„Seriengucken ist Probehandeln“

Warum „Game of Thrones“ oder „Vorstadtweiber“ uns so faszinieren, erklärt die Psychoanalytikerin Svenja Taubner im Interview.

Szene aus Game of Thrones, Emilia Clarke und Krieger mit Schilden
Auch Fantasy-Serien wie Game of Thrones zeigen ein Stück Wirklichkeit und faszinieren uns deshalb. © Pictorial Press Ltd/Alamy Stock Foto

Sie sind Psychoanalytikerin und haben zusammen mit Timo Storck ein Buch über die neuen TV-Serien herausgebracht. Was ist der Unterschied zu den alten Serien wie Lassie, Flipper oder Bonanza?

Der größte Unterschied ist, dass die Erzählstruktur sich verändert hat. Sie ist in den neuen Serien eher dem Roman vergleichbar. Es wird eine einzige große Geschichte erzählt. Sie erstreckt sich über den Verlauf der ganzen Serie, kann also 60 Stunden dauern oder länger. Bonanza, Flipper und Co sind anders aufgebaut. Man…

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ganzen Serie, kann also 60 Stunden dauern oder länger. Bonanza, Flipper und Co sind anders aufgebaut. Man spricht bei ihnen auch von „Serials“. Dabei handelt es sich um kleine, abgeschlossene Geschichten, aus denen jede einzelne Folge besteht. Das ist wie ein kurzer Kinofilm. Der Spannungsbogen innerhalb der einzelnen Episode ist in sich geschlossen. Man kannte trotzdem die Charaktere, gewöhnte sich an sie, gewann sie lieb und war gespannt, was ihnen als Nächstes widerfuhr.

In Ihrem Buch las ich: Die Kinder, etwa bei Flipper und Lassie, wurden nicht älter. Warum ist das wichtig?

Die Figuren in den früheren Serien vermitteln uns das beruhigende Gefühl: Alles bleibt, wie es ist. Niemand stirbt. Alles wird gut. In den neuen Serien ist das anders. Diese Gewissheit – alles bleibt beim ­Alten – wird uns hier nicht vermittelt: die Menschen werden älter, dicker oder kränker. Sie geraten in Konflikte, sie verlieben sich, gehen wieder auseinander, verlieren den Job oder ziehen um. Sie entwickeln sich. Sie bleiben nicht dieselben Menschen, die sie am Anfang der Serie waren. Das kann man gut bei der ­Lindenstraße sehen, die in dieser Beschreibung zu den neuen Serien zählt: Die süßen Kinder, die dort geboren werden, werden zu normalen Erwachsenen. Und statt einer runden Geschichte gibt es am Ende der Episoden einen Cliffhanger.

Was ist ein Cliffhanger?

Das ist ein offener Ausgang, der uns an einer spannenden Stelle hungrig zurücklässt. Nämlich darauf, zu erfahren, wie die große Geschichte denn nun weitergeht. Das Ende der Episode deutet jeweils auf das Kommende hin, die Cliffhanger machen den Mund wässrig. Sie verleiten uns, gleich die nächste Episode hinterherzuschieben.

Und das ist eine weitere Neuerung – denn wir sind meist in der Lage, das tatsächlich zu tun. Wir können heute selbst entscheiden, wann und wo wir uns mit einer Serie beschäftigen. Heute schauen wir die Episoden meist nicht mehr im Fernsehen an, sondern auf dem Computer oder dem Tablet. Das tun wir mittels DVD oder über einen Streamingdienst. Wir schauen zu einer Zeit, die wir dafür selbst wählen. Und weil wir nicht an Ausstrahlungszeiten gebunden sind, können wir uns auch mit Freunden verabreden und zusammen gucken.

Warum sind die Leute so wild auf Serien? Was macht den Reiz der Episodenfilmchen aus?

Das ist eigentlich kein neues Phänomen. Wir Menschen haben uns immer schon mittels kultureller Produkte über verschiedene Lebensentwürfe ausgetauscht, die wir darin dargestellt finden. Serien sind das neue Format, das uns derzeit begeistert. Früher haben wir über Bücher gesprochen, dann über Kinofilme, heute reden wir mit anderen über Serien. Menschen haben ein großes Bedürfnis, sich auszutauschen. Serien sind dafür ein geeignetes Thema, auf das wir uns mit anderen einigen.

Welche Themen stecken denn in den Serien, dass sie so interessant für uns sind?

Die erfolgreichen Serien spiegeln uns, sie geben uns etwas zurück aus unserer aktuellen Lebensrealität. Das tun sie immer, auch wenn sie an anderen Orten oder zu anderen Zeiten spielen. Sie sind reizvoll, wenn sie Aspekte beinhalten, die einen wichtigen Punkt unseres heutigen Lebens berühren.

Bei Game of Thrones geht es beispielsweise um Fragen, die wohl die meisten Menschen interessant finden: In welchen Strukturen ist eine gute Gesellschaft möglich? Wer sollte diese Gesellschaft leiten? Sollten das Menschen tun, die in diese Rolle hineingeboren werden? Was bedeutet Demokratie? Wie ist das Geschlechterverhältnis in der Machtausübung? All diese Aspekte des Zusammenlebens finden Menschen sehr faszinierend. Wir mögen es, über diese Themen nachzudenken und Modelle dazu vorgeführt zu bekommen. Uns spricht das auch und gerade dann an, wenn uns diese Fragen in einem fantasievollen Format dargeboten werden. Gleichzeitig müssen diese Themen etwas mit uns zu tun haben. Sie dürfen nicht völlig von unserer Realität abgekoppelt sein.

Aber was hat Breaking Bad mit meiner Realität zu tun? Diese sehr erfolgreiche US-Serie erzählt die Geschichte eines braven Chemielehrers, der sich zu einem skrupellosen Drogenboss wandelt.

Das ist wohl die Serie, die am stärksten in unsere Seele eindringt, ohne dass wir es verhindern können. Darin wird ein Chemielehrer dargestellt, Walter White, der ein wenig glückliches Leben führt. Er strengt sich an, seine Familie zu unterstützen – und dann bekommt er eine ernste Krebsdiagnose. Er hat nicht die finanziellen Mittel, um sowohl seine Behandlung zu beginnen als auch seine Familie künftig gut versorgt zu wissen. Er steht vor der Frage, ob er sich suizidiert – oder eine Heilung beginnt und seine Familie ruiniert. Das ist der Auslöser, der diesen Biedermann zu einem Schwerstkriminellen werden lässt. Er wird zu jemandem, vor dem man richtig Angst hat.

Eben! Ich bin eine Frau, habe weder eine lebensbedrohende Krankheit noch akute Geldsorgen. Was fasziniert mich an Walter White?

Wir haben alle Schicksalsschläge, die wir verarbeiten müssen. Was uns an der Serie fasziniert, ist wohl die Weise, die der Protagonist als „Lösung“ der Aufgabe anbietet. Er findet eine sehr kreative Lösung für seine Probleme: den Geldmangel und die mangelnde Anerkennung im Beruf, auch von seiner Frau.

In unserem Buch beschreibt der Kollege Hamburger die Serie Breaking Bad als eine klassische Untergangsgeschichte. Sie ist wie eine griechische Tragödie aufgebaut. Man merkt, dass der Protagonist Walter White – der Mann mit der ehemals weißen Weste – sich immer tiefer verstrickt, dass er immer und immer tiefer sinkt, und irgendwann warten wir darauf, dass er scheitert. Das beruhigt uns dann auch wieder.

Bei Breaking Bad ist das Spannende, dass man sich mit den Rollen identifiziert. Vielen ging es so – mir übrigens nicht –, dass man Walter White seine Taten verzeiht. Das bedeutet: Man wirft einen neuen Blick auf kriminelle Lösungen. Gute Serien spiegeln uns nicht nur, sie stoßen vor allem Reflexionen an.

Gerade diese Serie löst wohl sehr komplizierte Gefühle aus. Daraus erklärt sich auch der große Sog, den die Geschichten um den Lehrer, der zum Dealer im großen Stil wird, auslösen. Wir staunen aber nicht nur über die Entwicklung dieses braven Bürgers, wir nehmen innerlich daran teil. Intelligent gemachte Serien schaffen es, dass sie ein Probehandeln beim Zuschauer bewirken.

Mit Probehandeln meinen Sie, dass wir die Handlungsschritte des Protagonisten in Gedanken durchspielen?

Genau. Dass wir in Gedanken ausprobieren, wie sich das anfühlt in seiner Lage. Wir überlegen, wie wir selbst uns in so einer Lage verhalten würden. Oder wir spekulieren darüber, welche Konsequenzen so ein Verhalten auf unsere Lebensumstände, Gefühle und unsere Beziehungen hätte. Wir fragen uns: Was würde ich denn tun, wenn ich in dieser Situation wäre? Wie weit würde ich gehen? Das löst – gerade im Fall von Breaking Bad – viele moralische Überlegungen aus.

Sie selbst haben in Ihrem Buch über die Serie The Walking Dead geschrieben und sehen darin auf einer psychologischen Ebene das Thema Altruismus. Die Serie spielt in einer apokalyptischen Welt, in der wenige Menschen sich immer mehr Untoten gegenüber sehen. Sie schreiben im Buch: Interessant wird es, wenn Rick, die Hauptfigur, so altruistisch wird, dass er den Zuschauer damit richtig nervt.

Ja. Ich meine, dass in der Serie alle Spielarten des Altruismus durchdekliniert werden. Die ganze zweite Staffel über suchen die Menschen nach einem verschollenen Mädchen. Rick gibt sich die Schuld dafür, dass dieses Mädchen verlorengegangen ist. Er macht sich große Sorgen, es könnte von den Zombies gefressen werden. In diesem Schuldgefühl wird er pathologisch altruistisch. Er handelt dann so, dass er damit die gesamte Gruppe gefährdet – um seine Schuldgefühle zu lindern.

Serien, die uns faszinieren, sagen etwas über die Themen aus, die uns interessieren. Aber was soll ich davon halten, wenn ich neuen Episoden der Vorstadtweiber entgegenfiebere? Die Serie spielt in Wien, die Protagonistinnen sind eine Gruppe von lügenden, betrügenden, scheinheiligen, sogar mordenden Frauen mittleren Alters.

Machen Sie sich keine Sorgen! Man sagt, die Vorstadtweiber seien die österreichische Version der Des-perate Housewives, die habe ich früher auch gerne sehen. Bei den Vorstadtweibern kommt die Politik hinzu, da spielt der Wiener Filz eine Rolle. Man schaut bei diesen wohlbetuchten „Weibern“ nicht nur hinter die Kulissen von Beziehungen, sondern bekommt einen Einblick in politische Verstrickungen. Diese Verwobenheit von Privatem und Öffentlichem ist etwas sehr Faszinierendes.

Hier spielt wohl auch so etwas wie Gaffertum eine Rolle. Uns interessiert, was wir sonst nicht unbedingt hautnah mitbekommen: machthungrige Politiker, Lobbyisten, berechnend agierende Menschen. Man fragt sich die ganze Zeit: Ist das Realität oder Fiktion? Wir ahnen, dass da ein Fünkchen Wirklichkeit drinsteckt. Aber wir wissen, es ist kein Abbild des echten Lebens, denn es handelt sich ja um eine fiktive Geschichte. Grundsätzlich gilt: Wenn eine Geschichte nahe an unserer Realität dran ist, muss diese besonders überspitzt dargestellt sein, damit wir es aushalten können.

Aber ich halte mich nicht für besonders machthungrig oder intrigant, ich lebe nicht vom Geld eines Ehemannes ...

Eine Geschichte, die im Jetzt spielt, die von Frauen in einem ähnlichen Alter handelt – allein das kann schon nah an uns heranrücken, an die eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Träume und Hoffnungen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass diese Filme eher komödiantisch aufgebaut sind. Denn durch Übertreibungen gewinnen wir Abstand zu den Figuren, indem wir darüber lachen können. Auf diese Weise können wir auch über uns selbst ein Stück weit lachen. Trotzdem finden wir uns noch ein bisschen in den dargestellten Personen wieder, in ihrem Verhalten und Erleben. Wenn ich in einer Serie eins zu eins meine eigene Realität, meinen Alltag gespiegelt bekomme, interessiert mich das nicht.

Sie sind Serienfan – und Direktorin des Instituts für Psychosoziale Prävention in Heidelberg. Was meinen Sie, lenken Serien von eigenen Problemen ab, oder können sie unsere Persönlichkeitsentwicklung fördern?

Es stimmt wohl beides. Es gibt Serien, die sind reine Ablenkung. Sie dienen der Zerstreuung. Da geht es um eine reine Berieselung. Da wird nichts in uns angestoßen, darin gibt es nichts Neues. Dann gibt es komplexe Serien, sie werden auch als „Quality-TV“ oder „Transgression-TV“ bezeichnet. Darin werden tatsächlich Grenzen überschritten, wenn wir sie schauen. Ob uns das zum Handeln bringt, weiß ich nicht. Aber sie regen uns immerhin zum Nachdenken an.

Das gilt übrigens für alle guten Erzählungen, ob es nun Romane oder Filme sind. Solche Geschichten können unseren Horizont erweitern. Sie können uns Mut machen, Denkanstöße geben, verdrängte Gefühle ansprechen oder schwierige Lebensthemen wie Tod oder Trauer ins Bewusstsein bringen. In jeder Geschichte werden Möglichkeiten der Verarbeitung von verschiedenen Lebenssituationen angesprochen. Auf diese Weise können uns auch Filme eine neue Perspektive darlegen. Sie funktionieren dann wie ein gutes Gespräch, das uns auch einen neuen Blickwinkel ermöglicht. Dasselbe kann eine gute Serie leisten.

Eine Studie von Netflix, einem Unternehmen, das Serien produziert und eine Onlinevideothek anbietet, kommt zu dem Ergebnis: Wer Serien anschaut, verbringt damit im Schnitt täglich 1,3 bis 2,5 Stunden. Das macht bei sieben Tagen die Woche fast die Zeit eines Halbtagsjobs aus. Wann wird Serienkonsum bedenklich?

Da gibt es klare Kriterien, wann ein Verhalten suchtartig wird: wenn ich meinen Alltag schleifen lasse, wenn ich meine Aufgaben nicht mehr erfülle und stattdessen Serien gucke. Wenn ich ein Craving-Verhalten entwickle, also wenn ich das Gefühl habe, ich muss jetzt die Serie schauen, sonst geht es mir schlecht. Wenn die Serie allgemein in meinem Leben zu viel Raum einnimmt.

Es gibt meines Wissens keine Seriensucht. Was es gibt, sind kurze Erfahrungen von Kontrollverlust: Menschen berichten, dass sie mehr geguckt haben, als sie eigentlich wollten. Das ist oft ein kurzzeitiges Phänomen. Es dauert so lange an, bis die Staffel oder die Serie abgearbeitet ist. Danach machen die meisten erst mal eine Pause, bevor sie sich einer neuen Serie zuwenden.

Svenja Taubner ist Psychoanalytikerin und Direktorin des Instituts für ­Psychosoziale Prävention am Universitätsklinikum Heidelberg. ­Zusammen mit Timo Storck brachte sie zu diesem Thema gerade folgendes Buch heraus: Von Game of Thrones bis The ­Walking Dead. Interpretation von Kultur in Serie. ­Springer, Berlin 2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2018: Das erlaube ich mir!