Cafés: Zuhause und Welt in einem

Eine Tasse Kaffee, ein Stück Kuchen, unzählige Eindrücke: über einen Ort der Inspiration – und der Gelassenheit. Über die Psychologie des Cafés.

Mehrere Menschen sitzten in einem Café und genießen die Atmosphäre
Guter Kaffee, leckerer Kuchen, gemütliche Einrichtung – doch ein Café ist oft mehr als nur ein Ort für einen Cappuccino. © Tom Werner/Getty Images

Im Idealfall fühlt man sich sofort wohl, wenn man ein Café betritt: Gedämpftes Licht, der Geruch von Kaffee, leise Musik, Geschirrklappern, dazu kleine Tischchen und bequeme Sitzmöglichkeiten, Leute, die sich unterhalten oder Zeitung lesen, arbeiten oder aus dem Fenster schauen. Lebensqualität besteht auch darin, wie viele Cafés ein Viertel hat, von denen zumindest eines das Potenzial zum Stammcafé hat.

Der Stil eines Cafés und seines Publikums wird vom Interieur genauso geprägt wie von der Auswahl der…

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und seines Publikums wird vom Interieur genauso geprägt wie von der Auswahl der vorhandenen Zeitungen und Zeitschriften und den Stammkellnern und -kellnerinnen. Cafés sind halböffentliche Orte, Zuhause und Welt in einem. Sie ermöglichen Einblick und Ausblick. Viele haben große Fenster, durch die man die Vorbeieilenden beobachten kann, genauso wie Ecken zum Zurückziehen. Hier findet sich das optimale Verhältnis von Nähe und Distanz.

Raum für Tratsch, Träume und mehr

Ins Restaurant gehen die meisten Menschen nicht gern allein, ins Café schon. Allein ist man hier nie, aber ungestört, wenn man möchte. Cafés sind aber auch soziale Räume: Freundinnen und Freunde, Liebespaare, Kreative treffen sich hier, junge Wilde und ältere Frauen zum Kaffeekränzchen. Sie sind Umschlagpunkte für Informationen, Tratsch und große Ideen. Und sie sind Orte für Kontemplation und Inspiration, je nach individuellem Bedürfnis und Tageszeit.

Viele Freiberuflerinnen finden in Cafés neben Koffein das Grundrauschen, das sie auf optimale Betriebstemperatur bringt. Cafés sind immer auch Orte der Kreativität gewesen, zum Denken und Schreiben, zum Träumen und Sinnieren, ein Geburtsort vieler Projekte. Die perfekte Kombination von Muße und Muse, weil sie eine Atmosphäre der Anregung schaffen und gleichzeitig die Gelassenheit fördern, den Dingen die Zeit zu lassen, die sie benötigen.

In Cafés entstanden neue philosophische Strömungen – Sartre etwa hat fast alle seine Bücher dort geschrieben – ebenso wie Bücher, Artikel, Gedichte und Songs und viele, viele weitere Ideen. Warum sich Cafés so entwickelten, hat verschiedene Gründe, einer davon war pragmatischer Art: Viele Künst­lerinnen und Schriftsteller hatten viel zu kleine Wohnungen, die sie oft nicht heizen konnten. Zur Inspiration durch Gespräche und Atmosphäre, geplante und zufällige Treffen kommt noch die anregende Wirkung des Koffeins, wobei sich beides aufs Beste ergänzt und potenziert.

Koffein hebt die Stimmung und verbessert die mentalen und kognitiven Funktionen; Herzfrequenz, Blutdruck, Motivation und die neuronale Aktivität erhöhen sich. Was jeder dazukombiniert, ist unterschiedlich. Kaffee und Zigaretten, jahrhundertelang prägend, sind aus den Cafés vertrieben worden. Kaffee und Kuchen bleiben erlaubt – eine gelungene Verknüpfung, deren Beliebtheit mit steigendem Alter zunimmt. Trotzdem gibt es weit mehr ikonische Songs und Filme über cigarettes and coffee als über Kaffee und Kuchen.

Spiegel der Kultur

Den ersten Kaffee in Europa gab es 1570 in Venedig, und dort eröffnete 1647 auch das erste europäische Kaffeehaus. Noch heute wird in Europa weltweit am meisten Kaffee getrunken, obwohl er hier nicht angebaut wird. Cafés gibt es in vielen Ländern und Kulturen. In Italien trinkt man morgens klassischerweise den caffè stehend an der Theke, begleitet von einem schnellen cornetto. Es gibt türkische Cafés, in denen überwiegend Männer sitzen, und Pariser Straßencafés, wo der Bereich draußen den in den Innenräumen meist übersteigt. Es gibt die Wiener Kaffeehäuser mit der Selbstverständlichkeit des Glases Wasser zum kleinen Braunen oder die Prager Cafés mit ihren legendären Geschichten.

Das Café verändert sich im Laufe des Tages. Morgens sitzen oft Freunde zum Frühstück da, Einzelne lesen die Morgenzeitung, Freelancerinnen arbeiten am Laptop. Cafés sind auch Plätze, die den Herbst und Winter erträglich machen: kleine Fluchten aus Regen, Kälte und Menschenmassen. Vor allem an diesen spätherbstlichen Samstagmorgen, die sich in Prag, Leipzig oder Paris vermutlich ziemlich ähnlich sind: Draußen ist es schon kühl und den ganzen Tag erheblich dunkler, dafür ist es in den Cafés umso gemütlicher.

Café als Hafen im fremden Land

Städtereisende beschreiben immer wieder die Wichtigkeit von Cafés als Ankerplatz in der Fremde. Wird die Flut der neuen Eindrücke zu groß, werden die vertrauten Koordinaten von Cafés aufgesucht. Dort sitzen viele lange und betrachten das Kommen und Gehen ebenso wie die Menschen vor dem Fenster. Dabei lernen sie mindestens so viel über die Lebenskultur und Lebenswelt des besuchten Ortes wie bei Museums- oder Kirchenbesuchen.

Cafés schaffen einen Raum für Begegnung, für regelmäßige, ungeplante Interaktionen verschiedener Bevölkerungsgruppen genauso wie für das Entstehen sozialer Netzwerke – und sie stärken damit zivile Werte. Von Habermas wurde ihre Bedeutung für die Demokratie diskutiert.

Obwohl Cafés nicht zu den systemrelevanten Orten gezählt wurden, ist ihre Bedeutung für die Schaffung neu­er Ideen und gesellschaftlicher Durch­lässigkeit nicht zu unterschätzen. Gerade in Zeiten, in denen gemeinschaftlicher Zusammenhalt immer mehr verlorengeht, werden Cafés zu wichtigen Orten. In ihrer kleinen Welt spiegelt sich die Kultur im Großen.

Dr. Martina Zschocke ist Professorin für Freizeitpsychologie und Freizeitsoziologie an der Hochschule Zittau/Görlitz. Sie hat in verschiedenen Ländern gelebt und an jedem dieser Orte ein Lieblingscafé.

Quellen:

Sarah Bakewell: Das Café der Existentialisten. Freiheit, Sein & Aprikosencocktails. C.H. Beck, München 2016

Michael D. Cohen u. a.: The role of social maintenance of cooperative regimes. Rationality and Society, 13/ 1, 2001, 5 –32. DOI: 10.1177/104346301013001

Sepp Dreissinger: Im Kaffeehaus. Gespräche/ Fotografien. Album Verlag, Wien 2017

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Martina Zschocke: Mobilität in der Postmoderne. Psychische Komponenten von Reisen und Leben im Ausland. Königshausen und Neumann, Würzburg 2005

Harold G. O. Holck: Effects of caffeine upon chess problem solving. Journal of Comparative Psychology, 15/ 2, 301 –311. DOI: 10.1037/h0075527

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Martina Zschocke: Mobilität in der Postmoderne. Psychische Komponenten von Reisen und Leben im Ausland. Königshausen und Neumann, Würzburg 2005

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2022: Lieber unperfekt