Soziopathen in Serie

Mad Men, Breaking Bad: Viele Fernsehserien haben hochambivalente Protagonisten. Warum identifizieren sich die Zuschauer so gern mit diesen Figuren?

Illustration zeigt die Serienhelden aus House of Cards, Mad Men, Breaking Bad und The Sopranos
Auf der Couch: Die Serienhelden von „House of Cards“, „Mad Men“, „Breaking Bad“, „The Sopranos“ © Florian Bayer

Eines Tages wird Tony Soprano alles zu viel. Tochter Meadow steckt in der Pubertät und streitet dauernd mit ihren Eltern. Die alte Mutter soll ins Heim, wehrt sich aber dagegen. Auch im Job läuft es schlecht, Tonys Firma hat mit Konkurrenz zu kämpfen. Bei einer Gartenparty klappt der Familienvater schließlich mit einer Panikattacke zusammen und muss fortan zu einer Psychotherapeutin, was ihm überhaupt nicht gefällt: „Heute rennt jeder zum Seelendoktor und quatscht über seine Probleme. Was war zum Beispiel…

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quatscht über seine Probleme. Was war zum Beispiel mit Gary Cooper? Der starke, stille Typ, der hatte keinen Kontakt zu seinen Gefühlen, der hat getan, was er tun musste. Wenn die es geschafft hätten, dass Gary Cooper Kontakt gekriegt hätte zu seinen Gefühlen, hätte er pausenlos gesabbelt.“ Aber es nützt nichts, auch Tony muss sabbeln, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Was seine Psychotherapeutin allerdings nicht weiß: Ihr Klient ist ein Mafiaboss und sein Müllentsorgungsunternehmen nur eine Tarnfirma. Leichen pflastern seinen Weg.

Als die Fernsehserie The Sopranos 1999 in den USA erstmals ausgestrahlt wurde, veränderte sie das Fernsehen nachhaltig. Denn The Sopranos erzählte eine Mafiageschichte der ganz anderen Art: Im Zentrum steht ein leicht depressiver Mann mittleren Alters, der unter denselben banalen Alltagssorgen leidet wie viele seiner Altersgenossen. Seine Lebensumstände sind belastend, er scheint gefangen in seiner gesellschaftlichen Rolle als Mann, Familienoberhaupt und Führungskraft. Und dann begeht er – in der fünften Folge der ersten Staffel – plötzlich einen Mord. Ohne Grund. Die Zuschauer waren schockiert, verstört, wollten verstehen. Und schauten deshalb die nächsten 81 Episoden.

Auch in Deutschland war die Serie ein riesiger Erfolg. Warum interessieren wir uns für einen Mann wie Tony Soprano, der ohne Bedenken unliebsame Kunden stranguliert und wenig später bei seiner Therapeutin Weinkrämpfe bekommt? Warum wollen wir uns einfühlen in Figuren, die laufend diejenigen Regeln brechen, auf die wir für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander angewiesen sind? In den großen Serien unserer Zeit sind es just diese Charaktere, die Millionen von Zuschauern vor die Bildschirme locken.

Fernsehserien, die wie Romane aufgebaut sind

Der Erfinder der Sopranos, David Chase, scherte sich in seiner Serie nicht um Konventionen. Er traute sich Dinge, die vor ihm kein Serien-Drehbuchautor getan hatte. Nicht nur die hochambivalenten Charaktere waren neu in der Serienwelt, auch die epische Erzählweise. Denn The Sopranos ist konstruiert wie ein Roman, mit langen Erzählbögen über viele Folgen hinweg, die es dem Autorenteam ermöglichten, ihre Figuren und deren Welten tief zu durchdringen. Die einzelnen Folgen sind stets vollgepackt mit gesellschaftlichen Beobachtungen, mit Filmzitaten, Traumsequenzen, hintersinnigem Witz. Sie sind anspruchsvoll. Bei den Zuschauern kam das gut an.

Nach dem unerwarteten Erfolg von The Sopranos begannen amerikanische Pay-TV-Sender wie HBO, Fox oder AMC zunehmend, in originelle Serien zu investieren, um ebenfalls viele Zuschauer anzulocken. Statt Werbeeinnahmen standen jetzt zahlkräftige Abonnenten im Vordergrund. Es folgten 24 (2001), The Wire (2002), Mad Men (2007), Breaking Bad (2008), Homeland (2011), House of Cards (2013) – allesamt Serien, die durch eine ganz eigene Art, Geschichten zu erzählen, bestachen.

So führte die Serie 24 eine bis dahin ungesehene Erzählstruktur ein, indem sie Echtzeit simulierte. Jede der 24 Episoden dauerte exakt 60 Minuten, so dass am Ende einer Staffel ein fortlaufender 24-stündiger Zeitraum erzählt worden war. Die Dramaserie Breaking Bad hingegen handelt von der Wandlung eines an Krebs erkrankten und am Rande der Armut stehenden Chemielehrers zum Drogenbaron. Und obwohl der Charakter im Laufe der Serienentwicklung immer weniger sympathisch wird, erlagen die Zuschauer dennoch seiner Faszination: In den USA schauten sich zehn Millionen Menschen die letzte Folge der finalen Staffel auf dem Pay-TV-Sender AMC an.

Die fast dokumentarisch anmutende Serie The Wire hingegen, die viele Kritiker bis heute für den Höhepunkt des seriellen Erzählens halten, thematisiert die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Drogendealern in der Stadt Baltimore. Es geht um den Niedergang der einst wohlhabenden industriellen Stadt, um Arbeitslosigkeit, die den Alltag prägt, um Kriminalität, Politik und Journalismus. Wie auch in den Romanen von John Updike oder Philip Roth stehen widersprüchliche Figuren im Zentrum der Geschichte.

Kopfreisen in sehr bizarre Subjekte

Erst das Serienformat gab den Autoren die Möglichkeit, ambivalente und widersprüchliche Charaktere über einen langen Zeitraum hinweg glaubhaft zu entwickeln. Viele Filmkritiker halten die amerikanische Serie auch deshalb inzwischen für die prägendste zeitgenössische amerikanische Kunstform. „Das große Kino erzählte abgeschlossene Geschichten mit einem richtigen Anfang und einem richtigen Ende“, so der renommierte Film- und Kulturkritiker Georg Seeßlen jüngst im Deutschlandfunk. „Allerdings erzählte es diese Geschichten immer wieder neu. Am Ende war der Mörder überführt, die Ehe gestiftet, der Kampf vorbei. Diese Ordnung der Welt kann und will das serielle Erzählen nicht bieten.“ Auch sei, so Seeßlen, eine eindeutige Einteilung in „die Guten“ und „die Bösen“ nicht mehr im Angebot: „Wir identifizieren uns hier vor allem mit moralischen Grenzgängern, wir versuchen sogar, Mörder, Kriminelle und Verrückte ‚zu verstehen‘, wir erproben Kopfreisen in sehr bizarre Subjekte.“

Warum interessieren wir uns so sehr für Charaktere, deren Verhalten wir unter normalen Umständen – wären sie etwa unsere Nachbarn – höchst abstoßend finden würden? Rainer Winter, Psychologe und Professor für Medien- und Kulturtheorie an der Universität Klagenfurt, glaubt, dass diese Charaktere uns die Möglichkeit geben, in der Fantasie Verhaltensweisen durchzuspielen, die wir zwar selbst nicht für angemessen, aber dennoch für erstrebenswert halten. „Wenn man sich die Figuren der neuen Serien anschaut, fällt auf, dass sie fast alle der Diagnose des Soziopathen entsprechen“, erklärt Winter.

Soziopathen sind Menschen, die zu Impulsivität, der Missachtung sozialer Normen und zu gewalttätigem Verhalten neigen. Zwar sind sie im Gegensatz zu den Psychopathen grundsätzlich zu Empathie fähig, verhalten sich aber dennoch oft aggressiv und antisozial. Zusammen mit den Psychopathen listet das Diagnosemanual DSM-5 die Soziopathen deshalb unter der Überschrift „Antisoziale Persönlichkeitsstörungen“.

Wie würden wir an ihrer Stelle handeln?

„Uns fasziniert aber nicht ausschließlich die Gewalt, die ein Tony Soprano oder ein Walter White ausüben, sondern vielmehr die Art und Weise, wie sie sich durchsetzen“, so Winter. „Ein Underdog wie White muss neben seinem Lehrerjob Autos waschen, um über die Runden zu kommen. Dann macht er eine sekundäre Karriere als Drogenboss und transformiert sich zu einer Figur, mit der wir uns zwar nicht unbedingt identifizieren wollen, die aber dennoch enorme Kräfte mobilisiert. Wir fragen uns, was es für uns bedeuten würde, wenn moralische Regeln außer Kraft gesetzt wären und wir unsere Interessen gleichermaßen brutal durchsetzen würden.“

Eine ähnliche These vertritt der amerikanische Kulturwissenschaftler und Theologe Adam Kotsko in seinem 2012 erschienenen Buch Why We Love Sociopaths. Er skizziert Seriencharaktere wie Tony Soprano, Stringer Bell (The Wire) oder Don Draper (Mad Men) als „Fantasiesoziopathen“, die nicht viel auf soziale Normen geben und sich durch unmoralisches Verhalten auszeichnen. Zugleich seien sie aber meisterhafte Manipulatoren und könnten aufgrund dieser Fähigkeiten ihre Umwelt ganz nach ihrem Geschmack prägen.

Das passe gut in unsere Zeit: „In einer Gesellschaft, die zusammenbricht, wiederholt sich doch immer wieder dieselbe Situation; dass nämlich derjenige, der sich schamlos in der Schlange nach vorne drängelt, erfolgreich ist; dass diejenigen Menschen, die die Weltwirtschaft zerstören, anschließend mit hunderten Millionen Dollar an Boni davonkommen. Und wir denken: Wenn mir die anderen Menschen auch einfach egal sein könnten, dann wäre ich genauso reich und mächtig.“

Wir spielen an der Seite von Tony Soprano oder Frank Under­wood (House of Cards) also Verhaltensweisen durch, die uns womöglich beruflich oder gesellschaftlich voranbringen würden, aus ethischen Gründen aber verwerflich sind. Allerdings stecke der Fantasiesoziopath gerade dadurch in einer Klemme, erklärt Kotsko: Wolle er gelingende Beziehungen führen, müsse er langfristig seine Soziopathie aufgeben; tue er das, sei er aber wieder nur ein gewöhnlicher Underdog.

Gesellschaftlich zutiefst verunsicherte Männer

Tatsächlich ist der Soziopath einer der prägenden Charaktere unserer Zeit, es ist also nur folgerichtig, dass er auch in der Welt der Serien eine tragende Rolle spielt. Der Tübinger Neurowissenschaftler Niels Birbaumer erforscht seit Jahren Menschen mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen und hält es für sehr wahrscheinlich, dass intelligente Soziopathen mit ihrem Verhalten beruflich weit kommen. „Soziopathen sind rücksichtsloser als andere und deshalb sehr gefährlich, sie haben keine Scheu, Aggression als Instrument einzusetzen, um Ziele zu erreichen“, erklärt Birbaumer. „Paradoxerweise belohnt unsere kompetitive Arbeitswelt so ein Durchsetzungsverhalten. Deshalb sind intelligente und strategisch denkende Soziopathen in unserer Arbeitswelt häufig erfolgreich. Oft findet man sie sogar an der Spitze von großen Unternehmen oder in der Politik.“ Wissenschaftler um den kanadischen Psychiater Robert Hare untersuchten 2010 in einer Studie zum Thema corporate psychopathy  203 Führungskräfte aus sieben amerikanischen Konzernen und fanden zu ihrem Erstaunen heraus, dass mehr als sechs Prozent der untersuchten Personalverantwortlichen die Merkmale von Soziopathen aufwiesen – in der Allgemeinbevölkerung sind es nur ein Prozent.

Und doch sind fiktionale Soziopathen wie Tony Soprano, Walter White oder Don Draper anders. Denn wir sehen nicht nur ihre kriminellen Züge, sondern auch ihre weichen, sympathischen und verzweifelten Seiten. So erfahren die Zuschauer etwa, dass der charismatische und rücksichtslose Kreativdirektor Don Draper aus der Serie Mad Men als Kind sexuell missbraucht wurde und schwer traumatisiert ist. Täter und Opfer sind nie trennscharf gezeichnet.

Doch wie sieht es aus mit Soziopathinnen? Die großen Serien der vergangenen fünfundzwanzig Jahre sind von mittelalten weißen Männern geprägt, von den Tony Sopranos, Walter Whites, Frank Underwoods unserer Zeit. Sie stehen für eine Krise der Männlichkeit, für gesellschaftlich zutiefst verunsicherte Männer, die im Sinne eines Problemlösungsversuchs in patriarchale Muster zurückfallen, nicht immer mit Erfolg. Aber auch die Serienwelt befindet sich in einem Transformationsprozess: In den letzten Jahren haben starke Frauenfiguren die Bildschirme erobert, die mit einer ähnlichen Konsequenz und Rücksichtslosigkeit vorgehen: Robin Wright als skrupellose Präsidentengattin in House of Cards ist ein Beispiel, genau wie Claire Danes als bipolare Geheimdienst-Analystin Carrie Mathison in Homeland.

Rücksichtlos die Kontrolle über das eigene Leben zurückerobern

Zugleich sind die Serien also Diagnosen der Probleme der westlichen Welt, vor allem der USA. Sie erzählen von gesellschaftlichen Missständen und Fehlentwicklungen: von korrupten öffentlichen Einrichtungen (The Wire, House of Cards), von einer Krise der Männlichkeit (The Sopranos, Breaking Bad), von den USA im Ausnahmezustand nach 9/11 (24, Homeland), von der Isolation und Verlorenheit des Einzelnen in einer fragmentierten Gesellschaft (Mad Men).

„Die interessante Frage ist ja, warum die amerikanische Gesellschaft genau jetzt auf die Idee kommt, diese Art von Antihelden zu konzipieren und populär zu machen“, sagt Rainer Winter. „Aus meiner Sicht spiegeln sie wider, was in der Gesellschaft schiefläuft. Ich denke an die prekäre gesellschaftliche Situation der Unter- und Mittelschicht in den USA, wo beide Ehepartner mehrere Jobs haben müssen, um über die Runden zu kommen. Allein die Krankheit eines Partners kann – wie in Breaking Bad – eine Familie in den Ruin treiben. Vor diesem Hintergrund hat es natürlich eine besondere Faszination, wenn sich ein Charakter über die Grenzen seiner gesellschaftlichen Schicht hinwegsetzt und im Stile eines rücksichtslosen autoritären Herrschers die Kontrolle über sein Leben zurückerobert.“

Mit dem Kochen der Partydroge Crystal Meth bezahlt Walter White zunächst seine teure Krebstherapie, überschreitet bald aber immer mehr Grenzen. Schauspieler Bryan Cranston, der den Charakter in der Serie verkörpert, hält seine Figur zwar für einen außergewöhnlich schlechten Menschen. „Aber man kann schon sagen, dass die Serie auch ein Licht darauf wirft, welche ökonomischen Probleme es in Amerika und weltweit gibt“, erklärt der Schauspieler.

Keine Alternativen für eine bessere Welt

Serien wie The Sopranos, Breaking Bad oder auch House of Cards lassen sich also als Artikulationsformen gesellschaftspolitischer Fantasien verstehen, die viele bewusste und unbewusste Elemente in sich bergen. So beschreibt es auch der Psychologe und Medienpädagoge Gerald Poscheschnik von der Universität Innsbruck, der den neuen Serien somit eine virtuell-bildende Funktion zuschreibt: Er glaubt, dass die aktuellen gesellschaftspolitischen Referenzen in Breaking Bad oder auch Game of Thrones die Zuschauer zu kritischen Denk- und Reflexionsprozessen über sich selbst als politische und gesellschaftliche Wesen sowie die Gesellschaft an sich animieren können. Tatsächlich wird seit dem Machtwechsel im Weißen Haus zumindest die Serie House of Cards unter einem ganz neuen Blickwinkel dis­kutiert, die Grenze zwischen Fiktion und Realität scheint längst nicht mehr so trennscharf wie noch vor zwei Jahren.

Und doch bieten auch Serien wie The Sopranos, Breaking Bad, The Wire oder Mad Men keine Alternativen für eine bessere Welt. Es bleibt dabei, dass der Einzelne seine individuelle Ohnmacht nur durch Rücksichtslosigkeit, Gewalt und Grenzüberschreitung überwinden kann. „Die Frage, ob die spätkapitalistische Gesellschaft ihre Krise überwinden kann, wird in den Serien nicht gestellt“, findet auch Rainer Winter. „Es gibt keine Utopien darüber, wie das Individuum sein Begehren auf legitime Weise durchsetzen oder verwirklichen kann.“ Wollen wir uns im Leben durchsetzen, müssen wir es also wohl oder übel so machen wie Tony Soprano oder Walter White: Die einzige Erfolgsstrategie bleibt, ein Soziopath zu werden.

Zum Weiterlesen

Adam Kotsko: Why We Love Sociopaths. A Guide To Late Capitalist Television. John Hunt Publishing, Alresford 2012

Gerald Poscheschnik: Game of Thrones – Fernsehserien als Artikulation gesellschaftlich-unbewusster Phantasien. MedienPädagogik, Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 26, August 2016, 1–12. DOI: 10.21240/mpaed/26/2016.08.17.X

Georg Seeßlen, Markus Metz: Erzählen im Wandel. Die Welt als Serie – die Serie als Welt. Radiofeature im Deutschlandfunk, tinyurl.com/PH-Soziopathen-in-Serie

Rainer Winter, Dagmar Hoffmann (Hg.): Mediensoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Nomos, Baden-Baden 2018

Susanne Eichner u. a. (Hg.): Transnationale Serienkultur. Theorie, Ästhetik, Narration und Rezeption neuer Fernsehserien. Springer VS, Wiesbaden 2013

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2019: Vom Glück, Verantwortung zu teilen