Der Schriftgelehrte

James Pennebaker erforschte, warum uns Schreiben entlastet. Und vieles mehr. Seine Frau nennt ihn „Mad Scientist“. Porträt eines Umtriebigen.

Der Professor und Psychologe, James Pennebaker, sitzt an seinem Schreibtisch und macht Notizen, daneben steht eine Lampe
Psychologieprofessor James Pennebaker sieht es als Geschenk, wenn das Gegenteil von dem herauskommt, was er erwartet hat. © Kenny Braun

Eines Abends erzählte James Pennebaker seiner Frau Ruth von einer neuen Idee: Power-Trauern. „Stell dir das vor. Du könntest dich in Trauer versenken, dich von ihr ganz überwältigen lassen und sie so durcharbeiten. Es müsste vielleicht nicht so lange dauern, um über einen Verlust hinwegzukommen und sich besser zu fühlen.“

Power-Trauern? In dem Moment, als sie den Begriff hörte, habe sie ihn gehasst, erinnerte sich Ruth Pennebaker kürzlich in einem Blog. Die Bemerkung ihres Mannes brachte sie auf die Palme.…

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erinnerte sich Ruth Pennebaker kürzlich in einem Blog. Die Bemerkung ihres Mannes brachte sie auf die Palme. „Das ist die lächerlichste Idee, die ich je in meinem Leben gehört habe. Du kannst Trauer nicht kontrollieren! Trauer kontrolliert dich“, habe sie zu ihm gesagt.

Und typisch James Pennebaker: Ihre Reaktion habe ihrem Mann gefallen. Er habe es schon immer genossen, mit seinen wilden Ideen die Leute aus der Fassung zu bringen, vor allem sie. „Überleg doch mal“, habe er gesagt, „eine frisch verwitwete Frau könnte nach zwei Wochen wieder auf ein Date gehen.“ Das brachte sie noch mehr auf: „Das ist eine abscheuliche Idee! Ein Sakrileg! Hör auf!“

35 Jahre ist dieser hitzige Wortwechsel her. Aus der Idee des Power-Trauerns sei niemals etwas geworden, wie sie es vorhergesagt habe, schreibt Ruth. „Aber viele andere Einfälle meines Mannes waren sehr erfolgreich.“

Von skurrilen Geistesblitz zu wissenschaftlichen Konzepten

In der Tat hat der amerikanische Psychologieprofessor James W. Pennebaker in den letzten vier Jahrzehnten wegweisende Arbeiten hervorgebracht, die um die Themen Gesundheit, Trauma, Emotionen und Sprache kreisen. Gerade wurde er dafür mit dem William-James-Preis der Association for Psychological Science ausgezeichnet. Pennebaker gilt als Pionier der Schreibtherapie. Und es war nicht seine einzige wegweisende Idee.

Wie werden aus bisweilen skurrilen Geistesblitzen ernsthafte wissenschaftliche Konzepte? Um dies herauszufinden, besuche ich ihn in Austin, wo er seit fast 25 Jahren an der Universität von Texas lehrt. Irgendwie passt das. Die Stadt am Colorado River beschreibt sich selbst gerne als weird (schräg). Austin ist für seine Livemusikszene bekannt und gilt als neues Drehkreuz der IT-Branche. Pennebaker wohnt mit seiner Frau in einem zentral gelegenen Viertel, wo alte Lagerhäuser, die heute Bars und Restaurants beherbergen, neben modernen Büro- und Wohntürmen stehen.

Ich betrete ein schickes Apartmentgebäude direkt am Fluss, das den Namen Four Seasons trägt. „Hi. How are you?“, begrüßt mich Pennebaker an der Wohnungstür im sechsten Stock. Auch seine Frau ist da und wir plaudern darüber, wie es ist, nach den langen Pandemiemonaten wieder Menschen zu treffen. Dann zieht sich Ruth ins Homeoffice zurück und ihr Mann und ich nehmen im lichtgefüllten Wohnzimmer Platz, das einen weiten Blick über das dicht bewachsene Ufer des Colorado erlaubt.

Fortwährende Neugier

Der Forscher hat eine schmale Statur und trägt Hemd und Jeans. Wenn der 71-Jährige lächelt, ziehen sich seine gebräunten Wangen und seine Augenwinkel zu einem Netz aus freundlichen Falten zusammen. Pennebaker hat etwas Leichtes, Spielerisches an sich. Während der Pandemie habe er angefangen, Ukulele zu spielen, erzählt er. Er habe sogar einen eigenen Song geschrieben, den er bald in einer Zwei-Mann-Band aufführen wird.

„Mein Mann hatte immer Ideen, viele Ideen“, schreibt Ruth Pennebaker in ihrem Blog. „Er ist unermüdlich neugierig und bereit, jede Theorie zu verfolgen, die ihn fasziniert, auch wenn sie noch so verrückt erscheint.“ Ob er sich in dieser Beschreibung wiederfindet, frage ich den Forscher, der im Gespräch seriös und überhaupt nicht crazy wirkt. „Absolut“, sagt er. „Ich sehe überall Ideen und springe von einer zur nächsten und zur übernächsten. Und dann schaue ich, ob ich sie nicht zu etwas Größerem zusammenfügen kann.“

Herangehensweise mit Hindernissen

Verzettelt man sich da nicht? Es habe sicher seine Schattenseiten, räumt er ein. „Manche argumentieren, dass eine akademische Karriere am besten verläuft, wenn sie systematisch und geordnet ist. Man darf sich nicht ablenken lassen, sagen sie, sondern muss eine Idee zu Ende führen. Das ist gut und schön. Aber es ist nicht meine Art.“

Er gibt zu, dass seine Herangehensweise am Anfang seiner Laufbahn ein Hindernis war: „Andere Doktoranden, die die Forschung ihrer Betreuer fortsetzten, bekamen früher als ich Stipendien und feste Positionen, weil sie die vorhandenen Netzwerke nutzen konnten. Ich dagegen fing mit meinen Themen oft bei null an. Das hat wohl dazu beigetragen, dass ich zunächst keine feste Professur bekam. In späteren Jahren war die Tatsache, dass ich meine eigenen Ideen verfolgte – und viele davon –, dann aber sehr vorteilhaft.“

Ein Leben wie Tom Sawyer

Die Welt als spannenden Ort anzusehen, das habe er von seinen Eltern geerbt, sagt er. Die Familie wohnte in Midland, einer größeren Stadt im Westen von Texas, in der die Ölindustrie das Leben bestimmte. Der Vater, ein Jurist, arbeitete für den Shell-Konzern. „Er war sehr erfinderisch und interessierte sich für alles Mögliche.“ Seine Mutter habe eine schauspielerische Ader gehabt, die sie bei Theateraufführungen in der Gemeinde auslebte. „Sie war sehr kontaktfreudig und packte das Leben mit einem Gefühl der Freude an.“

Im Laufe des Gesprächs wird allerdings klar, dass die Mutter ambivalentere Züge hatte. Sie habe stark geraucht und über die Jahre mehr und mehr Alkohol getrunken, worüber in der Familie praktisch nicht gesprochen worden sei: „Ihr Vater ist gestorben, als sie sieben Jahre alt war, und dies hat sie wohl sehr geprägt.“

Der Erziehungsstil seiner Eltern war „laissez faire“, wie Pennebaker es beschreibt. Jamie, wie er noch heute von allen genannt wird, war der Älteste von drei Geschwistern. Seine Freunde und er führten „eine Art Tom-Sawyer-Leben“. Sie liebten Streiche. Einmal packten sie eine faulende Krebsschere nett ein und platzierten das Paket an der Straße. Dann beobachteten sie aus einem Versteck im Gebüsch, wie Vorbeikommende das vermeintliche Geschenk einsackten und dabei gleichzeitig erfreut und schuldbewusst dreinblickten.

Sie nennt ihn "den verrückten Wissenschaftler"

In der Highschool-Band, in der er Klarinette spielte, lernte Jamie Ruth kennen. „Damals mochten wir uns nicht besonders“, erzählt er. „Aber kurz nach dem Schulabschluss schickte mich ein Freund auf ein Blind Date mit ihr. Er hatte das ausgeheckt, um mich ein bisschen zu ärgern – aber dann stellte sich heraus, dass Ruth und ich viel gemeinsam hatten.“ Mittlerweile ist das Paar fast 50 Jahre verheiratet. Er mag es, wenn sie in ihrer humorvoll überspitzten Art über ihn, „den verrückten Wissenschaftler“ schreibt, gesteht er: „Meistens jedenfalls. Es befriedigt meinen inneren Narzissten.“

Nach der Highschool schrieb er sich an der Universität von Arizona in Tucson für Musik ein, belegte aber auch Kurse in Mathematik, Philosophie, Anthropologie und Soziologie. Dass Psychologie interessant sein könnte, sei ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, erzählt er – bis ihm nach zweieinhalb Jahren eine psychologische Einführung in die Hände fiel. „Ich las das Buch von vorne bis hinten durch und mir wurde klar, dass Psychologie das richtige Fach für mich war, denn es beinhaltete alles, was mich interessierte: mathematisches und naturwissenschaftliches Denken, soziale Fragen, Geschichte und Kultur. Außerdem bestanden viele Studien damals darin, Leute in die Irre zu führen. Das sprach mich sehr an“, sagt der Tom Sawyer aus Texas und lacht.

Zusammen mit Ruth wechselte er an ein College in Florida und stürzte sich in Skinners Behaviorismus, Sozialpsychologie und insbesondere physiologische Psychologie. „Es war das erste Mal, dass ich in die Bibliothek ging, um Sachen zu lesen, die über den Vorlesungsstoff hinausgingen.“ Er hatte den Freiraum, Themen und Projekte zu verfolgen, die ihn interessierten. Es war eine befriedigende Erfahrung, sagt er: „Freiheit liegt mir.“

Forschungsinteresse aufgrund eigener Erlebnisse 

Viele Wissenschaftler erforschen Dinge, die sie selbst erlebt haben. Das gelte auch für ihn, sagt Pennebaker. Sein Interesse für psychosomatische Fragen hat einen persönlichen Hintergrund: Als Kind und Jugendlicher litt er unter Asthma, was am Staub und den Pollen im windigen Texas lag, wie er damals dachte. Während seiner Collegezeit traten die Anfälle prompt nicht mehr auf, außer wenn er an Weihnachten nach Hause fuhr. Doch dann stürzte seine Theorie in sich zusammen.

Seine Eltern kamen ihn in Florida besuchen – und am ersten Tag des Besuchs fing das Asthma an. „Mit einem Mal wurde mir klar, dass dahinter wohl mehr steckte als der texanische Staub.“ Seine Mutter, erzählt er, sei eine Hypochonderin gewesen. „Sie war immer auf der Suche nach einer Krankheit und sie suchte auch nach Krankheit in mir. Wenn ich krank war, behandelte sie mich wie einen König.“ Als ihm die Verbindung zwischen Mutter und Asthma klarwurde, verschwanden die Anfälle praktisch ganz.

Ein Rückschlag

1977 fing Pennebaker als Assistenzprofessor an der Universität von Virginia an. Er arbeitete weitgehend für sich allein und erforschte, wie Menschen alltägliche Körperempfindungen und Symptome wahrnehmen. Obwohl er ein solides Portfolio an Veröffentlichungen vorzuweisen hatte, wie er sagt, wurde ihm nach sechs Jahren die tenure, die Festanstellung als Professor verweigert. Es sei für ihn damals ein schockierendes Erlebnis gewesen, sagt Pennebaker: „Ich habe mit keinem Gedanken damit gerechnet, dass dies passieren könnte.“

Abgesehen von diesem Tiefschlag war es für ihn aber gerade eine spannende Zeit, denn er hatte mehrere interessante Beobachtungen gemacht, zwischen denen er eine Verbindung zu erkennen glaubte: In seinen Fragebogenstudien zeigte sich, dass Frauen, die als Kinder oder Jugendliche sexuell traumatisiert worden waren, worüber sie oft mit niemandem sprachen, mehr gesundheitliche Probleme plagten als andere.

FBI-Agenten, die mit Lügendetektoren arbeiteten, erzählten dem Forscher, wenn Verdächtige ein Geständnis über eine Tat ablegten, dann beruhige sich ein vorher galoppierender Herzschlag oder Blutdruck meist sofort. Und ihm selbst hatte während einer Phase mit belastenden Eheproblemen das Tagebuchschreiben geholfen, seine Verzweiflung und depressive Stimmung zu vertreiben.

Forschung zu Folgen und Therapie von Traumata

Diese Beobachtungen, auf den ersten Blick ohne Bezug zueinander, fügte Pennebaker wie Puzzlestücke zu einer Idee zusammen: Könnte man vielleicht die gesundheitlichen Probleme, die Traumata oft nach sich ziehen, insbesondere wenn sie geheim gehalten werden, dadurch mildern, dass man Betroffene anleitet, das belastende Ereignis zu Papier zu bringen?

1983 nahm er ein Jobangebot der Southern-Methodist-Universität an und die junge Pennebaker-Familie, zu der mittlerweile eine zweijährige Tochter gehörte, zog nach Dallas um. Kurz nach seiner Ankunft konzipierte er zusammen mit einer Studentin, Sandra Beall, eine Studie, um den Zusammenhang zwischen Trauma, Gesundheit und Schreiben systematisch zu erkunden.

Sie rekrutierten 34 Studentinnen und 12 Studenten, die an vier aufeinanderfolgenden Tagen ins Institut kamen, um an einem 15-minütigen Schreibexperiment teilzunehmen. Eine Gruppe baten sie, über „das erschütterndste oder traumatischste Erlebnis Ihres gesamten Lebens“ zu schreiben und die Gedanken und Emotionen zu schildern, die sie dabei erlebt hatten; andere sollten über unwichtige Dinge berichten, beispielsweise wie ihre Studentenbude aussah.

Weniger Krankmeldungen

Die simple Schreibübung war wirkungsvoller, als die Forschenden es sich je vorgestellt hätten, wie Pennebaker und sein Co-Autor Joshua Smyth in dem Buch Opening Up by Writing It Down schildern. Die jungen Frauen und Männer in der Traumagruppe schrieben über Unfälle, Missbrauch, Alkoholismus, Demütigungen, Scheidungen, Suizidversuche und andere familiäre Dramen und offenbarten dabei ihre tiefsten Gefühle. Manche fingen während des Schreibens an zu weinen; viele berichteten, dass sie sich direkt nach der Übung traurig und ängstlich gefühlt hätten.

Doch schon nach kurzer Zeit stellten sich positive Effekte ein: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die über emotional aufwühlende Ereignisse geschrieben hatten, berichteten, dass sie nun mehr Selbstwert und Lebenssinn verspürten als zuvor. Mehr noch: In den sechs Monaten nach der Studie meldeten sie sich nur halb so oft krank wie die Vergleichspersonen der Kontrollgruppe.

Dieses frühe Experiment war der Auslöser zahlreicher Folgestudien. Pennebaker und Teams in aller Welt erforschten, wann, wie und warum das expressive Schreiben funktioniert. Heute wisse man beispielsweise, so Pennebaker, dass man nicht über mehrere Tage 15 Minuten am Stück schreiben müsse, sondern es kürzer halten könne. Die Anleitungen könnten zudem mehr oder weniger strukturiert sein. „Ganz unterschiedliche Herangehensweisen funktionieren, solange die Leute wirklich loslassen und ihre Gedanken und Gefühle ohne Zurückhaltung erforschen.“

Wirkung abhängig von der Art des Traumas

Eine andere Erkenntnis: Das expressive Schreiben ist für manche Probleme hilfreicher als für andere. Bei chronischen Schmerzen, Traumata und wenn Menschen große und schnelle Veränderungen durchmachen, wirkt es gut; bei Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen eher weniger gut. Warum wirkt es überhaupt? „Indem man etwas schriftlich festhält“, sagt Pennebaker, „erkennt man das Problem an und gibt es in gewisser Weise preis. Das Schreiben zwingt auch eine Struktur auf. Zudem regt es an, über die verschiedenen Facetten des Problems und seine tiefere Bedeutung nachzudenken. Schließlich reduziert es die Tendenz zu grübeln, was den Geist beruhigt.“

Andere in der Forschung hätten sich vielleicht mit einer zündenden Innovation wie dem expressiven Schreiben zufriedengegeben. Nicht aber Pennebaker. Seine Neugier führte ihn bald in ein neues Feld: die linguistische Analyse.

In den 1990er Jahren begann der umtriebige Texaner zu überlegen, wie man Aufzeichnungen über emotional aufwühlende Ereignisse Wort für Wort analysieren könnte. Die Idee dahinter: Der Gebrauch bestimmter Wörter würde vielleicht Prognosen darüber erlauben, wie sehr jemand vom expressiven Schreiben profitieren würde.

Er frischte seine Kenntnisse in der Programmiersprache Fortran auf und fand eine talentierte Studentin, Martha Francis, mit der zusammen er ein Computerprogramm namens LIWC (Aussprache „Luke“) entwickelte, das die Analyse großer Textmengen erlaubte. Ihre Aktivitäten fielen mit der Geburt des Internets zusammen, das ganz neue Möglichkeiten bot, erinnert sich der Forscher. „Ich besuchte jede Nacht Chat­rooms auf AOL und fütterte LIWC mit den Downloads der Onlineunterhaltungen, um das Programm zu testen.“

Kleine Wörter mit tiefem Einblick in die Seele

1997 wechselte Pennebaker an die Universität von Texas in Austin und hier nahm die Sprachanalyse so richtig Fahrt auf. Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe untersuchte er die unterschiedlichsten Texte, nicht nur Tagebuchaufzeichnungen von Traumapatienten und Diskussionen in Chatrooms, sondern auch Aufsätze von Schülerinnen, Pressemitteilungen, Reden von Politikern, literarische Texte, SMS zwischen Liebespartnern, persönliche Unterhaltungen zwischen Freundinnen und viele andere.

Welche Wörter jemand gebraucht, so stellte sich heraus, gibt wichtige Hinweise auf die Gedanken, Gefühle, Persönlichkeit und Verhaltensweisen eines Menschen. Die Resultate waren oft unerwartet, auch für die Forschenden selbst. Die wohl größte Überraschung: Ausgerechnet die kleinsten und unscheinbarsten Wörter – Pronomen, Artikel, Präpositionen, Hilfsverben und Konjunktionen, sogenannte Funktionswörter, die vornehmlich eine grammatikalische, aber kaum eine inhaltliche Bedeutung haben – erlauben den tiefsten Einblick in das Innenleben von Menschen.

Entschlüsseln von Geheimnissen der Sprache

So war bei Traumatisierten nicht etwa der Inhalt ihrer Aufzeichnungen der beste Indikator für eine spätere Gesundung, sondern der Gebrauch bestimmter Pronomen: Je mehr jemand zwischen „ich“ und „er“ oder „sie“ wechselte, umso besser erholte sich die betreffende Person. Die Erklärung: Ein häufiges Springen zeigt, dass jemand zum Perspektivwechsel in der Lage ist, was offenbar dabei hilft, ein Trauma zu verarbeiten.

Und Gedichte von Poetinnen und Poeten, die später Suizid begangen hatten, unterschieden sich statistisch messbar von anderen Gedichten – aber nicht etwa in der Zahl negativer Wörter, wie die Forschenden vermutet hatten, sondern darin, wie oft diese suizidalen Dichterinnen und Dichter Pronomen benutzten.

Die psychologischen Geheimnisse von Sprache zu entschlüsseln hält Pennebaker seitdem beschäftigt. Bis heute hat er mit seinem Team mehrere Millionen Texte analysiert, erzählt er. Mittlerweile werde die recht simple Software aber nicht nur in der Psychologie eingesetzt, sondern auch in Soziologie, Geschichte, Medizin, Wirtschaft, Linguistik, Informatik – und sogar von Technologiekonzernen in Marketing und Kundenservice. Das Programm habe die Fantasie von Leuten in ganz verschiedenen Anwendungsfeldern beflügelt, was man mit psychologischer Sprachanalyse alles machen kann, sagt Pennbaker. „Darauf bin ich wirklich stolz.“

Widersprüche als Geschenk

Was sieht Pennebaker als seine größten Stärken an, will ich wissen. „Dass ich meine Arbeit liebe“, sagt er, ohne lange nachzudenken. Er sitze praktisch jeden Tag am Schreibtisch, auch an den Wochenenden. „Es macht mir großen Spaß, Daten zu analysieren. Andere Leute spielen Klavier, ich analysiere Daten. Ich empfinde das nicht als Arbeit. Es ist unglaublich fesselnd, etwas Neues zu entdecken.“ Selbst wenn es bedeutet, herauszufinden, dass ein empirisches Ergebnis seiner Theorie widerspricht. „Wenn genau das Gegenteil von dem herauskommt, was ich vermutet hatte, sehe ich das als Geschenk, denn es bedeutet, die Welt ist komplexer, als ich dachte.“

Datenanalyse spielt auch bei seinem jüngsten Projekt, in dem es um Covid-19 geht, eine große Rolle. Als im März 2020 klarwurde, dass die Situation ernst war, brachte er es mit seinen Studentinnen und Studenten gleich auf den Weg. Das Ziel: die sozialen und psychologischen Folgen der Pandemie zu verfolgen. Bislang haben sie 1,8 Millionen Posts von 210000 amerikanischen Usern der Social-Media-Plattform Reddit sowie 11000 Onlinefragebögen analysiert.

Erste Ergebnisse liegen bereits vor. Sie zeigen, wie Ängste und Traurigkeit während der ersten drei Monate der Pandemie dramatisch zunahmen, dagegen positive Emotionen in den Keller gingen, wie das analytische vom intuitiven Denken verdrängt wurde und Familien enger zusammenrückten, während sich die Bande zu anderen sozialen Gruppen lockerten. „Die psychologischen Wirkungen von Covid-19 sind größer als alles, was wir in der jüngeren amerikanischen Geschichte gesehen haben“, so das Fazit des Teams.

Der unermüdliche Forscher

Die Ideen, so scheint es, werden Pennebaker nicht so bald ausgehen, wobei der Forscher durchaus darüber nachdenkt, bald kürzerzutreten. „Wenn man wie ich über 70 ist, kann man sich nicht mehr so leicht einreden, dass man ewig lebt. Ich werde nicht aufhören zu forschen und Projekte zu machen, aber vielleicht offiziell in Pension gehen.“

Zum Lunch besuchen der Forscher und ich ein lebhaftes Restaurant, wo man an einer Theke Buddha Bowls und Salate bestellen kann. Wir setzen uns auf die Terrasse zwischen das überwiegend junge Publikum. Pennebaker erzählt mir von einem faszinierenden Phänomen, das man täglich ganz in der Nähe seines Apartments beobachten kann: dem Auszug von hunderttausenden Fledermäusen, die ihre Wohnstätte unter einer Brücke bei Sonnenuntergang verlassen.

Als wir zurücklaufen, sprechen wir über das Fotografiertwerden. Ich erwähne, dass mein Mann die schönsten Bilder von mir macht, vermutlich weil wir so vertraut miteinander sind. Pennebaker hört aufmerksam zu und sagt dann prompt: „Das wäre eine interessante Hypothese für eine Studie. Man könnte testen, ob man auf Fotos, die ein Nahestehender macht, objektiv entspannter und attraktiver aussieht als auf professionellen Aufnahmen.“ Als wir in der Nähe seiner Wohnung sind, verabschiedet sich der Forscher herzlich und geht dann schnellen Schrittes davon. In einer halben Stunde fängt die Ukuleleprobe mit seinem Freund an.

DAS PORTRÄT

In unserer Serie erschienen zuletzt:

Susan Fiske – Die Forscherin, die Stereotype entschlüsselt. Heft 8/2021

Wolfgang Schmidbauer – Der hilfreiche Helfer. Heft 5/2021

Gerd Gigerenzer – Der Meister der klaren Entscheidung. Heft 1/2021

Frans de Waal – Der Beobachter. Heft 11/2020

Kate Sweeny – Die Sorgenbändigerin. Heft 8/2020

Ursula Staudinger – Die Gründerin. Heft 5/2020

Jan Born – Der Grenzgänger. Heft 1/2020

Martin Seligman – Von der Hilflosigkeit zum Glück. Heft 10/2019

Sie können diese Hefte hier nachbestellen.

4 Bücher von James Pennebaker

Opening Up by Writing It Down. How Expressive Writing Improves Health and Eases Emotional Pain

Ein umfassender Überblick zum Ansatz des expressiven Schreibens. Pennebaker und sein Co-Autor Joshua Smyth erzählen, wie das expressive ­Schreiben entstand, erklären, welche positiven Wirkungen es hat, und erläutern, in ­welchen Situationen es besonders gut hilft – und in welchen eher nicht.

Guilford, New York 2016 (zuerst 1990)

Heilung durch Schreiben. Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe

In diesem Buch erklärt ­Pennebaker ganz praktisch, wie man das expressive Schreiben für sich nutzen kann. Nach einer kurzen theoretischen Einführung in die Technik stellt er eine Reihe von Schreibübungen und Variationen vor, die man direkt im Buch ausprobieren kann.

Hogrefe, Bern 2019 (zuerst 2010)

The Secret Life of ­Pronouns. What Our Words Say About Us

Wie unterscheidet sich die Sprache, die Frauen typischerweise benutzen, von der der Männer? Was sagen unsere Lieblingswörter über unseren Denkstil aus? An welchen Formulierungen erkennt man, ob jemand die Wahrheit sagt? Was Pennebakers Erkenntnisse faszinierend macht, ist die Tatsache, dass sie der menschlichen ­Intuition oft widersprechen.

Bloomsbury, New York 2013 (zuerst 2011)

The Psychology of Physical Symptoms

Körperempfindungen wie Schmerzen oder Herzklopfen mögen wie eindeutige physiologische Signale ­erscheinen, doch in Wahrheit sind sie oft ­vage und interpretierbar, erklärt Pennebaker. Der Diskrepanz zwischen dem, was wir denken, was in unserem Körper geschieht, und dem, was objektiv passiert, geht er in diesem Buch auf den Grund.

Springer, New York 2013 (zuerst 1982)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2021: Egoisten