Mit der Bedeutung des Worts Gemütlichkeit kennt Tim Lomas sich aus. Es werde im Englischen meistens mit coziness übersetzt, das sei jedoch eine zu enge Übertragung, die dem Wortgehalt nicht gerecht werde, schreibt er in seinem Buch Translating Happiness: „Im Wort Gemütlichkeit klingen auch Freundlichkeit, Beseeltheit und innerer Frieden mit. Es wird deshalb oft benutzt, um eine warme soziale Atmosphäre zu beschreiben, die ein Zugehörigkeitsgefühl aufkommen lässt.“ Auch „Sehnsucht" und „Fernweh“ erläutert er…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
zu beschreiben, die ein Zugehörigkeitsgefühl aufkommen lässt.“ Auch „Sehnsucht" und „Fernweh“ erläutert er nuanciert, obwohl er kein Deutsch spricht.
Warum ist ein Psychologe so versiert darin, Wörter in einer für ihn fremden Sprache zu entschlüsseln? Vor rund sieben Jahren hat sich der Brite darangemacht, ein „multikulturelles Lexikon des Wohlbefindens“ zu erstellen. Sein Ansatz hat sich als sehr fruchtbar herausgestellt: Lomas sucht in den Sprachen dieser Welt nach Begriffen, die Aspekte von Glück, Zufriedenheit und Wohlbefinden beschreiben. Aber er ist nicht an x-beliebigen Wörtern interessiert, sondern nur an solchen, die unübersetzbar sind. Damit ist gemeint, dass es keine exakte Entsprechung im Englischen dafür gibt. Fast 2000 solcher Wörter hat er bis heute zusammengetragen.
Empfindungen, für die man bisher kein Wort hatte
An seiner Sammlung lässt er auch andere teilhaben. So hat er mehrere Bücher verfasst, von eher akademisch bis vergnüglich, in denen er Wörter des Glücks aus aller Welt und den Hintergrund seiner Arbeit vorstellt. Man findet die deutsche Vokabel Gemütlichkeit, aber auch den niederländischen Ausdruck uitbuiken, was so viel bedeutet wie die einschläfernde Befriedigung eines vollen Magens. Oder das kreolische bazodee, eine Art benommene, verwirrte oder traumartige Freude.
Man findet das japanische mono no aware (von der Vergänglichkeit des Lebens ergriffen sein und sie wertschätzen), das isländische solarfri (die Freude unerwarteter Freiheit, etwa wenn Schüler hitzefrei bekommen) und das von den alaskischen Inupiaq verwendete quarrtsiluni (im Dunkeln zusammensitzen und darauf warten, dass etwas Bedeutsames passiert).
Es macht Spaß, in Lomas Wörterbüchern zu stöbern. Man findet vertraute Empfindungen, für die man bislang kein spezifisches Wort kannte, aber auch Gefühle, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt.
Was ist das für ein Mensch, der solche Wörter sammelt und sie zum Forschungsgegenstand erkoren hat? Ich besuche Tim Lomas in Seattle, wo er seit drei Jahren lebt. Pandemiebedingt führen wir das Interview draußen und hoffen, dass es nicht (wie in Seattle häufig) plötzlich anfängt zu regnen. Er kennt das von England. Wir machen es uns mit Tee auf der Holzterrasse des Einfamilienhauses bequem, in dem er mit seiner Frau Kate, einer amerikanischen Malariaforscherin, und der 2021 geborenen Tochter wohnt. Das unprätentiöse Backsteingebäude mit Giebeldach und großzügigem Garten liegt in einer ruhigen Straße in einem Stadtteil im Grünen.
Musiker, Lehrer und Pfleger
Bevor das Forscherpaar an die amerikanische Pazifikküste zog, lebten die beiden im britischen Oxford. Doch dann bot ein Forschungsinstitut seiner Frau eine Stelle in Seattle an. Kate, die ursprünglich aus Chicago kommt, zog es zurück in die USA, und Lomas stimmte zu – gerne, wie er sagt.
Der Umzug verlief allerdings nicht wie gedacht, erzählt der Wissenschaftler. Geplant war, dass seine Frau zuerst umziehen sollte, während sein Aufenthaltsantrag von den Behörden bearbeitet wurde. Aber kurz nachdem Lomas im März 2020 zu einem Besuch in Seattle angekommen war, wurde dort ein Coronalockdown angeordnet. Reise- und Arbeitsbeschränkungen traten in Kraft; eine Zeit des Wartens und Umplanens begann. Schlussendlich trat er im Dezember 2021 dem Human Flourishing Program der Harvard University als forschender Psychologe bei. Dort erforscht ein interdisziplinäres Team all die Lebensaspekte, die mit Wohlbefinden und menschlichem Gedeihen verknüpft sind, etwa Werte, Ziele, Sinn oder religiöse Einbindung. Harvard liegt zwar weit entfernt in Boston an der gegenüberliegenden Ostküste, doch Lomas arbeitet nun hauptsächlich von zu Hause in Seattle aus.
Die Zeit der Umsiedlung war nicht einfach, sagt Lomas. Doch kühne Unternehmungen sind ihm nicht fremd. Vor seiner Forschungskarriere war er Profimusiker in einer Ska-Band und arbeitete zudem als Pflegehelfer in der geschlossenen Psychiatrie. Sein größtes Abenteuer aber erlebte er als Englischlehrer in China. Da war er erst 19 Jahre alt.
Respekt im Fußballteam, doch Schikanen in der Schule
Aufgewachsen ist Tim Lomas in London. Seine Eltern beschreibt er als kreative und unkonventionelle Menschen: „Beide kamen aus dem Arbeitermilieu, hatten aber eine berufliche Heimat am College gefunden, wo sie 16- bis 18-jährige Schüler und Schülerinnen unterrichteten. Mein Vater lehrte Mathe und Computerwissenschaften, meine Mutter Englisch und Deutsch.“ Vom Vater habe er die Liebe zur Musik geerbt, erzählt Lomas. „Dad ist in Liverpool groß geworden und spielte in seiner Jugend im Cavern Club, in dem auch die Beatles auftraten.“ Für Malerei und Architektur habe sich der Vater ebenfalls sehr interessiert. Seine Mutter wiederum habe immer eine Leidenschaft für Reisen gehegt – aber auch für Politik. Mit ihr sei er als Kind auf Protestmärsche gegangen, um beispielsweise für nukleare Abrüstung zu demonstrieren.
„Beide Eltern haben mich immer sehr unterstützt“, sagt Lomas. Auch die Beziehung zu seinen Geschwistern, einem drei Jahre jüngeren Bruder und einer acht Jahre jüngeren Schwester, beschreibt er als harmonisch. An seiner Schule in London dagegen habe ein rauer Ton geherrscht, und er habe sich gegen bullies wehren müssen. „Als Mitglied des Fußballteams der Schule genoss ich eine gewisse Reputation. Aber weil ich ein guter Schüler war und gerne lernte, wurde ich von anderen manchmal ganz schön drangsaliert.“
Vom mühsamen Verstehen einer Kultur
Mit sechs fing er an, Klavier zu spielen, erst Klassik, dann Blues. Mit 13 gründete er seine erste Band. Er liebte es, auf der Bühne zu stehen, aber genoss es auch, ganz für sich Songs zu schreiben. Seine damaligen Freunde hätten ihn wohl als einen weltfremden Träumer beschrieben, der dazu neigte, gedankenverloren in den falschen Bus einzusteigen, erzählt Lomas amüsiert. Umso überraschter waren sie, als ihr verträumter Freund nach dem Schulabschluss ein paar Bücher und Musikkassetten einpackte und um den halben Globus nach China zog. Dort unterrichtete Lomas im Rahmen eines Programms für Schulabsolventen sechs Monate lang chinesische Jugendliche in Englisch. Auch für ausgiebige Reisen im Gastland blieb Zeit.
Das Eintauchen in die chinesische Kultur stellte sich für den damals 19-Jährigen als lebensverändernd heraus. Die Reise habe seinen Horizont gesprengt, erinnert sich Tim Lomas, „körperlich, emotional und mental. Ich begegnete fremden Menschen und Orten. Jeder Tag war gefüllt mit neuen Gerüchen, merkwürdigen Ritualen und ungewohnten Geräuschen. Vor allem aber stolperte ich über Ideen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Konzepte wie Tao, Nirwana und Yin-Yang faszinierten mich ohne Ende.“
Er pilgerte wochenlang durch das große Land. Besonders fühlte er sich zu den taoistischen und buddhistischen Klöstern hingezogen. Er verbrachte viel Zeit damit, die für ihn geheimnisvollen Regeln und Gebräuche dort zu ergründen – was ihm nicht wirklich gelang. „Ich konnte die Bedeutung von Nirwana und anderen Konzepten, die für die Menschen dort zutiefst bedeutsam schienen, nicht ganz verstehen. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass manche Vorstellungen und Praktiken aus anderen Kulturen sich mir nicht ohne weiteres erschließen.“
Die Leerstelle westlicher Psychologie füllen
Nach sechs bewegten Monaten in China kehrte er in die Heimat zurück und begann an der Universität von Edinburgh Psychologie zu studieren. Zwar habe er das Fach faszinierend gefunden und eine Vielzahl an interessanten Ansätzen kennengelernt, erzählt er. „Aber den Konzepten, denen ich in China begegnet war, brachte mich das Studium nicht näher. Nehmen Sie den Begriff Nirwana. In einem Lehrbuch der westlichen Psychologie findet man meist noch nicht mal einen flüchtigen Hinweis darauf, geschweige denn eine tiefergehende Analyse. Warum ist das so, fragte ich mich. Schließlich gilt dieser Zustand in zahlreichen Kulturen als Höhepunkt der menschlichen Entwicklung. Für die Psychologie konnte er doch nicht unwichtig sein. Die akademische Psychologie, die ich lernte, schien mir zumindest unvollständig zu sein.“
In seinem dritten Jahr an der Universität rückte erst mal ein anderes Thema in den Mittelpunkt: eine Profikarriere als Leadsänger und Gitarrist. Seine Band Big Hand schien vor dem Durchbruch zu stehen und er war drauf und dran, das Studium abzubrechen. Dank des Zuspruchs seiner Eltern blieb er dann doch dabei. Aber als er ein Jahr später das Diplom in der Tasche hatte, machte er ernst mit der Musik. Die nächsten fünf Jahre widmete er sich fast ganz seiner Ska-Band, spielte „energievolle Reggaemusik, die die Leute auf die Tanzfläche treibt“.
Ganz ließ er die Psychologie jedoch nicht fallen. Weil er zusätzlich zu den Gagen Geld verdienen musste, suchte er sich einen Job als Pflegehelfer in der Psychiatrie. Seine Tage hatten damals einen merkwürdigen Rhythmus, der sich zwischen Extremen bewegte: „Oft arbeitete ich nachmittags in der Klinik, wo ich all das Leid und die Schmerzen erlebte, die die geschlossene Psychiatrie mit sich bringt. Und abends stand ich dann auf der Bühne und machte Partymusik.“
Das Traumprojekt
Es waren abwechslungsreiche Jahre und seine Band hatte durchaus Erfolg. Aber Lomas war klar, dass eine längerfristige Karriere in der Musik äußerst schwierig würde. Auf Dauer würde er einen „richtigen Beruf“ finden müssen. Er bewarb sich auf mehrere Promotionsstellen in der klinischen Psychologie, aber bekam nur Absagen: viele Bewerbungen auf wenige Stellen. Eine gewisse Verzweiflung machte sich bei ihm breit. „Ich war mittlerweile Ende 20 und sah, wie Freundinnen und Freunde Karriere machten, Häuser bauten und Familien gründeten. Ich dagegen arbeitete immer noch als Pflegehelfer zum Mindestlohn. Ich fürchtete schon, mein beruflicher Zug sei abgefahren.“
Doch dann tat sich eine Option auf, die wie für ihn gemacht schien: Er konnte in London als Doktorand bei einem Forschungsprojekt einsteigen, das die Wirkung von Meditation auf die mentale Gesundheit speziell von Männern untersuchte. Es war ein Traumprojekt, wie er heute sagt. Nach der Rückkehr aus China hatte er sich intensiv mit Buddhismus befasst und begonnen, regelmäßig zu meditieren. Nun schloss er sich einem buddhistischen Zentrum in London an und befragte dort Männer in ausführlichen Interviews über ihre Meditationspraxis.
Zudem entdeckte er durch seine Doktorarbeit die positive Psychologie, ein damals noch neues Feld, in dem er sich gleich zu Hause fühlte. Im Jahr 2012 schloss er seine Promotion ab und nahm bald darauf einen Lehrauftrag an der University of East London an. In den nächsten Jahren befasste er sich mit der „Psychologie des guten Lebens“, also mit den Wegen zu Wohlbefinden und einem erfüllten Dasein, und führte Studierende in diesen aufstrebenden Zweig seines Fachs ein.
Sisu, sagt der Finne
In der Wissenschaft entstehen oft die interessantesten Arbeiten, wenn jemand Fragestellungen aus unterschiedlichen Bereichen kombiniert. In diese Kategorie lässt sich auch Tim Lomas’ Forschung einordnen. 2015 fügten sich die für ihn so wichtigen Themen Kulturunterschiede und positive Psychologie auf einmal wie Puzzlesteine zusammen.
In jenem Jahr nahm der Forscher an einer Konferenz der International Positive Psychology Association teil und hörte einen Vortrag der Forscherin Emilia Lahti, der ihn nicht mehr losließ. Die Finnin referierte über das Konzept von Sisu, das sie als eine Form außergewöhnlichen Mutes und Entschlossenheit angesichts von Widrigkeiten beschrieb (siehe Interview mit Emilia Lahti). Sisu, erklärte Lahti, sei zentral für die finnische Identität und Kultur. Aber potenziell, spekulierte die Forscherin, seien alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft in der Lage, diese Art von Mut und Entschlossenheit aufzubringen, selbst wenn ihrer eigenen Sprache ein spezifischer Begriff fehle, um diese Haltung zu bezeichnen.
Zurück in London besuchte Lomas seine Eltern und seine Mutter fragte nach der Konferenz. Mit viel Enthusiasmus erzählte er ihr vom Begriff Sisu und der Tatsache, dass es in der englischen Sprache dafür keine exakte Entsprechung gebe. Gemeinsam überlegten sie, dass man wohl in den meisten Sprachen ähnlich unübersetzbare Wörter finde. Diese haben mit ganz besonderen Erlebniszuständen zu tun, für die es in anderen Sprachen keinen treffenden Ausdruck gibt. Manche dieser Wörter bezeichnen Momente des Wohlbefindens und Glücks.
Ein interkulturelles Wörterbuch des Wohlbefindes
Das Gespräch sei so etwas wie eine Erleuchtung für ihn gewesen, erinnert er sich. Mutter und Sohn brachten eine Weile damit zu, Beispiele aus den ihnen bekannten Sprachen – Französisch, Deutsch, Arabisch, Sanskrit – zu finden, und „irgendwann kam mir der Gedanke, dass es ein vielversprechendes Projekt sein könnte, möglichst viele unübersetzbare Wörter zusammenzutragen – nicht als Sammlung kurios klingender Begriffe, sondern auf respektvolle Weise, die dem Reichtum der Begriffe und der Kulturen, die sie hervorgebracht haben, gerecht wird“. Und das Ganze angesiedelt in dem Themenbereich der positiven Psychologie – die Idee einer interkulturellen Lexikografie des Wohlbefindens war geboren.
Lomas war klar, dass er eine globale Wortsammlung nicht allein würde stemmen können, sondern Unterstützung von Menschen aus vielen Sprachräumen und Kulturen benötigte. Doch wie könnte ein solches Projekt in Gang kommen? Es bräuchte einen Anstoß. Der Psychologe führte eine erste Suche nach relevanten Wörtern durch, indem er einschlägige Blogs und Websites besuchte und sich durch wissenschaftliche Quellen arbeitete. Dies ergab eine Ausbeute von 216 Wörtern, die Lomas analysierte und in thematische Cluster gruppierte. Im Jahr 2016 veröffentlichte er die Ergebnisse im Journal of Positive Psychology. Parallel dazu kreierte er eine Website – „keine einfache Aufgabe für einen Anfänger wie mich“ –, die als Plattform für das hoffentlich bald wachsende Lexikon dienen sollte.
Ziemlich bald begann sich die Wirkung zu zeigen, auf die Lomas gehofft hatte. Fachkolleginnen und -kollegen nahmen von seiner Unternehmung Notiz und Medien wie der New Yorker und Scientific American berichteten darüber. Dies erzeugte den Funken, den das Projekt brauchte. Menschen aus aller Welt besuchten Lomas’ Website, trugen ihm unübersetzbare Begriffe aus ihren Sprachen zu und machten Vorschläge, wie man die bereits aufgelisteten Definitionen verfeinern könnte.
Sprache als Abbild der Welt
Bis heute sei die Sammlung auf knapp 2000 Einträge angewachsen, erzählt Lomas mit einem gewissen Stolz, fügt aber sogleich hinzu, dass es noch viel Raum für Wachstum gebe. „Die Liste enthält derzeit Wörter aus etwa 150 Sprachen. Das ist nur ein winziger Teil der rund 7000 Sprachen, die heute auf der Welt gesprochen werden. Und dazu kommen noch regionale Dialekte und Sprachen von Subkulturen. Dennoch sehe ich es als vielversprechenden Start an und bin überzeugt, dass die Lexikografie des guten Lebens großes Potenzial hat.“
Lexikografie – das Erstellen von Wörterbüchern – ist ein Begriff, der bei Lomas oft fällt. Ebenso häufig greift der Forscher auf den Begriff Kartografie – das Erstellen von Karten – zurück. So bezeichnet er seinen Ansatz als Kartografie der Erfahrungswelt. Warum spielen Karten in seinem Konzept eine so große Rolle, will ich wissen. „Ich fand die Idee, dass man Sprachen als Karten verstehen kann, immer sehr einleuchtend“, sagt er. „Diese Idee gibt es schon seit Jahrhunderten. Danach besteht eine Funktion von Sprache darin, die äußere Welt und unsere innere Welt der Gedanken und Gefühle abzubilden. So ermöglicht uns Sprache, durch unsere Erfahrungswelt zu navigieren und unseren Standort zu bestimmen, ähnlich wie eine Landkarte.“
Die Metapher der Karte findet Lomas auch deshalb hilfreich, weil man mit ihrer Hilfe gut veranschaulichen kann, wie unübersetzbare Wörter entstehen. „Karten teilen die Komplexität der Welt in eine Vielzahl von überschaubaren Stücken, die voneinander abgegrenzt sind“, erklärt er. „Während Landkarten die Erde in Länder und Regionen aufteilen, zergliedert Sprache die Welt in verbale Parzellen. Doch wie die Grenzen gezogen werden, ist in gewissem Maße willkürlich und eine Frage der sozialen Konvention. Unübersetzbare Wörter treten dann auf, wenn Sprachen bestimmte Erfahrungen unterschiedlich aufteilen.“
Die feinen Unterschiede
Ein Wort könne beispielsweise unübersetzbar sein, erklärt der Psychologe, wenn eine Sprache eine menschliche Erfahrung einem sehr großen Sektor zuordnet, während eine andere Sprache diese Erfahrung in viele kleine Bereiche aufteilt. „Nehmen Sie die Liebe. Im Englischen umfasst das Wort love ein großes Spektrum von Gefühlen, Beziehungen und Erfahrungen. Andere Sprachen aber haben verschiedene Wörter für spezifische Arten von Liebe.
Altgriechisch beispielsweise teilt das Terrain der Liebe in sehr detaillierte Regionen auf, vom sinnlich-leidenschaftlichen érs bis zum wohlwollend-mitfühlenden agáp. Diese Wörter bezeichnen jeweils einen Bereich der menschlichen Erfahrungswelt, der im Englischen nicht extra abgegrenzt ist. Man kann die Begriffe mit Liebe übersetzen, aber eigentlich ist das zu grob, um ihre Nuancen wiederzugeben. In diesem Sinne sind sie im Englischen unübersetzbar.“
Lomas hat sich in Fahrt geredet. An sich ist er ein zurückhaltender Typ, der mit sanfter und eher leiser Stimme spricht. Doch nun, während unseres angeregten Gesprächs, zerrupft er ein Papiertaschentuch in den Händen, offenbar ohne es zu merken.
Gefühle klarer benennen können
Welche Ziele er mit dem Lexikon des guten Lebens verfolge, frage ich ihn. Zunächst einmal hoffe er, mit seiner Arbeit die Wertschätzung für andere Kulturen zu fördern, sowohl in der akademischen Psychologie als auch in der Gesellschaft überhaupt, sagt er: „Die Lexikografie mit ihren vielen fremden Begriffen zeigt auf, wie unterschiedlich Menschen in verschiedenen Kulturen denken und fühlen. Gleichzeitig soll das Lexikon aber auch vor Augen führen, dass Menschen in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich sind. Deshalb versuche ich, die unübersetzbaren Begriffe in thematische Kapitel wie Zufriedenheit, Liebe und Spiritualität einzuordnen, Erfahrungen, die wir alle teilen. Die Aspekte Pluralismus und Universalität gleichzeitig im Auge zu behalten ist sehr wichtig, das ist mir während meiner Zeit in China klargeworden. Dazu kann die Lexikografie enorm beitragen.“
Lomas verfolgt noch ein zweites Ziel: Ganz im Geiste der positiven Psychologie will er mit seinen Wörterbüchern das emotionale Leben von Menschen bereichern: „Unübersetzbare Wörter ermöglichen uns, Empfindungen klarer zu benennen, die wir bislang zwar verschwommen erlebt haben, aber nicht so richtig in Worte fassen konnten. Das deutsche Wort Schadenfreude beispielsweise hat vermutlich Eingang in die englische Sprache gefunden, weil auch wir dieses Gefühl kennen, aber keinen Begriff dafür haben. Unübersetzbare Wörter können uns sogar mit Empfindungen bekanntmachen, die uns zuvor verborgen waren und von denen wir noch nicht mal vermutet hatten, dass sie existieren. Solche Wörter erweitern unseren Horizont und führen uns in ganz neue Welten.“
Auf zu neuen Abenteuern
Diese fremden Welten zu kartografieren, damit wird Tim Lomas wohl noch eine ganze Weile beschäftigt sein.
Das multikulturelle Lexikon empfinde er als einmaliges Projekt, wie man es wohl nur einmal im Leben finde, sagt der 42-jährige Wissenschaftler, setzt aber sogleich hinzu, dass es ihn auch zu ganz anderen Arbeiten zieht.
So hat er kürzlich einen Fachartikel verfasst, der nichtmenschliche Formen von Bewusstsein und Wohlbefinden thematisiert und sich auch mit Außerirdischen und Ultrairdischen („Wesen jenseits unserer konventionellen Perspektive auf Raum und Zeit“) befasst. „Meine Frau sagt immer, ich solle darüber lieber nicht reden, aber die Vorstellung, dass es Ufos geben könnte, fasziniert mich sehr“, verrät er. „Einige Themen, die außerhalb der üblichen Pfade liegen, ziehen mich wirklich an. In Zukunft möchte ich das gerne weiterverfolgen und schauen, wohin es mich führt.“ Die Abenteuer, so scheint es, gehen Lomas so bald nicht aus.
4 Bücher von Tim Lomas
Translating Happiness: A Cross-Cultural Lexicon of Well-Being
Die Auseinandersetzung mit unübersetzbaren Wörtern kann unser Verständnis für andere Kulturen fördern und unser eigenes Wohlbefinden bereichern. So das zentrale Argument des Buches. Lomas untersucht 400 Wörter aus 80 Sprachen, ordnet sie thematisch ein und entwickelt einen theoretischen Rahmen, der die vielfältigen Dimensionen des Wohlbefindens beleuchtet und den Verbindungen zwischen ihnen nachspürt. Das akademischste seiner Bücher zur Lexikografie des Wohlbefindens. MIT Press
The Happiness Dictionary
Vom Inhalt ähnlich wie Translating Happiness, aber weniger theoretisch. Dafür nimmt die Darstellung der 400 Wörter einen größeren Raum ein. Lomas gliedert sie in neun Kapitel mit ansteigender Ambition: Zufriedenheit, Freude, Liebe, Verbundenheit, Würdigung, Ambivalenz, Verstehen, Spiritualität, Charakter. Piatkus
Happiness Found in Translation. A Glossary of Joy from Around the World (zusammen mit der Illustratorin Annika Huett)
Eine liebevoll bebilderte Version des Lexikons des Glücks, in dem Lomas eine Auswahl von 100 unübersetzbaren Wörtern vorstellt, die besonders faszinierend und anschaulich sind. Ein Geschenkbuch für Menschen, die sich an Sprachen erfreuen – und an der Freude selbst. TarcherPerigree
Happiness
Ein Überblick über unser Verständnis von Glück. Lomas stützt sich auf eine Vielzahl von Disziplinen, von Psychologie, Philosophie und Soziologie bis hin zu Wirtschaftswissenschaften und der Anthropologie. Er erläutert Konzepte der positiven Psychologie, des Buddhismus und der griechischen Philosophie wie Aristoteles’ Unterscheidung zwischen hedonistischem und eudämonistischem Glück. MIT Press
Das Porträt
In unserer Serie erschienen zuletzt:
Ralf T. Vogel – Der Vielseitige (Heft 12/2022)
Ulrike Ehlert – Die Stressforscherin (Heft 8/2022)
Steven Hayes – Der Mann, der sich der Angst stellte (Heft 5/2022)
Angela Friederici – Die Frau an der Schnittstelle (Heft 2/2022)
James Pennebaker – Der Schriftgelehrte (Heft 11/2021)
Susan Fiske – Die Forscherin, die Stereotype entschlüsselt (Heft 8/2021)
Wolfgang Schmidbauer – Der hilfreiche Helfer (Heft 5/2021)
Gerd Gigerenzer – Der Meister der klaren Entscheidung (Heft 1/2021)
Frans de Waal – Der Beobachter (Heft 11/2020)
Kate Sweeny – Die Sorgenbändigerin (Heft 8/2020)
Ursula Staudinger – Die Gründerin (Heft 5/2020)