Der Globus des guten Lebens

Psychologie nach Zahlen: Von Afrika bis Arktis – fünf Weltkulturen und was sie unter Wohlbefinden verstehen.

Die Illustration zeigt fünf Menschen aus verschiedenen Weltkulturen, die gemeinsam an einem Tisch sitzen, der die Form eines Smileys hat
© Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Während ihrer Gründungsphase im Jahr 1948 diskutierte die Weltgesundheitsorganisation verschiedene Konzepte rund um das Thema Gesundheit – darunter auch das Wohlbefinden. Dieses umfasse nicht nur eine gute körperliche, sondern auch eine positive seelische Verfassung, so das Fazit damals.

Wohlbefinden herrsche immer dann, wenn der Einzelne seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten ausleben und sich selbst verwirklichen könne. Heute weisen Forschende darauf hin, dass diese Auffassung die westliche, individualistische Kultur widerspiegele – und jeder Kulturkreis im Grunde ein eigenes Konzept des Wohlbefindens be­sitze. Das dokumentieren inzwischen zahlreiche Untersuchungen.

1 China

In den kollektivistischen Kulturen wie der chinesischen steht das Individuum nicht im Mittelpunkt. Auch deshalb ist Selbstverwirklichung für chinesische Befragte keine essenzielle Bedingung für das Wohlbefinden. Dagegen prägt die buddhistische Re­ligion das chinesische Konzept des Wohlgefühls. Der Buddhismus betont sowohl den Verzicht als auch die Selbstkontrolle. So berichten Menschen in China laut Studien, dass Wohlbefinden für sie in einem Gleichgewicht zwischen positiven und negativen Gefühlen liege.

Es sei für das eigene Wohlgefühl wichtig, negativen Gefühlen mit Akzeptanz und Geduld zu begegnen – auch weil der Buddhismus das Streben nach Glück verneint. Die Befragten glaubten, dass glücklich zu sein einen Menschen zum Schlechteren verwandeln kann. So spielen positive Gefühle im chinesischen Kulturraum eine untergeordnete Rolle für das Wohlbefinden. Anders ist das in:

2 Indien

Indiens hinduistisches Verständnis von Wohlbefinden ist unserem westlichen ähnlicher und beinhaltet wie dieses die Verwirklichung des eigenen Potenzials. Dazu gehört dort ein tiefes Bewusstsein für die eigene Persönlichkeit und die eigenen Ziele – und anders als im Westen auch ein bewusster Verzicht auf Oberflächlichkeit und materielle Güter. Wohlbefinden könne nicht durch Hab und Gut erreicht werden. Vielmehr, so die indische Auslegung, müsse es die und der Einzelne in sich selbst suchen. Nur hier sei es zu finden.

3 Afrika

So wie Buddhismus und Hinduismus die asiatischen Auffassungen von Wohlbefinden mitprägen, so spielt Spiritualität eine große Rolle für das Verständnis von Wohlgefühl in vielen afrikanischen Ländern. Dieses Verständnis geht von einer fein wie komplex vernetzten Lebenswirklichkeit aus, in der die sichtbare materielle Welt mit unsichtbaren Welten verbunden ist. Negative Gefühle und Ereignisse können laut afrikanischen Befragten auf ein Ungleichgewicht in dem Zusammenspiel zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren hindeuten.

Viele glauben auch, dass die Vorfahren Einfluss auf das Wohlbefinden nehmen können. So bringen zahlreiche afrikanische Gemeinschaften zu bestimmten Zeiten des Jahres ihren Ahnen besondere Opfer dar, um die eigene Gesundheit und die der Familie zu fördern. Solche und andere Traditionen sowie Rituale haben die Forschung dazu bewogen, das wissenschaftliche Verständnis von Wohlbefinden um Spiritualität und Religion zu erweitern: Beide können einen erheblichen Einfluss auf das Wohlgefühl eines Menschen haben.

Eine Studie förderte weitere afrikanische Elemente von Wohlbefinden zutage: Ein moralisches Leben, Seelenfrieden und glückliche Beziehungen sind den Befragten zufolge ebenfalls wichtig, damit es ihnen subjektiv gutgeht. Doch auch materiellen Erfolg halten sie für relevant. Dieser müsse allerdings im Einklang mit der Natur stehen.

4 Arktis

In einer Untersuchung zu der Lebensweise der kanadischen Inuit kristallisierten sich drei zentrale Bedingungen für ihr Wohlbefinden heraus: die Familie, gute Kommunikation mit den Verwandten und anderen Mitmenschen sowie ein Leben getreu den Traditionen und althergebrachten Werten. Zu diesen Traditionen gehört ein tiefgründiges Verständnis der arktischen Umwelt sowie Fähigkeiten wie das Jagen. Auch der Bau von Werkzeugen und Schneehäusern sowie das Nähen traditioneller Kleidung gehören zu den Traditionen, aus denen die Menschen des hohen Nordens ihr Wohlbefinden schöpfen.

Darüber hinaus wird eine weitere Aktivität immer wieder mit dem Seelenfrieden der Menschen dort in Verbindung gebracht: Zeit mit den Ältesten der Gemeinschaft zu verbringen. Bei den Inuit mit ihrer Kultur der mündlichen Überlieferung besitzen die Ältesten für gewöhnlich das größte Wissen über die Geschichte der jeweiligen Gruppe. Daher gilt der Austausch mit ihnen als identitätsstiftend und stärkend für alle jüngeren Generationen. Das starke Zugehörigkeitsgefühl und der Zusammenhalt sind für das Wohlbefinden der Inuit im kanadisch-arktischen Archipel essenziell.

Ein anderer, weniger wichtiger, jedoch ebenfalls angesprochener Aspekt für das Wohlbefinden in den Polarregionen: das Wetter. Einer Studie zufolge kann Schneefall entspannen und beruhigen und so das seelische Wohlbefinden fördern.

5 Lateinamerika

Wie für die Menschen im hohen Norden sind auch für die Frauen und Männer, die in Lateinamerika leben, die Beziehungen zu ihren Mitmenschen – und besonders zu der eigenen Familie – eine zentrale Quelle des Wohlbefindens. Im Vergleich zur Bevölkerung in den westlichen Staaten hängt das Wohlergehen nach lateinamerikanischer Lesart weniger mit dem Einkommen und der finanziellen Situation zusammen. Monetäre Umstände, die uns im Westen Kopfzerbrechen bereiten würden, haben für die Menschen in Südamerika einen weniger direkten Einfluss auf das Wohlbefinden.

Forschende diskutierten wiederholt den scheinbaren Widerspruch, dass angesichts der relativen Armut der südamerikanischen Länder die Lebenszufriedenheit dortiger Menschen unerwartet hoch sei. Womöglich, so eine Erklärung, ist die gemeinschaftliche Orientierung entscheidend: Die Familie, ebenso ferne Verwandtschaft und Freunde bilden für die Menschen von Kolumbien bis Chile ein festes Sicherheitsnetz und bieten zuverlässige Unterstützung, auf die sich die und der Einzelne verlassen kann – selbst in großer materieller Not.

So fördern die starken sozialen Bindungen das Wohlbefinden. Dabei wird, wie Forscher und Forscherinnen dokumentierten, reziprok gehandelt: Man hilft sich gegenseitig im kleinen wie im großen Rahmen.

Renato D. Alarcón: Defining Wellness across World Cultures In: The Cambridge Handbook of Community Psychology, Cambridge University Press 2021

Mohsen Joshanloo u.a.: Four Fundamental Distinctions in Conceptions Of Wellbeing Across Cultures. The Palgrave Handbook of Positive Education, 2021. DOI: 10.1007/978-3-030-64537-3_26

Annabella Osei-Tutu u.a.: Cultural Models of Well-Being Implicit in Four Ghanaian Languages. Frontiers in psychology, 2020. DOI: 10.3389/fpsyg.2020.01798

Pablo Beytía: The Efficiency of Subjective Well-Being: A Key of Latin American Development. Social Science Research Network, 2017

Michael J. Kral u.a.: Unikkaartuit: Meanings of Well-Being, Unhappiness, Health, and Community Change Among Inuit in Nunavut, Canada. American Journal of Community Psychology, 2011.DOI: 10.1007/s10464-011-9431-4

Kiran Kumar K. Salagame: Well-being from the Hindu/Santana Dharma Perspective. Oxford Handbook of Happiness, 2013. DOI: 10.1093/oxfordhb/9780199557257.013.0029

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2022: Das Tempo der Liebe
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