Die Welt als Serie

Immer mehr Menschen streamen Serien auf Netflix und Co. Doch hat der Konsum der seriellen Erzählungen Einfluss darauf, wie wir die Welt wahrnehmen?

Die Illustration zeigt eine Frau mit Regenmantel, Smartphone und Regenschirm, die während es regnet, an einer großen, roten Netflix-Serienanzeige vorbeiläuft, wobei die Serienfiguren sie mit den Augen verfolgen
Vom Bildschirm in die Wirklichkeit: Nehmen wir unser Erleben als Serie wahr? © Florian Bayer

Wer sich zuletzt im Netz durch die Nachrichtenportale klickte, mag sich bisweilen wie auf der Videostreaming-Plattform Netflix vorgekommen sein. Brauchen wir denn wirklich noch eine Staffel Brexit, fragte man sich da. Den Autorinnen und Autoren fällt doch schon seit der letzten nichts Neues mehr ein. Und wie viele Folgen Bolsonaro müssen wir eigentlich noch ertragen, bis endlich die Absetzung erfolgt? 

Manche Autorinnen, so auch die Kulturwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld, gehen bei diesem Vergleich…

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Nathalie Weidenfeld, gehen bei diesem Vergleich sogar noch weiter: Sie machen die scheinbar endlosen Handlungsstränge zeitgenössischer Serien wie The Walking Dead oder Lost dafür verantwortlich, dass wir uns auch in der realen Welt an Erzählungen ohne Abschluss und Konsequenzen gewöhnten. Wenn sich jeder dramatische Wendepunkt bloß als weitere Zwischenstation entpuppe, werde die Krise irgendwann zum Normalzustand – und damit schlussendlich belanglos. Als Beweis dienen die jährlichen Klimagipfel oder eben die zähen Verhandlungen um den britischen EU-Austritt.

Folgt man dieser These, bedeutet das: Serien sind weit mehr als nur Unterhaltung. Sie prägen unseren Blick auf die Welt und formen unsere Persönlichkeit. Aber steckt dahinter mehr als eine bewusst zugespitzte These aus dem Feuilleton? Können Serien also wirklich uns und unsere Weltsicht beeinflussen? Und, wenn ja, wie?

Klar ist jedenfalls, dass der Mensch seit jeher Erzählungen braucht, um der zunehmend komplexen Welt um ihn herum Ordnung und Bedeutung zu verleihen. Wir sehnen uns nach Narrativen, deren inhaltliche Geschlossenheit uns einen Sinn vermittelt. Wir lauschen gebannt Geschichten, durch die wir etwas über uns selbst und die Gesellschaft, in der wir leben, erfahren können.

Romane des 21. Jahrhunderts

Heute begegnen uns diese Geschichten vor allem in Form von Serien. Die gibt es zwar schon lange, mit dem Aufstieg der Streamingplattformen hat das Format aber ganz neue Dimensionen erreicht. Nie zuvor haben so viele Menschen so viele serielle Formate verfolgt – und nie zuvor gab es derart anspruchsvolle und ambitionierte Serien. Klassiker wie The Sopranos, Breaking Bad oder The Wire gelten heute als absolute Meilensteine des Fernsehens und werden zusammen mit ihren zahlreichen Nachfolgern als „Romane des 21. Jahrhunderts“ gefeiert. Soll heißen: Die relevanten Narrative unserer Zeit finden sich nicht mehr in den Werken der Großschriftsteller, sondern in den Empfehlungen bei Netflix und Amazon Prime.

Entsprechend beeindruckend sind die Zahlen. Laut einer Analyse des Statistikportals Statista wird im Jahr 2020 der gesamte Videostreamingmarkt 882 Millionen zahlende Nutzerinnen und Nutzer erreicht haben. Die Coronakrise hat diese Entwicklung zuletzt noch einmal beschleunigt – rund 16 Millionen Neuanmeldungen verzeichnete Netflix allein im ersten Quartal 2020. Zeitweise musste das Unternehmen sogar die Videoqualität seines Angebots drosseln, um die europäischen Datennetze nicht zu überlasten. Das zeigt: Für Millionen von Menschen waren die Serien in dieser Zeit der Kontaktbeschränkungen und des Homeoffice tatsächlich so etwas wie das Fenster zur Welt.

Diese Faszination ist nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert sprach der britische Geistliche Thomas Arnold mit Blick auf Fortsetzungsromane in Zeitschriften von einer „süchtig machenden Ersatzreligion“. Der Priester mag dabei einen etwas kulturpessimistischen Blick gehabt haben. Aber richtig ist, dass serielle Formate mit gezielten dramaturgischen Kniffen arbeiten, um das Publikum zu manipulieren und an die Geschichten zu fesseln. Der mittlerweile schon sprichwörtliche Cliffhanger ist wohl der bekannteste Trick. Dabei endet die Filmhandlung gerade an ihrer spannendsten Stelle.

Zurück bleiben aufgekratzte Zuschauer, die nun fast gar nicht mehr anders können, als bei der nächsten Folge wieder einzuschalten. Beliebt sind auch sogenannte flashforwards. Zukünftige dramatische Ereignisse werden dabei schon in vorhergehenden Episoden immer wieder subtil angedeutet und binden die Fans so an den Handlungsstrang. Wie wirkungsvoll diese Techniken sein können, zeigt das Beispiel einer vormodernen Serienexpertin. Scheherazade aus der Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht fesselt mit ihrer allnächtlichen Erzählkunst den königlichen Ehemann derart, dass er stets auf die eigentlich für den Morgen vorgesehene Hinrichtung seiner Frau verzichtet, um ja die nächste „Folge“ nicht zu verpassen.

„Serielles Erzählen kann nicht einfach mit der längeren Version eines Films oder Romans gleichgesetzt werden“, sagt der Kulturwissenschaftler Jonas Nesselhauf von der Universität des Saarlands. „Durch das lang laufende Format können Serien ihre Handlungsstränge und Figurenpsychologisierung viel stärker ausbauen und so eine engere Verbindung zu den Rezipierenden aufbauen.“ Die Psychologie kennt dafür das Konzept der parasozialen Beziehungen. Die Forscher Donald Horton und Richard Wohl wollten damit in den 50er Jahren eigentlich erklären, wie Menschen auf die direkte Ansprache von realen TV-Personen wie etwa Nachrichtensprechern reagierten. Mittlerweile wird der Ansatz aber auch bei fiktionalen Charakteren verwendet. Wenn wir eine Serie verfolgen, bauen wir eine Beziehung zu den Figuren auf. Wir wollen beispielsweise, dass der vermeintliche good guy überlebt, und entwickeln eine Abneigung gegenüber dem Bösewicht. Dabei gilt: Umso fesselnder der Plot, desto tiefer die Beziehung zum fiktiven Charakter.

Keinen direkten Kontakt

Zwar übernehmen wir nun nicht gleich das Weltbild eines Seriencharakters, nur weil wir uns ihm verbunden fühlen. Die empirische Medienpsychologie liefert allerdings Hinweise auf ähnliche Mechanismen. „Medien beeinflussen uns definitiv“, sagt Holger Schramm von der Universität Würzburg. „Vieles von dem, was wir wissen und an Bildern in unserem Kopf herumtragen, speist sich aus unserem Medienkonsum. Schließlich haben wir zu den meisten Dingen in der Welt überhaupt keinen direkten Kontakt.“ Wenn wir uns also das Leben in fernen Ländern vorstellen wollen, können wir oft gar nicht anders, als ausschließlich auf Eindrücke aus Dokumentationen oder Spielfilmen zurückzugreifen. Doch die liefern selten das ganze Bild.

Gut belegt ist deshalb der Effekt, dass Menschen, die regelmäßig Krimiserien schauen, deutlich das Risiko überschätzen, selbst zum Opfer eines Verbrechens zu werden. Außerdem sind sie davon überzeugt, dass Gewaltverbrechen in der Gesellschaft viel häufiger seien, als es tatsächlich der Fall ist. Die Fans von Krankenhausserien schätzen hingegen den Anteil von Ärztinnen und Ärzten an der Bevölkerung viel zu hoch ein. Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler George Gerbner hat dafür in der 70er Jahren den Begriff der Kultivierung geprägt. Seine These, die er besonders auf das Fernsehen bezog: Medien kultivierten das Weltbild der Rezipierenden und lieferten dabei notwendigerweise ein verzerrtes Abbild der Realität.

Der Abschluss als Grundbedürfnis

Während es sich dabei um Wirkungen auf unsere Vorstellungen von der Welt handelt, gibt es auch Hinweise darauf, dass Serien unsere darauf aufbauenden Einstellungen und Handlungsabsichten beeinflussen können. Eine Studie im Journal of Cancer Education fand beispielsweise heraus, dass Frauen eher bereit waren, sich einem Brustkrebsscreening zu unterziehen, wenn sie zuvor eine Folge der Krankenhausserie Emergency Room gesehen hatten, in der das Thema positiv dargestellt wurde. Auch eine Studie zur ZDF-Serie Die Schwarzwaldklinik konnte zeigen, dass sich die positive Position zur Organspende aus der Handlung auf die Rezipierenden übertrug.

Holger Schramm verweist aber auch auf Schwächen der Rezeptionsforschung. „Viele dieser Studien zur Medienwirkung zeigen bisher nur Korrelationen und keine Kausalitäten“, sagt der Medienforscher. Seine Kollegin Daniela Schlütz von der Filmuniversität Babelsberg sieht das ähnlich. „Wir können schlicht noch keine allgemeinen Aussagen zu diesen Fragen treffen“, betont die Professorin für Theorie und Empirie der digitalen Medien. Wie Menschen auf Medien reagierten, sei abhängig von den unterschiedlichsten Variablen und Bedingungen. Ein weiteres Problem: Oft seien in Studien zwar Effekte messbar, allerdings fehle die Langzeitperspektive. Ob die Probandinnen aus der Studie zur Schwarzwaldklinik also später wirklich häufiger zu Organspenderinnen wurden, ist vollkommen offen.

Was bedeutet das aber nun für die erfolgreichen Produktionen von Netflix, Amazon und HBO? Was wollen sie uns über die Welt erzählen? Und kann diese Erzählung wirklich unsere Sicht auf die Welt verändern? Die zu Beginn erwähnte These geht jedenfalls davon aus. Dort heißt es: Wenn einfach immer weitererzählt wird und vermeintliche Lösungen nur kurze Verschnaufpausen auf einer endlosen Reise bleiben, gewöhnen wir uns an ein Handeln ohne Konsequenz. Stattdessen dominiert dann das trügerische Versprechen: Es wird schon immer irgendwie weitergehen. Wenn das stimmt, dann wäre auch die klassische narrative Struktur der Heldenreise obsolet geworden. Darin folgt der Protagonist dem Ruf einer Aufgabe, bewältigt sie entbehrungsreich und bewirkt damit eine tatsächliche Veränderung in der Welt und sich selbst. Carl Gustav Jung, Begründer der analytischen Psychologie, hat diese uralte mythische Struktur als ein Grundprinzip der Persönlichkeitsentwicklung verstanden.  

Echte Offenheit macht unzufrieden

Aus psychologischer Sicht entspricht das Streben nach einem nachhaltigen Abschluss also einem menschlichen Grundbedürfnis. Lässt sich das beim Serienkonsum dann wirklich so einfach abstellen? Laut Daniela Schlütz übersieht diese Annahme einen ganz entscheidenden Punkt. „Die wenigsten seriellen Formate sind wirklich offen und endlos“, sagt sie. Jede Serie brauche irgendwann auch eine Form des narrativen Abschlusses – und wenn es nur ein Erzählstrang sei. In der Serie Lost, die vom Schicksal der Überlebenden eines Flugzeugabsturzes erzählt, entwarfen die Autoren beispielsweise nach sechs Staffeln ein durchaus legitimes Ende – auch wenn zum Unmut vieler Fans gleichzeitig einige Rätsel ungelöst blieben. „Mit echter Offenheit können wir psychologisch nur sehr schlecht umgehen“, sagt Schlütz. „Sie erzeugt häufig große Unzufriedenheit bei den Rezipienten.“ Tatsächlich zeigt auch der Blick auf das politische Geschehen, dass Prozesse ohne jeden Abschluss keineswegs zu schleichender Akzeptanz führen – im Gegenteil. Die Bewegung Fridays for Future hat beispielsweise die Unzufriedenheit mit der zögerlichen Klimapolitik lautstark auf die Straßen gebracht.

Oft ist in den Feuilletons auch die Rede von einem neuen Realismus: Die aus Hollywood bekannte Einteilung in Gut und Böse löse sich im Netflix-Universum komplett auf, heißt es da. Tatsächlich präsentieren uns The Sopranos einen Mafiaboss, der sich gleichzeitig mit seinem Alltag als Familienvater und seinen Panikattacken herumschlagen muss. Und in der Fantasy-Serie Game of Thrones werden die moralischen Rollenzuschreibungen im Laufe der Handlung derart radikal durcheinandergewirbelt, dass man von einem emotionalen Stresstest für das Publikum sprechen könnte. Gut möglich also – so die These –, dass wir als Zuschauer und Zuschauerinnen dabei eine ganz neue Ambiguitätstoleranz ausbilden. Denn wer diese Serien wirklich genießen möchte, der muss meist bereit sein, auf einfache Antworten, strahlende Heldinnen und ausschließlich verachtenswerte Bösewichte zu verzichten. Aber macht uns das auch offener für die Uneindeutigkeiten der realen Welt?

Zwischen Unterhaltung und Belastung

Nachweisen lassen sich solche Prägungen jedenfalls bisher nicht. Der Mannheimer Medienpsychologe Peter Vorderer glaubt zudem nicht an einen derart umfassenden und nachhaltigen Effekt – dafür sei die inhaltliche Vielfalt des Medienangebots trotz des Erfolgs der Qualitätsserien immer noch zu groß. „Viele Menschen schauen doch auch noch regelmäßig Sendungen aus der Rosamunde-Pilcher-Reihe oder klassische Krimiserien“, sagt Vorderer. Und selbst unter den neuen hochwertigen Formaten der Streamingplattformen arbeiteten viele Titel im Kern immer noch mit weitgehend traditionellen Rollenbildern. Laut Vorderer entspricht das auch den Bedürfnissen der meisten Menschen: „Die Mehrheit der Zuschauer will nachweislich langfristige Beziehungen zu den Charakteren aufbauen und nicht ständig überraschend enttäuscht werden.“ Denn das führe meist eher zu Frust.

Aber wie lassen sich dann Faszination und Erfolg von Serien wie Breaking Bad erklären? Schließlich stellen darin scheinbar grundsätzlich gute Charaktere die Sympathien der Zuschauerinnen immer wieder mit moralisch schockierenden Handlungen auf die Probe. Interviewstudien geben darauf erste Antworten. Denn offenbar setzen Serienfans in solchen Situationen schlicht moralische Scheuklappen auf. Die Forschung spricht dabei von moral disengagement, also kognitiven Strategien, durch die moralisch inakzeptables Handeln erträglich wird. Das geht allerdings nur eine Weile gut. Gelingt das Schönreden und Bagatellisieren nicht mehr, weil es diejenigen, die die Serien schreiben, mit der Ambivalenz ihrer Figuren übertreiben, steigen manche Fans irgendwann aus. Unterhaltung wird sonst zur emotionalen Belastung.

Daniela Schlütz hat zudem in einer Untersuchung herausgefunden, dass die meisten Zuschauer ambivalente Charaktere wie den Killer Dexter aus der gleichnamigen Serie zwar faszinierend finden, sich aber nicht mit ihnen identifizieren. Sie vermutet daher, dass sich bei den Qualitätsserien eine neue Form der Bindung etablieren könnte, die weniger auf Empathie und Sympathie zu den Figuren als vielmehr auf dem Interesse an komplexer Unterhaltung und intellektueller Herausforderung beruht. Andere Studien legen dies ebenfalls nahe.

Während in der Forschung zwar unstrittig ist, dass Serienkonsum uns grundsätzlich beeinflusst, sind steile Thesen zu den konkreten Folgen derzeit in den Feuilletons noch besser aufgehoben. Zu vielfältig sind die einzelnen Formate, zu unterschiedlich ist das Rezeptionsverhalten einzelner Zuschauer. „Ich wäre sehr vorsichtig damit, von pauschalen Effekten der neuen Serien auf unsere Weltsicht zu sprechen“, sagt Serienexpertin Daniela Schlütz. Wir können uns also darauf einstellen, dass gerade tatsächlich die letzte Staffel Brexit läuft, und müssen wohl nicht mehr befürchten, dass der nächste Cliffhanger auf uns wartet. Ende. 

Zum Weiterlesen

Nicole Liebers, Holger Schramm: Parasocial interactions relationships with media characters – an inventory of 60 years of research. Communication Research Trends, 38/2, 2019, 4–31

Holger Schramm, Johannes Knoll: Medienwirkungen. In: Mathias Blanz u.a. (Hg.): Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Kohlhammer, Stuttgart 2014, 168–177

Beth L. Hoffman u.a.: Exposure to fictional medical television and health: a systematic review. Health Education Research, 32/2, 2017, 107–123

George Gerbner, Larry Gross: Living with television: The violence profile. Journal of Communication, 26/2, 1976, 172–199

Maren Lickhardt: Leben in der Zeit der Serialität. Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 74/852, 2020, 66–72

Daniela Schlütz: Quality-TV als Unterhaltungsphänomen. Entwicklung, Charakteristika, Nutzung und Rezeption von Fernsehserien wie The Sopranos, The Wire oder Breaking Bad. Springer VS, Wiesbaden 2016

Jonas Nesselhauf, Markus Schleich: Fernsehserien. Geschichte, Theorie, Narration. UTB, Stuttgart 2016

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2021: Sehnsucht nach Verbundenheit