen, schreiben Forscher der University of Kent.
• Stärkung des Immunsystems: Patienten mit den nettesten, einfühlsamsten Ärzten leiden deutlich schwächer und kürzer an Erkältungen als Patienten mit „neutralen“ Doktoren. Die Freundlichkeit wirkte sich nachweislich positiv auf die Körperabwehr der Erkrankten aus.
• Gefühlter Zeitgewinn: In einer Studie sollten Probanden sich die Zeit nehmen, einem ernsthaft erkrankten Kind eine E-Mail zu schreiben. Später am Tag hatten die Leute den Eindruck, selbst mehr Zeit zu haben als sonst.
Offenbar wirkt sich Freundlichkeit sogar positiv aufs Einkommen aus. Diese Erkenntnis zum Thema haben jüngst Forscher um Kimmo Eriksson von der Universität Stockholm veröffentlicht. Freundliche Menschen verdienen demnach mehr Geld als eher egoistische Zeitgenossen. Und die Netten bekommen auch mehr Kinder. Das Team hatte Daten vieler tausender Probanden aus Langzeitstudien in Europa und den USA ausgewertet, die die Folgen eines prosozialen Verhaltens untersuchten.
Die Wissenschaftler spekulieren über die Ursachen ihrer Ergebnisse. Verglichen mit den Freundlichen, könnten sich die unsozialeren Egoisten nicht für Kinder interessieren, weil die Betreuung des Nachwuchses eine gewisse Selbstaufopferung bedeute. Dazu komme, dass ein unsoziales Verhalten weder das Kennenlernen eines Partners beschleunige, noch einer bestehenden Beziehung guttue. Und was das Einkommen betrifft: Prosoziale tendierten offenbar dazu, breitere berufliche Netzwerke zu unterhalten. Das eröffne bessere Jobchancen. Darüber hinaus helfe prosoziales Verhalten auch im Alltag eines Unternehmens.
Positive Konformität
Doch es gibt Grenzen der Freundlichkeit: Denn auf der anderen Seite lag letztlich das Einkommen hochgradig sozialer Menschen niedriger als das Salär moderat sozialer Arbeitnehmer. Möglicher Grund: Die Supersozialen landen oft in schlechter bezahlten Berufen, etwa im Pflegesektor.
Wenn Menschen freundlich zueinander sind, entwickelt sich im günstigsten Fall eine „positive Konformität“ – das heißt, es liegen die Voraussetzungen dafür vor, dass Freundlichkeit ansteckt und sich verbreiten kann. Jamil Zaki von der Stanford University hat dies in seinen Studien beobachtet: „Menschen, die glauben, dass andere großzügig sind, werden selbst großzügiger.“
Eine empfindliche Pflanze
Zakis Team bestellte gut 100 Probanden ins Labor. Ihnen wurde zusätzlich zur üblichen Aufwandsentschädigung ein Dollar gegeben. Sie bekamen dann auf einer Liste 100 Wohlfahrtsorganisationen genannt und sollten sich entscheiden, ob sie den Dollar oder zumindest ein paar Cent spenden wollten oder nicht. Danach wurden sie informiert, wie viele Probanden wie viele Dollar verschenkt hatten. Was sie nicht wussten: Eine Gruppe wurde informiert, dass drei Viertel aller Teilnehmer sich großzügig gezeigt hätten. Den anderen wurde berichtet, dass nur ein Viertel der Leute das Geld gespendet habe.
Das machte in den Folgeexperimenten einen entscheidenden Unterschied. Dieses Mal sollten die Probanden andere Leute trösten. Wer sich in einer netten menschlichen Umgebung wähnte, munterte andere Studienteilnehmer öfter und besser auf als Probanden mit einem negativen Bild. „Die Menschen geben wirklich den Geist prosozialen Verhaltens weiter“, sagt Zaki, „sie imitieren nicht nur eine bestimmte Kategorie freundlichen Verhaltens.“ Zakis Erkenntnisse belegen eindrücklich, dass Freundlichkeit eine empfindliche Pflanze ist: Einer muss anfangen, dann wächst sie und verbreitet sich.
Kann Nettigkeit gefährlich sein?
Wenn Freundlichkeit ohnehin in uns allen angelegt ist und wir von Natur aus liebenswürdig sind, wenn es uns zufriedener und beliebter macht, freundlich zu sein, wenn sie so ansteckend ist, dass wir sie nicht einfach nur oberflächlich nachahmen – warum fällt sie uns dann manchmal so schwer? Weil sich in westlichen Gesellschaften womöglich eine Überzeugung durchgesetzt hat, dass es gefährlich sein könnte, freundlich zu sein – dies ist die These des Psychoanalytikers Adam Phillips und der Historikerin Barbara Taylor.
Wie die Autoren schreiben, seien nicht etwa Sex, Gewalt oder Geld „unsere unterdrückten Leidenschaften“, sondern die Freundlichkeit im weiteren Sinne: Empathie und Sympathie, Entgegenkommen und Zuvorkommenheit, Güte und Liebenswürdigkeit beispielsweise. Doch diese Eigenschaften würden zunehmend als Schwäche abgewertet, mit der Folge, dass wir uns eigentlich nicht mehr trauten, freundlich zu sein. Manchen gelte Freundlichkeit bereits als „unverkennbare Versagertugend“, schreiben Phillips und Taylor. Es gebe deshalb eine Menge Misstrauen gegen Freundlichkeit. Ein Argument lautet, dabei handle es sich um verschleierten Narzissmus, andere wittern kaschierte Aggressionen. Wer freundlich sei, zeige nur seine Abhängigkeit.
Die Autoren sehen jedoch keinen Grund, nicht freundlich zu sein. Freundlichkeit sei kein Willensakt, sondern nur etwas, das wir bereits fühlten und wüssten. Dies gelte es zu erneuern. Man kann bei sich selbst anfangen, empfiehlt beispielsweise der Buchautor, Journalist und Dozent Jochen Mai: „Der Tag wimmelt nur so von Gelegenheiten, freundlich zu sein.“ Jemandem die Tür aufhalten, einen Kaffee mitbringen, „Guten Morgen“ sagen. Kontraproduktiv sei es hingegen, anderen die Schuld an der eigenen schlechten Laune zu geben. Auf jeden Fall sei es eine bewusste und jederzeit mögliche Entscheidung, freundlich zu sein.
Loving-Kindness-Meditation
Achtsamkeitsmeditationen sind normalerweise allein auf das eigene Ich zentriert. Nun testen Psychologen eine spezielle Form der Meditation, im Englischen loving-kindness meditation (LKM) genannt. Wer sich darin üben will, lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Region des Herzens, körperlich gesehen. Und auf Mitgefühl und gute Wünsche für andere Menschen. Die Hoffnung der Psychologen: dass sich die Bereitschaft für freundliches Handeln im Alltag erhöht.
Erste Studienergebnisse erscheinen vielversprechend: Schon sieben bis zehn Minuten LKM genügen oft, um Gefühle sozialer Verbundenheit und eine positive Einstellung gegenüber fremden Menschen zu vergrößern. Das ermittelte ein Team um die Neurowissenschaftlerin Cendri Hutcherson von der University of Toronto. Forscherinnen um Julieta Galante von der University of Cambridge erprobten einen Vier-Wochen-Video-Anfängerkurs in LKM im Vergleich zu einem moderaten Sportprogramm. Das Wohlbefinden verbesserte sich bei fast allen Teilnehmern.
Aber: Die Probanden der LKM-Gruppe handelten altruistischer als ihre Sportmitstreiter – sie spendeten im Untersuchungszeitraum mehr von dem ihnen zur Verfügung gestellten Geld. Wie lange die Effekte anhalten, ist bis dato nicht bekannt. Doch „die LKM bedeutet eine intensive emotionale Erfahrung, die zu tiefer Reflektion und zu einer großen Verbundenheit führt“, schreiben die Forscherinnen. Und Verbundenheit mit anderen ist ein wichtiger „Rohstoff“ für Nettigkeit.
ZUM WEITERLESEN
Jamil Zaki: The war for kindness. Building empathy in a fractured world. Crown, New York 2019
Adam Phillips, Barbara Taylor: Freundlichkeit. Diskrete Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Tugend. Klett-Cotta, Stuttgart 2010