Herr de Keere, ist Binge Watching auf einmal harmlos?

Im Interview erklärt Kobe De Keere, warum die Bewertung von Binge Watching davon abhängt, wer es macht. Die Mittelschicht halte sie dabei für resistent.

Sie haben rund 700 englischsprachige Medienartikel analysiert, um festzustellen, ob und wie über Binge-Watching geschrieben wurde, also exzessives Schauen von Fernseh- oder Streaming-Inhalten. Was haben Sie herausgefunden?

Zunächst: Aus Sicht der Soziologie ist Binge-Watching eine kulturelle Praxis, die oft als problematisch und wenig wertvoll galt, weil angeblich dumm und passiv machend. Als es häufiger wurde, erzeugte es moralische Panik, beispielsweise in den Medien, aber auch in Schulen oder der Politik, wie bei vielen neu auftauchenden kulturellen Praktiken – dafür ist auch Heavy-Metal-Musik ein gutes Beispiel.

Binge-Watching wurde zudem stets verbunden mit schlechter Qualität der konsumierten Inhalte, etwa von Fernseh-Trash-Formaten. Wir haben aber festgestellt, dass in den von uns analysierten Artikeln Binge-Watching von Video on demand-Angeboten nicht als problematisch, sondern als handhabbar beschrieben wurde und die Angebote, häufig Serien, durchgehend als unterhaltsam und qualitativ hochwertig.

Wie kam es zu diesem Sinneswandel?

Es ist weniger ein Sinneswandel als eine Frage, an wen sich die Artikel richten. Es wird suggeriert, dass Binge-Watching offenbar dann unproblematisch ist, wenn es das richtige Publikum macht. Hinter der Darstellung des Binge-Watchings verbirgt sich meiner Meinung nach die durch die Mittelschicht vorgenommene Abgrenzung von den Angehörigen der unteren Schicht und deren Abwertung. Die Mittelschicht sieht traditionell ein Problem darin, wenn die unteren Klassen der Bevölkerung intensiv fernsehen oder streamen, auch bezogen auf die Formate, die sie konsumieren.

Warum bewertet sie das so?

Angehörige der unteren Schichten gelten häufig als passiv, denken Sie an das Bild von der „Couch-Potato“ in Jogginghosen. Menschen aus der Mittelschicht halten sich hingegen für aktiv, für reflektierend, also auch für fähig, Binge-Watching zu managen. Doch beliebte Tätigkeiten der mittleren Schichten sind ebenfalls passiv, etwa das Hören klassischer Musik. Und die Serien, die sie schauen, sind auch nicht alle gleich gut.

Das heißt, die Medienartikel richten sich nur an Mittelschicht-Binge-Watcher.

Es geht um eine symbolische Abgrenzung von den Angehörigen der unteren Klassen. Gerade im Bereich des Streamens lässt sich das auch daran erkennen, dass sich Angehörige der Mittelklassen oft bei Freundinnen und Freunden erkundigen, welche Serien die gerade sehen. Das heißt, man will den „richtigen Geschmack“ haben und sich so der Zugehörigkeit zur eigenen Schicht vergewissern. Übrigens ist auch die Psychologie aus Sicht einiger Soziologen ein Produkt der Mittelschicht, der Sie und ich angehören, ebenso wie die Autorinnen und Autoren der von uns analysierten Artikel, die das natürlich nicht mit Absicht so geschrieben haben.

Kobe De Keere ist Soziologe und Assistenzprofessor für kulturelle Soziologie an der Universität Amsterdam.

Literatur

Kobe De Keere u.a.: Defusing moral panic: Legitimizing binge-watching as man­ageable, high-quality, middle-class hedonism. Media, Culture & Society, 2021. DOI: 10.1177/0163443720972315

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2021: Egoisten
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