Filme und Serien: Von Gänsehaut und glühenden Wangen

Viele Filme und Serien bewegen uns. Aber verhelfen sie uns auch zu mehr Selbsterkenntnis? Darüber schreibt Wiebke Schwelgengräber in ihrem Buch.

Popcornkino wird völlig unterschätzt. Schließlich übt es eine ungemeine Wirkung auf uns aus. Die meisten von uns erinnern sich bis heute sehr genau an den Schrecken, den sie beim Schauen ihres ersten Horrorfilms empfanden. Und nahezu alle haben bereits einen Film gesehen, der sie zu Tränen gerührt oder in starke Wut versetzt hat. Das vermeintlich seichte Entertainment – sei es ein Film oder eine Serie – kann Leib und Seele fesseln.

Zu den zahlreichen körperlichen Reaktionen gehören glühende Wangen, Gänsehaut, Angstschweiß und bisweilen auch schlaflose Nächte. Die intensiven wie vielfältigen Wirkungen der filmischen und seriellen Unterhaltung reflektiert die Lehrerin und Autorin Wiebke Schwelgengräber in ihrem Buch Wer sehen will, muss spüren.

„Mich rührt besonders die Frage, was es heißt, wie wir von Filmen ergriffen oder abgestoßen werden oder wie uns Filme sogar kaltlassen“, schreibt Schwelgengräber. Ihr Hintergrund liegt in der Germanistik, Philosophie und den Kommunikationswissenschaften, doch in ihrem Buch kommt primär die Philosophie zum Tragen. Die Autorin bedient sich der Konzepte aus der neuen Phänomenologie, um ihrer Leserschaft die Wirkungsweisen der audiovisuellen Erzählungen nahezubringen.

Knapp und leicht verständlich macht Schwelgengräber diese Ansätze auch für Lesende ohne jegliches philosophisches Vorwissen zugänglich. „Gefühle sind – nach Sicht der neuen Phänomenologie – eine bestimmte Art von Atmosphären“, fasst sie zusammen. „Ich gehe davon aus, dass Filme Atmosphären ausstrahlen, von denen wir leiblich ergriffen werden können und denen wir zugewandt bleiben oder entfliehen wollen.“

Zwischen Philosophie und persönlichem Erleben

Die Autorin untersucht die Atmosphären von ausgewählten Serien und Filmen anhand ihres eigenen Erlebens, wodurch ihr Buch einen auffälligen Kontrast aufweist: einerseits das philosophische Erklärungsgerüst, andererseits die persönlichen Aufzeichnungen wie etwa: „Schon hier geht mein Lachen langsam in Weinen über. Mir kommen die Tränen, ich lache weiter und weine gleichzeitig.“

Schwelgengräbers Methodik könnte bei einigen Leserinnen und Lesern auf Unverständnis stoßen. Sie könnten sich fragen: Was habe ich von diesem methodischen Vorgehen der Autorin? Welche allgemeinen Erkenntnisse kann ich schöpfen? Diese Fragen sind umso berechtigter angesichts der beachtlichen internationalen Forschung der letzten Jahre.

So hat beispielsweise das dänisch-amerikanische Team von Coltan Scrivner, Mathias Clasen und Marc Malmdorf Andersen an der Universität Aarhus zuletzt robuste empirische Untersuchungen zu den Wirkungsweisen von Horrorfilmen auf die menschliche Psyche und das Wohlbefinden unternommen. Sie bieten faszinierende Erklärungen für die ungebrochene Beliebtheit des Schauergenres (Lesen Sie dazu auch "Wohliger Grusel").

Einen ähnlich empirisch gesicherten und tiefgründigen Zugang zur Wirkung von Film und Serie hält Schwelgengräber nicht parat. Aber sie bietet einige Erklärungen für das intensive Erleben der audiovisuellen Erzählungen. So greift sie in ihren ersten Kapiteln Elementares wie die Empathie auf und stellt vor, wie Zuschauende dank ihr mit fiktiven Charakteren mitfiebern können. Auch auf das Binge-Watching geht die Autorin ein. „Dieses Gefühl des Versinkens in eine andere Welt kann durchaus sehr reizvoll sein“, so Schwelgengräber.

Das enorme Potenzial von Filmen und Serien

In einem späteren Kapitel widmet sie sich wiederum dem Ende der filmischen und seriellen Unterhaltung. Gerade für treue Fans, die sich einer TV-Show über Jahre hinweg verschreiben, kann das Serienfinale mit negativen Emotionen einhergehen, wie sie beobachtet. „Tiefe Traurigkeit, wenn ein grandioser Film oder eine tief beeindruckende Serie zu Ende gehen, kann uns erfassen und lange Zeit nicht loslassen. Es fühlt sich an, als würde man in ein tiefes Loch fallen.“

Eines gelingt der Autorin zweifelsohne: Sie fördert das Bewusstsein für ein besonderes Potenzial von Film und Serie. Beide ermöglichen es den Zuschauenden, auf neue Weise zu sich selbst zu finden: „Im kathartischen Sinne kann eine leiblich gespürte Atmosphäre sogar medizinisch wirksam sein, wenn sie mir hilft, gebündelt Emotionen anzustauen und sie dann abzuladen“, so Schwelgengräber – und lädt ein: „Geschichten können uns leiblich betroffen machen. Lassen Sie sich auf Ihr ganz eigenes Betroffensein ein und spüren Sie nach.“

Wiebke Schwelgengräber: Wer sehen will, muss spüren. Warum uns manche Serien und Filme berühren und uns andere kaltlassen. Springer, Wiesbaden 2022, 162 S., € 22,99

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2022: Lieber unperfekt
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