„Wir sind anders - aber besser“

Im Interview erklärt Laura Wiesböck, welche Mechanismen und Entwicklungen selbstgerechte Urteile begünstigen.

Junge Biobauern halten lachend und selbstgerecht ihre Gemüsekörbe und denken sie sind besser als andere
© DEEPOL by plainpicture

Frau Dr. Wiesböck, in Ihrem Buch In besserer Gesellschaft analysieren Sie, dass Menschen sich ausgrenzen und abwerten, wenn sie aus unterschiedlichen sozialen Milieus kommen. Was haben Sie konkret beobachtet?

Es gibt viele gesellschaftliche Bereiche, in denen eine Trennlinie zwischen „wir“ und „die anderen“ gezogen wird. Es gibt Abwertung und Misstrauen zwischen Mittellosen und Vermögenden, zwischen höher Gebildeten und weniger Gebildeten, zwischen Männern und Frauen. Handwerker schauen auf Kopfarbeiter…

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höher Gebildeten und weniger Gebildeten, zwischen Männern und Frauen. Handwerker schauen auf Kopfarbeiter herunter und umgekehrt, Nachhaltigkeitsfans erheben sich über Menschen, die diesen Lebensstil nicht teilen.

Auch mit Konsumgütern, Kleidung und technischen Gadgets versucht man immer wieder, seinen höheren Status auszudrücken. Menschen, die in unterschiedlichen sozialen Situationen sind oder verschiedene Lebensstile pflegen, distanzieren sich von anderen – und halten sich selbst nicht selten für die bessere Gruppe.

Was ist da los? Leben wir mittlerweile in einer arroganten Gesellschaft?

Zum Teil ist es ein psychologischer Mechanismus. Soziale Gemeinschaften funktionieren immer auch über Grenzziehung. Sozialpsychologen haben schon in den 1950er und 1960er Jahren festgestellt, dass Menschen sich bestimmten Gruppen zugehörig fühlen wollen und dass sie die eigene Gruppe über andere stellen.

Menschen aus dem eigenen sozialen Milieu oder mit ähnlichem Lebensstil fühlt man sich nicht nur näher, man traut ihnen laut Studien auch mehr positive Eigenschaften zu, bevorzugt sie gegenüber anderen, hilft ihnen eher, spendet ihnen eher Geld. Dahinter steckt ein Bedürfnis, dazuzugehören und anerkannt zu sein. Wenn man die eigenen Leute als „die Guten“ ansieht, kommt man in den Genuss einer Selbsterhöhung. Das kann Menschen in ihrer Identität stabilisieren.

Ist es unumgänglich, auf „die anderen“ herabzusehen?

Es ist wichtig, zwischen Abgrenzung und Abwertung zu unterscheiden. Dass man sich mit der Gruppe, zu der man sich selbst zählt, eher identifiziert als mit anderen, das ist menschlich. Hand aufs Herz: Wer hat noch nicht gedacht, dass das, was man selbst und „die eigenen Leute“ vertreten und tun, richtiger ist als das, was andere machen?

Problematisch wird es, wenn sich die Blickrichtung ändert und man andere aktiv abwertet, wenn man etwa Schutzsuchende als „Asyltouristen“ beschimpft oder Menschen, die nicht studiert haben, für irrational und engstirnig hält. Wenn man sich also nicht mehr abgrenzt, sondern abwertet und andere Bevölkerungsgruppen für weniger wert hält, wird es problematisch. Anfällig für diese Haltungen sind vor allem Menschen, die glauben, dass ihre eigene Weltsicht eine Vormachtstellung haben sollte.

Welche gesellschaftlichen Prozesse machen Sie für die Abgrenzungswut verantwortlich?

Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft, kollektive Sichtweisen nehmen immer mehr ab. Die Verlagerung der Verantwortung vom Kollektiv hin zum Individuum ist sehr weit verbreitet. Gesellschaftliche Missstände werden immer mehr auf Einzelne abgewälzt. Die vor allem in den USA geprägte Devise „Jeder ist seines Glückes Schmied“ hat heute auch hierzulande Gewicht und treibt soziale Gruppen auseinander.

Es ist erschreckend, wie leicht privilegierte Menschen untragbare gesellschaftliche Bedingungen hinnehmen und sich jeder für sich daran anpasst, statt sich dafür einzusetzen, dass sich etwas verändert. Zu wenig Kindergartenplätze? So früh wie möglich anmelden oder auf Privatplätze ausweichen. Altersarmut? Eine eigene Immobilie ist der beste Schutz, denn von der Rente wird ohnehin kaum jemand leben können. Das Verständnis für Menschen aus dem eigenen Kreis ist oft groß, für andere Gruppen aber wenden wir nicht das gleiche Einfühlungsvermögen auf.

Die Idee, dass jeder sein Schicksal selbst in der Hand hat, ist aber doch zum Teil auch eine Ermu­­ti­gung…

Nicht in der Art, wie wir sie heute verstehen, nämlich als Beweis, dass vor allem Leistung und persönliche Willenskraft dazu führen, dass Menschen Erfolg haben. Wer davon ausgeht, der ist schnell damit bei der Hand, gesellschaftlichen Gruppen, denen es nicht gutgeht, wie beispielsweise Hartz-IV-Empfängern oder Geflüchteten, bestimmte soziale Rechte abzusprechen.

Die Argumentation ist dann: Diese Leute haben weniger geleistet, als sie könnten, sie verhalten sich unsolidarisch und sollen daher weniger unterstützt werden und weniger Mitspracherecht bekommen. Sie sind also selbst schuld. Diese Denkweise führt nicht nur dazu, dass sich wohlhabende und erfolgreiche soziale Gruppen von weniger erfolgreichen abgrenzen und auf sie herabschauen. Sie haben auch weniger solidarische Impulse – und fühlen sich damit im Recht.

Können Sie ein konkretes Beispiel für diese Entwicklung geben?

Der gesellschaftspolitische Umgang mit Erwerbslosigkeit, der sich seit den 1980ern sehr verändert hat. Bei der Entwicklung der Hartz-IV-Reformen beispielsweise ging man davon aus, dass Menschen, die keine Arbeit finden, dafür zum Teil selbst verantwortlich sind – und dass sie dafür Konsequenzen zu erwarten haben: Es wird gestaffelt, wie viel Geld Menschen bekommen, je nachdem ob sie länger oder kürzer arbeitslos sind. Wer lange arbeitslos ist, dem wird mehr zugemutet.

Es gibt beispielsweise in einigen Län­dern die Auflage, zur Not für einen Euro zu jobben oder sehr lange Fahrzeiten zum Arbeitsplatz auf sich zu nehmen. Hier geht es nicht allein um die Arbeitsmarktpolitik oder volkswirtschaftliche Belange. Hier verschiebt sich die Haltung anderen Menschen gegenüber immer stärker in die Richtung, dass diejenigen, die scheinbar weniger leisten, nicht mehr die gleichen Rechte haben und stark in ihrem Lebensstil eingeschränkt werden können und sollen.

Das öffnet auch Vorurteilen und Häme Tür und Tor. Man denke nur an bestimmte Scripted-Reality-Formate im Fernsehen wie Familien in Not. In solchen Serien werden Menschen ohne Arbeit oft als übergewichtig, träge und wenig lebenstüchtig dargestellt – also quasi als eine Art Abziehbild des „Sozialschmarotzers“.

Apropos Medien: Serien von Germany’s Next Top­model bis „Dschungelcamp“ haben hohe Einschaltquoten, werden von unterschiedlichsten Leuten geguckt. Auch hier geht es ja permanent um Vergleiche, um Gewinner und Verlierer. Spielt das für die gegenwärtigen Entwicklungen eine Rolle?

Seit Einführung des Privatfernsehens setzen TV-Formate verstärkt auf Sensationslust und Schadenfreude. Die gab es zwar immer, da beide Impulse aber in so vielen Sendungen bedient werden, verschieben sich so manche Grenzen, das permanente Bewerten und Abwerten von anderen Personen wird nicht mehr so stark hinterfragt.

Dazu kommt, dass heute in den sozialen Medien das Vergleichen mit anderen in jeder Sekunde möglich geworden ist. Übers Netz ist man ständig mit den angeblichen Erfolgen von „Freunden“ konfrontiert – wobei sich viele medial geschönt präsentieren. Studien zeigen, dass diese Art des virtuellen Vergleichs häufig dazu führt, dass man sich entfremdet und einsam fühlt.

Einige Psychologen reden heute von einem zunehmenden Problem des Narzissmus. Andere attestieren der Gesellschaft vor allem eine Spaltung. Welcher Begriff trifft es besser?

Die Zuschreibung „Narzissmus“ wird meiner Meinung nach oft zu leichtfertig verwendet. Außerdem bin ich der Ansicht, dass individuelle Überheblichkeit, Rücksichtslosigkeit oder Egomanie nicht das Kernproblem sind. Menschen sind nicht ohne Empathie und Nähe zu anderen, sie bringen diese Gefühle aber eben vor allem für die eigene soziale Gruppe auf.

Deshalb kann ich mit dem Begriff der Spaltung, der ja auch eher die Isolation verschiedener gesellschaftlicher Milieus beschreibt, mehr anfangen. Diese Spaltungstendenzen kann man übrigens in progressiven, gebildeten Milieus ebenso beobachten wie in sogenannten bildungsfernen.

Sie kommen immer wieder darauf zu sprechen, dass die harschen Abgrenzungsprozesse vor keinem Milieu haltmachen. Warum ist Ihnen das so wichtig? Ist der blinde Fleck so groß?

In gebildeten Mittelschichten gibt es eine Tendenz, sich als Hüter der Wahrheit zu betrachten. Im Moment wird viel darüber gesprochen, dass weniger privilegierte Schichten die Spaltung vorantreiben, bei Migrationsthemen sehr intolerant sind, nicht über den eigenen Tellerrand schauen und auf emotionale Art andere Gruppen abwerten. Das mag zum Teil zutreffen.

Doch auch sogenannte Bildungsbürger sind nicht wertfrei und betrachten gesellschaftliche Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven. Auch sie lassen sich hinreißen, andere abzuwerten, erfassen die Lebenswelt anderer Gruppen unzureichend, argumentieren und agieren selbstgerecht.

Haben Sie ein Beispiel?

Denken Sie an das Thema Nachhaltigkeit: Wer gebildet ist und einer gewissen Einkommensschicht angehört, ernährt sich heute wahrscheinlich mit Bioprodukten und achtet auf faire Produktion, schaut aber auch mit moralischem Blick auf andere und fragt, warum sie nicht genauso leben. Sie vergessen dabei: Nachhaltigkeit umzusetzen kostet Zeit und Geld.

Ein Supermarktkassierer, eine alleinerziehende Mutter oder jemand, der im Niedriglohnsektor sein Geld verdient, hat die zeitlichen oder finanziellen Ressourcen für ein durchdacht nachhaltiges Leben vielleicht nicht. So eine Sichtweise wertet weniger privilegierte Bevölkerungsgruppen ab. Und wenn man dann noch bedenkt, dass gerade in besser situierten Schichten der neue SUV und der Urlaubsflug dazugehören und viel mehr Umweltbelastung bedeuten, als ihr Ökoeinkauf wettmacht, fällt auf, wie selbstgerecht dieser Blick eigentlich ist.

Fordern Sie von Menschen, die aus gebildeten Schichten kommen, hier mehr Weitsicht?

Ein Bewusstsein dafür, dass Abgrenzung, Abwertung und Selbstgerechtigkeit Merkmale von fast allen sozialen Gruppen sind und dass nahezu alle Milieus dieses Muster aufweisen, wäre wichtig. Man könnte versuchen, Barrieren aufzubrechen und sich mehr für andere soziale Gruppen, ihre Lebensweisen und Ansichten zu interessieren.

Ist das denn real möglich? Man hört doch gerade immer, dass alle so stark in ihren eigenen Filterblasen hängen – und zwar nicht nur im Netz?

Nicht alle Gruppengrenzen sind in Stein gemeißelt. Wir alle gehören schließlich im Alltag zu variablen und unterschiedlichen Gruppen. Ein einfaches Beispiel zeigt, wie sehr wir auch Gruppenidentitäten und Interessen wechseln: Stehen wir auf einem Popkonzert, zählen die Menschen im Saal zur eigenen Gruppe, nämlich Fans der jeweiligen Musik.

Geht man dann nach der Veranstaltung noch mit Freunden in eine Bar, konkurriert man vielleicht mit Leuten, die auch auf dem Konzert waren, um einen freien Tisch, und die Gruppengrenzen haben sich verschoben. Auch bei der Arbeit, auf einem Elternabend in der Schule, in der Bürgerinitiative oder im Sportverein sind Menschen plötzlich Teil einer Interessensgruppe, die sonst vielleicht sozial separiert wären oder in anderen Bereichen völlig entgegengesetzte Interessen vertreten.

Diese Durchlässigkeit von Gruppengrenzen kann man für Kontakt und Annäherung nutzen. Hier kann man üben, Einblick in Perspektiven von Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu bekommen, oder auch Bereiche erkennen, in denen man sich ähnlich ist oder ähnliche Interessen vertritt.

Und was kann man tun, wenn man selbst in einer konkreten Situation plötzlich einen Abwertungsimpuls hat?

Der wichtigste Schritt ist, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie man auf andere reagiert, und sich selbst zu beobachten, wo man Vorurteile und einen selbstgerechten Blick pflegt. Was passiert hier? Welche Bilder kommen auf? Woher kommen diese Bilder? Decken sie sich mit meiner Erfahrung? Mit dem Willen zur stetigen kritischen Selbstreflexion ist schon sehr viel getan. 

Die Soziologin Laura Wiesböck lehrt und forscht an der Universität Wien zu sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung. In ihrem Buch In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen (Kremayr & Scheriau) geht sie der menschlichen Sehnsucht nach Überlegenheit auf den Grund

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2020: Ruhe im Kopf