Ich fand sie auf dem Dachboden, in einem Schuhkarton: die Notizbücher meiner Mutter. Dreißig Jahre lang hatte sie akribisch über jeden ihrer Tage Buch geführt, Tausende von Seiten, bis zwei Tage vor ihrem Tod. Dass meine Mutter mit diesem Hobby in hochkarätiger Gesellschaft war, erfuhr ich erst viel später, als ich las, auch Goethe habe 35 Jahre lang Tag für Tag den Fortschritt seiner Werke notiert und festgehalten, wen er zum Essen, zum Tee oder zum Gespräch traf und welche Spazierwege er ging. Minutiös.…
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und festgehalten, wen er zum Essen, zum Tee oder zum Gespräch traf und welche Spazierwege er ging. Minutiös. Die Notizen enden sechs Tage vor seinem Tod.
Was bringt Menschen – berühmte wie unbekannte – zum Schreiben? Manche, wie meine Mutter, tun es nur für sich selbst, andere, wie Goethe, für ein weltweites Publikum. Und was hat die wachsende Zahl von Menschen davon, die für eine kleine Öffentlichkeit in literarischen Werkstätten, in Workshops für kreatives Schreiben und zunehmend auch im Coaching und in der Therapie schreiben? Kann Schreiben heilsam sein? Wie wirkt es? Und bei wem? Wem schadet es womöglich?
Schreiben ermöglicht Kontinuität und Kohärenz
Als Journalistin und Coach treiben mich diese Fragen aus beruflichen Gründen um, nicht erst seit dem Tod meiner Mutter. Sie begleiten mich, seit ich für meine Dissertation die Lebensgeschichten von Juden und Jüdinnen aufschrieb, die im Versteck die Nazizeit überlebt hatten. Fast alle betonten, wie gut es ihnen getan habe, ihre Lebensgeschichte zu erzählen und dabei ein Zeugnis für die Nachwelt zu verfassen. Die narrative Psychologie erklärt diese Wirkung so: Menschen stellen beim Erzählen Kontinuität und Kohärenz her, sie geben Erfahrungen eine Bedeutung, und manche finden einen neuen Sinn.
Nicht nur das Produkt, auch der Prozess des Schreibens kann entlasten: „Schreiben wirkt manchmal wie eine lebensverbessernde Droge“, sagt die Psychologin Johanna Vedral, die ein Buch darüber schreibt, wie sie der Gewalt in ihrem Elternhaus entkam. „Es ist ein Heilmittel“, behauptet der rumänische Autor Cristian Mihai, der über die Verzahnung von Leben und Schreiben bloggt. „Es kann Therapie sein“, vermutet der Psychologe David Lätsch von der Universität Bern, der inhaltsanalytisch untersuchte, ob fiktionales Schreiben heilsam wirkt.
Schreiben schafft einen Möglichkeitsraum
Um die Wirkung des Schreibens besser zu verstehen, las ich wissenschaftliche Publikationen und Klassiker des kreativen Schreibens, und ich sprach mit Psychologen, Sozialarbeitern, Pädagogen und Coaches, die Schreiben in ihrer Arbeit einsetzen. Mein Fazit: Schreiben hilft – und das ohne Nebenwirkungen. Schreiben kann fast jeder, Papier und Stift sind nicht teuer, man kann Schreiben nachhaltig und in der Rekonvaleszenz sowie zur Prophylaxe einsetzen, als alleinige Therapieform, als Zusatztherapie, ambulant und stationär. Weil Schreiben selbstbewusst und unabhängig macht, stellt sich auch diese Frage neu: Wer therapiert eigentlich wen?
Studien, die Einzelfaktoren auf abgegrenzte Symptome unter streng kontrollierten Bedingungen untersuchen, stoßen beim Thema Schreiben an ihre Grenzen. Sie können „die komplexen psychischen und körperlichen Prozesse“, die dabei wirksam werden, nicht ganz erklären. Außerdem bewegt sich das therapeutische Schreiben „an den Schnittstellen verschiedener Domänen“, so die Ärztin und Poesietherapeutin Silke Heimes aus Darmstadt.
Auf mehreren Ebenen erklärt die tiefenpsychologische Perspektive die Wirkung des therapeutischen Schreibens. Lutz von Werder, ehemals Hochschullehrer an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, und seine Kollegen sprechen vom psychoanalytischen Dreischritt: erinnern –wiederholen –durcharbeiten. Schreiben versetze Menschen zunächst in eine entspannte Konzentration und fördere unbewusste Assoziationen. Es liefere – zweitens – Methoden, mit denen sich die Sprache des Unbewussten entwickeln und reflektieren lasse. Drittens erlaube Schreiben, auf symbolisch-bildhafter Ebene Lösungen zu erproben, und viertens stärke es die persönliche Autonomie.
Fantasie und Realität in einem Raum
Am vielseitigsten lässt sich die multidimensionale Wirkung des Schreibens mit einer Metapher beschreiben: Es kann einen Möglichkeitsraum schaffen, einen potential space, wie ihn der Psychoanalytiker D. Winnicott genannt hat. Dieser Raum ist angesiedelt zwischen der inneren Realität von Menschen und der externen objektiven Realität. Im potential space können Menschen gleichzeitig ihre inneren Fantasien und deren Beziehung zur äußeren Realität erfahren. Außerdem beschreibt die Metapher ein optimales therapeutisches Setting, in dem Spiel, Imagination und Kreativität zu Veränderung und Entwicklung beitragen.
Was Menschen beim Schreiben erleben, ist individuell verschieden. Nicht nur die Art und Weise des Schreibens, sondern auch die behandelten Themen und die Haltung, die mit dem Schreiben einhergeht, entscheiden über den Effekt. Und damit über den Charakter des Möglichkeitsraums. Als Beispiel für eine moderne Form der Selbsttherapie könnte etwa der Blog von Wolfgang Herrndorf (1965–2013) dienen. Der Autor schrieb vom Zeitpunkt seiner Krebsdiagnose bis zu seinem Freitod den Blog „Arbeit und Struktur“ und rang so „der Ohnmacht vor dem Tod ein Maximum an Macht, an Handlungsfähigkeit ab“, schreibt Ijoma Mangold im Zeitmagazin.
In einer anderen Ausgabe des Heftes schildert Inge Jens, wie sehr ihr das Schreiben an ihrer Biografie geholfen hat, die Demenz ihres Mannes zu ertragen: „Ich hatte kein Gegenüber mehr, keinen Partner, ich hatte niemanden, dem ich etwas sagen konnte. … Ich musste wieder lernen, ich zu sagen. Deshalb war die Beschäftigung mit meiner Biografie die Rettung.“ Und auch die Regisseurin Doris Dörrie, die einen albtraumartigen Aufenthalt in einem heruntergekommenen Hotel in New York mit Papier und Stift bewältigte, sagt: „Das Schreiben ist für mich ein Schutzraum.“
Die Entstehung einer „Poesietherapie“
Die Methode des „expressiven Schreibens“, die James Pennebaker, Professor für Psychologie an der University of Texas in Austin, und seine Kollegin Sandra K. Beall 1986 entdeckten, ist die am gründlichsten belegte Form therapeutischen Schreibens. Sie schafft offensichtlich einen Raum, der Patienten psychisch entlastet. Bei diesem Ansatz schreiben Patienten meist drei- bis viermal jeweils kurz – etwa 15 bis 20 Minuten – über ein belastendes oder traumatisches Erlebnis und drücken ihre Gefühle dazu aus. Durch das zeitlich begrenzte Schreiben verbesserte sich das subjektive Wohlbefinden etwa bei Patienten mit Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Auch Asthmatiker, Menschen mit Fibromyalgie und chronischen Schmerzen profitierten. HIV-Patienten konnten sich besser mit ihrer Infektion arrangieren, und bei einer Gruppe sehr introvertierter Patienten gingen sogar somatische Beschwerden signifikant zurück. Der Psychologe David Lätsch von der Universität Bern schreibt: „Alles in allem sind die positiven Befunde im Sinne erwiesener Signifikanz so eindrücklich, dass man versucht sein könnte, statt expressive writing den Ausdruck impressive writing vorzuziehen.“
Zum therapeutischen Schreiben zählen noch weit mehr Formen als die Methode von Pennebaker. Als Oberbegriff für die vielen Ansätze, die von epischem und lyrischem Schreiben und Lesen übers Bloggen bis hin zu schriftlichen Selbstanalysen reichen, schlägt Silke Heimes den Begriff „Poesietherapie“ vor – angelehnt an die amerikanische poetry therapy, die in den USA seit den 1960er Jahren entwickelt wurde. Gemeint sei „jedes therapeutische und (selbst-)analytische Verfahren, das durch Schreiben und Lesen den subjektiven Zustand eines Individuums zu bessern versucht“.
Mittlerweile haben Poesietherapeuten in den USA einen eigenen Berufsverband und veranstalten jährliche Kongresse, während ihre Kollegen in Deutschland noch von vielen Professionellen belächelt würden, sagt Poesietherapeutin Silke Heimes, die mit Menschen in der Psychiatrie, an Universitäten, in Workshops und in ihrem eigenen Fortbildungsinstitut schreibt. Damit in Deutschland die Forschung über das Schreiben weiter in Gang kommt, hat sie die wichtigsten internationalen Studien zum kreativen und therapeutischen Schreiben systematisiert und die Ergebnisse ihrer Recherche in ihrem Buch Warum Schreiben hilft veröffentlicht.
Sich wieder spüren
Im poesietherapeutischen Schreiben, wie es in Deutschland unter anderem an der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit (EAG) in Hückeswagen vermittelt wird, geht es darum, dass Menschen sich wieder spüren und ausdrücken können, dass sie zu einer „erfahrungsgesättigten Sprache“ finden und in einen lebendigen Kontakt mit sich und ihrer sozialen Umwelt kommen. An der EAG haben Hilarion Petzold und seine Kollegin Ilse Orth die Poesietherapie auf Basis der integrativen Therapie etabliert.
Im poesietherapeutischen Schreiben könnten Krebspatienten einen Schutzraum und Raum für ihren Schmerz finden, glaubt Adelheid Liepelt, die sich in Gruppenanalyse und Poesietherapie fortgebildet hat. Sie schreibt in Kiel mit Menschen, die an Krebs erkrankt sind. „Wenn Menschen nach der Diagnose verstummen, gebe ich ihnen einzelne Gedichtzeilen, die sie neu zusammenfügen, um das auszudrücken, für das ihnen noch die Worte fehlen.“
Später schreiben sie selbst – etwa ein Rondell, ein Haiku oder Elfchen –lyrische Formen, in denen sie ihre Angst, aber auch ihre Hoffnung auf Heilung wie in einem Gefäß aufbewahren. Die Erfahrung, dass schmerzhafte Erlebnisse in einem Wortkorsett erträglicher werden, kann auch jeder machen, der sich deutsche Volkslieder genauer ansieht – Verlust, Tod, Krankheit werden dort in einen bewährten Rhythmus verpackt.
Christel Schilling hat in der Gruppe von Adelheid Liepelt das Schreiben für sich entdeckt. Die Vermutung der Ärzte, sie sei zum dritten Mal an Krebs erkrankt, hatte sie vor wenigen Monaten in eine tiefe Krise gestürzt. Sie hofft, dass sie ihren Schock in Worte fassen und verarbeiten kann. „Aber nicht direkt“, sagt sie. „Mit meinen Verwandten kann ich nicht darüber reden. Hier muss ich nicht darüber reden, ich werde auch so verstanden.“ In der Gruppe findet Christel Schilling jenen Schutz, den sie braucht, um sich zu entfalten: „Ich bin schon jetzt neugierig, was da wieder aus mir herausströmen wird, es ist immer so unerwartet und neu.“ Es sind diese kleinen magischen Momente, die ihr Trost spenden und das Selbstvertrauen stärken.
Schreiben als „Übergangshilfe“
Um einen Zugang zu den eigenen Gefühlen geht es auch im Maßregelvollzug der Asklepios-Klinik Nord in Hamburg. Anke Papenfus, 39, verteilt Postkarten an die Mitglieder ihrer Schreibgruppe. Papenfus hat sich poesietherapeutisches Know-how in einem einjährigen Lehrgang angeeignet. Die Diplompädagogin und Kriminologin nutzt das kreative und biografische Schreiben, um ihren Patienten einen Übungsraum zu bieten, in dem sie soziale Kompetenzen erproben, Selbstvertrauen gewinnen und wieder mehr Kontakt zu ihren Mitpatienten finden können. Zu Papenfus kommen Menschen, die sich aufgrund psychischer Krankheiten dissozial verhalten und straffällig wurden.
Auf den Postkarten, die Papenfus verteilt, sind Sofas zu sehen: weiche Couches mit dicken Kissen, harte Holzbänke, Sofas mit Lederbezug, smarte Liegen, eine Chaiselongue. Die fünf Männer und eine Frau, die wöchentlich zusätzlich zu ihren Therapien zum Schreiben kommen, sind hier, weil sie an einer Persönlichkeitsstörung leiden. An Psychosen, an narzisstischen Störungen, an Schizophrenie. Die Straftaten, die die Gruppenmitglieder begangen haben, reichen von Brandstiftung über Körperverletzung bis hin zu Vergewaltigung und Totschlag.
Anke Papenfus schlägt den Kursteilnehmern eine Geschichte vor. Sie können beschreiben, wo das Sofa steht, was es erlebt hat, wovon es träumt. Die meisten schreiben nur kurz, fünf bis zehn Minuten, zu mehr reicht die Konzentration nicht aus. Der erste Teilnehmer liest vor. Er hat sich mit dem Sofa identifiziert, er ist dieses Sofa, er steht im Möbelhaus und will gekauft werden. Das Sofa des zweiten Vorlesers steht im Gefängnis, es möchte raus. Ein dritter Teilnehmer, er ist manisch-depressiv, schreibt sonst oft lustige Texte. Heute ist sein Stil nüchtern, passend zu seinem Sofa im Bauhausstil. Ein junger Mann mit Schizophrenie tut sich schwer mit dem Schreiben, er hat Schwierigkeiten, der Fantasie freien Lauf zu lassen, sagt Papenfus.
Räume, die schützen unt entlasten
Das Interesse am Schreiben ist nicht das Einzige, was in dieser Gruppe zählt. Mit einem Patienten will Papenfus noch mal ein Gespräch führen. Er hat eine narzisstische Störung, will dauernd im Mittelpunkt stehen, rutscht auf dem Stuhl herum, ist unruhig, „ein junger Mann mit sexuellem Sadismus, aber dabei devot. Ich muss klären, ob die Gruppe ihn aushalten kann“, sagt die Diplompädagogin.
Papenfus wünscht sich, dass kreatives Schreiben mithilft, ihre Patienten auf das Nachher vorzubereiten. Vielen fällt der Übergang ins Leben nach der Klinik schwer. Eine Wohnung zu finden, Beschäftigung. „Alles, was bei diesen Patienten protektiv wirkt, ist gut für die Zukunft, für die Gemeinschaft“, sagt Papenfus. Einmal, im vergangenen Jahr, kamen Juristen für eine Veranstaltung in die Klinik, eine Juristin las aus ihrem Krimi. Dann lasen Papenfus’ Patienten aus ihren Texten. Auch so kann Resozialisierung beginnen.
Diese Beispiele zeigen: Menschen finden im Schreiben ganz unterschiedliche Möglichkeitsräume. Für die Patienten der Asklepios-Klinik bietet das Schreiben einen Übergangsraum, für Krebspatienten wie Christel Schilling ist es ein Schutzraum, für traumatisierte Patienten kann expressives Schreiben ein Entlastungsraum sein.
Schon Virginia Woolf wünschte sich für Frauen ein „Zimmer für sich allein“, einen Raum, in dem diese schreibend den Zwängen der Zeit entfliehen und wagen könnten, „genau das zu schreiben, was sie denken“. So ein Schreibexil ist noch heute für Literaten unabdingbar, wie Brigitte Boothe, Professorin für klinische Psychologie an der Universität Zürich, sagt. Andere, wie die Harvardprofessorin und Autorin Joan Bolker, glauben, gerade für Frauen sei ein Gemeinschaftsraum wichtiger. Für Bolker geht es beim Schreiben darum, einen Ort zu schaffen, an dem sich Menschen, Frauen gegenseitig stärken. Es geht um Empowerment, zu Deutsch: Ermächtigung.
Schreiben als Lebensstrategie
Vielleicht haben die Studierenden in Österreich deshalb vor zehn Jahren begonnen, ins Writers’ Studio nach Wien zu kommen, wie die Gründerin des Studios, Judith Wolfsberger vermutet. Bei ihr lernten Studenten am Anfang nicht Techniken wie Zitieren oder Exzerpieren, sondern sie lernten, der eigenen Stimme und den eigenen Argumenten zu vertrauen.
Viele fühlten sich nach den Workshops „wie von hinten angeschoben“. Eine Türkin in Wolfsbergers Kurs hatte anfangs Mühe, sich in der Zweitsprache auszudrücken. Doch eines Tages erzählte sie stolz: Sie habe auf eine türkenfeindliche Kolumne mit einem Leserbrief geantwortet, und er sei abgedruckt worden. Sie hatte nicht nur ihre Stimme gefunden, sondern auch den Mut, sie öffentlich zu erheben.
Mittlerweile kommen nicht nur Studierende, sondern Menschen verschiedenster Profession ins Writers’ Studio, um das Schreiben als Lebensstrategie kennenzulernen. Ein Banker mit philosophischer Ader beschrieb seine Erfahrung so: „Beim Schreiben wird Idee in Materie verwandelt.“
Selbstvertrauen durch Gemeinschaft und Wertschätzung
Internationale Beispiele gibt es für Empowerment durch Schreiben auch: Der Film Freedom Writers machte zum Beispiel eine Schulklasse „nichterziehbarer Risikoschüler“ aus Long Beach, Kalifornien bekannt. Die Lehrerin Erin Gruwell las mit den Kindern Bücher wie Das Tagebuch der Anne Frank und ermunterte sie, ebenfalls über ihr Leben zu schreiben. Das machte die Kinder selbstbewusst. Alle Kinder aus der Klasse, an die nie jemand geglaubt hatte, bestanden die Abschlussprüfung und studierten anschließend.
Das neue Selbstvertrauen, das viele Schreibende erleben, beruht auf zwei Prinzipien, die in guten Schreibgruppen wirken. Sie lauten: Gemeinschaft und Wertschätzung. Beides ist nötig, denn wer allein am Schreibtisch sitzt, scheitert oft an alten Schreibtraumen: am „Thema verfehlt“, das die Lehrerin unter den Aufsatz schrieb, an der vernichtenden Kritik im Literaturworkshop, an der wenig durchdachten Absage von Verlagen oder Redaktionen.Werden die abschätzigen wie die überschwänglichen inneren und äußerenKritiker dagegen in Schach gehalten und ziehen stattdessen Spiel und Spaß am Ausdruck ein, können Menschen sich schreibend reflektieren und ein Stück neu entwerfen.
Bei all den positiven Meldungen über das Schreiben ist eine wichtige Frage bislang offengeblieben: Kann schreiben auch schaden? Durchaus, wenn das Schreiben zur Flucht wird und einen Zufluchtsraum darstellt, der keinen Kontakt mehr zur Außenwelt zulässt. Dieser Ort wirkt dann wie ein Spiegelkabinett: Die eigene begrenzte Innensicht wird ständig reflektiert. Es gibt keine neuen Perspektiven, stattdessen Hoffnungslosigkeit, die sich ins Endlose kaleidoskopiert.Johanna Vedral sagt im Rückblick, der Wechsel der Medien und eine Kunsttherapie hätten sie schließlich gerettet. Sie hatte aus eigenem Antrieb begonnen, Collagen zu fertigen, eine Methode, die sie – kombiniert mit dem Schreiben – heute selbst in Workshops weitergibt.Dieser Weg führt für Vedral wieder in die Gegenwart zurück. Anders als früher gerät sie nicht mehr in Isolation, sondern die soziale Komponente des Schreibens wirkt heilsam: „Schreiben“, so sagt die Wiener Schreibtherapeutin, „sollte immer von einem Leser, einem Du ausgehen und helfen, den Bezug zur Welt aufrechtzuerhalten: Es gibt ein Ich, das in Bezug zur Welt steht, und ein Du, das mir antwortet.“
„Schreiben schärft die Wahrnehmung von alltäglichen Wundern"
Damit Schreiben so heilsam wirkt und nicht etwa tiefer in die Krise führt, gilt es Vorkehrungen zu treffen. Die Ärztin Silke Heimes empfiehlt, sich Schreiblehrer mit mehrjähriger Therapieausbildung zu suchen. Therapeuten gibt es viele – Therapeuten, die gut ausgebildete Schreiblehrer sind, noch nicht. Eine Tradition in der Ausbildung hat das EAG- FPI in Hückeswagen, seit ein paar Jahren können sich Therapeuten, Coaches, Pädagogen auch im Masterstudiengang an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin ausbilden lassen, sie können kreatives Schreiben auf Universitätsniveau in Hildesheim oder Leipzig oder im Rahmen von kunsttherapeutischen Ausbildungen belegen. Die Liste der Weiterbildungsinstitute wird länger. Die Liste derjenigen, die Schreiben für sich entdecken, auch.
Meine Mutter hat sich schon vor Jahren täglich ihren Raum genommen, um zu schreiben. Als was sie ihn empfunden hat, ob als Entfaltungsraum, als Schonraum, als Möglichkeitsraum oder Freiraum? Ich kann es nur vermuten. Ich hoffe, es war für sie manchmal so wie für die Psychologin Ina Tilmann aus Bremen, die sagt: „Schreiben schärft die Wahrnehmung von alltäglichen Wundern und öffnet das Herz. Das ist es, was Schreiben für mich so wertvoll macht – die Magie.“
Birgit Schreiber ist promovierte Sozialwissenschaftlerin, Journalistin und Schreibtrainerin. Sie unterrichtet an Universitäten, in Workshops und auf Nordseeinseln und setzt Schreiben im Coaching ein.
Literatur
Silke Heimes: Schreiben als Selbstcoaching. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014
Silke Heimes: Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise der Poesietherapie. Vandenhoeck& Ruprecht, Göttingen 2012
David Lätsch: Schreiben als Therapie? Eine psychologische Studie über das Heilsame in der literarischen Fiktion. Psychosozial, Gießen 2011
Renate Haußmann, Petra Rechenberg-Winter: Alles, was in mir steckt. Kreatives Schreiben im systemischen Kontext. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013
Lutz von Werder, Barbara Schulte-Steinicke, Brigitte Schulte: Die heilende Kraft des Schreibens. Patmos, Ostfildern 2011
Judith Wolfsberger: Freigeschrieben. Mut, Freiheit und Strategie für wissenschaftliche Abschlussarbeiten. Böhlau UTB, Köln 2010 (3. Auflage)
Schreiben lernen
Ausbildungsgänge im kreativen und biografischen Schreiben bieten folgende Institutionen
Alice-Salomon-Hochschule Berlin
Alice-Salomon-Platz 5
12627 Berlin
Europäische Akademie EAG/FPI gGmbH
Wefelsen 5
42499 Hückeswagen
Universität Hildesheim
Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
Universität Leipzig
Deutsches Literaturinstitut Leipzig (DLL)
Wächterstr. 34
04009 Leipzig
www.deutsches-literaturinstitut.de
Institut für Sprachkunst
Vordere Zollamtsstraße 3
A-1030 Wien
Bayerische Akademie des Schreibens
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