Kate Sweeny bändigt die Sorgen

Warten ist nicht angenehm – vor allem nicht die Ungewissheit vor dem Moment der Wahrheit. Kate Sweeny erforscht, wie sich die Sorge lindern lässt.

Kate Sweeny, ein Shootingstar in der psychologischen Forschung, trägt Sonnenbrille und steht mit Händen in den Taschen, entspannt lächelnd in der Sonne
Kate Sweeny betreibt als Psychologieprofessorin Forschung zum Thema „Warten unter Unsicherheit“. © Axel Koester

Die Psychologin, die ich besuchen möchte, hat mich gewarnt: Der Verkehr in Südkalifornien ist der blanke Irrsinn. So ist es auch an diesem Tag, wenige Wochen bevor Corona die Straßen leerfegen wird. Auf den sechs Spuren der State Route 60 wälzt sich Wagen an Wagen aus Los Angeles hinaus ins Landesinnere. Doch dann, nur wenige hundert Meter nach der Abfahrt 32 A lande ich jäh in einer friedlichen Gegenwelt. Die renommierte University of California, Riverside ist eine Art Wohlfühlpark der Gelehrsamkeit. Mit…

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side ist eine Art Wohlfühlpark der Gelehrsamkeit. Mit hübschen Grünanlagen, vorzeigbaren Restaurants und freundlichem Auskunftspersonal an den Parkplätzen.

Ich betrete einen einladenden Kastenbau mit Sandsteinfassade, ihr Büro liegt im zweiten Stock. Mich empfängt ein quadratischer Raum mit Blick über den Campus. Hier arbeitet Kate Sweeny. Gerade einmal 39 Jahre alt, hat sie ein aufregendes neues Forschungsgebiet erschlossen. Sie nennt es „Warten unter Unsicherheit“. Das klingt unspektakulär, doch gemeint ist eine der am stärksten belastenden Situationen, die das Leben für uns bereithält: das bange, sorgenvolle Warten auf ein Ereignis, von dem wir das Schlimmste befürchten – das Ergebnis eines Aidstests etwa oder die Mitteilung, ob die jüngste Kündigungswelle in der Firma auch den eigenen Arbeitsplatz fortgeschwemmt hat. Für die meisten Menschen sind das zäh dahinschleichende Tage voller düsterer Vorahnungen und fantasierter Schreckensszenarien.

Auf den ersten Blick sieht man der Sorgenforscherin nicht an, dass ein so bedrückendes Thema sie umtreibt. Kate Sweeny ist eine mittelgroße sportliche Frau. Sie wirkt ausgesprochen fröhlich und freundlich. Auf YouTube findet man ein Video, das sie bei einem exotischen Hobby zeigt: In ihrer Freizeit ist Kate Sweeny Bauchtänzerin. „Ironischerweise hat mir das Video ein paar Tage lang so etwas wie Berühmtheit verschafft“, sagt sie mit tiefer Altstimme. Sie lacht. Schon bald wird klar: Kate Sweeny besitzt die seltene Gabe, ein Gespräch durchweg angenehm zu gestalten.

Woran das unter anderem liegen mag, merke ich erst, als ich später die Tonaufzeichnung abhöre: Kate Sweeny wiederholt häufig die letzten Worte, mit denen ich meine Fragen beende. Das kann, wie man aus der Forschung weiß, Nähe und Vertrauen herstellen. „Ich mache das nicht bewusst“, beteuert sie später. Es liegt wohl einfach in ihrer Natur. Kate Sweeny ist verbindlich und einfühlsam. Ein Menschenfreund. Ehemalige Lehrer und heutige Studenten verlieren kein schlechtes Wort über sie. Die Kehrseite ihres entgegenkommenden Wesens: Ihr Terminkalender ist stets pickepackevoll: „Ich neige dazu, bei praktisch jeder Anfrage zuzusagen“, gesteht sie.

Eine steile Karriere

Sweeny hat an der Uni eine außergewöhnliche Karriere gemacht. Mit ihren 39 Jahren steht sie bereits im Range eines full professor, was in Deutschland in etwa einer W3-Professur entspricht – ein Silberrückenstatus, den man in den Vereinigten Staaten üblicherweise erst in gemessenem Alter erreicht, wenn überhaupt.

Akademischer Erfolg besteht meist aus drei Zutaten: Intelligenz, Fleiß und Glück. Bei Kate Sweeny ist das nicht anders. Als Schülerin und Studentin hat sie „praktisch nichts als Einsen“ geschrieben. Sie erzählt das, ohne zu prahlen, aber auch ohne dass es ihr peinlich wäre. Außerdem scheint sie ausgesprochen ordentlich zu sein. Vergeblich sucht man auf ihrem Schreibtisch die losen Blätter, die unerledigte Post, die Stapel an Papier, die sich in den Büros ihrer Kollegen zu türmen pflegen.

Und wer mit Sweenys Studenten redet, hört Anekdoten, die von preußischem Pflichtbewusstsein künden. Vor einiger Zeit riss ihr beim Skifahren das vordere Kreuzband. Eine schmerzhafte und ernste Verletzung. Doch als am nächsten Tag das Training ihrer Bauchtanzgruppe begann, das sie auch heute noch an der Uni anbietet, stand sie wieder brav vor ihren Leuten und tanzte tapfer alle Übungen vor, als sei sie kerngesund. „Für den Heilungsprozess war das nicht gerade förderlich“, gesteht sie. Auch die Einsatzpläne für ihre 50 studentischen Hilfskräfte schreibt die Professorin noch immer selbst. Aufgaben delegieren? „Das ist eher nicht so meine Stärke“, gesteht Kate Sweeny. , ihre dienstälteste Doktorandin, seufzt: „Wir arbeiten permanent daran, dass sie darin besser wird – bisher vergeblich.“

Und dann ist natürlich noch vom Glück zu reden, vom Zufall, ohne den keine Karriere gelingt. Als Studentin hört Kate Sweeny einen Gastvortrag des Psychologen James Shepperd von der University of Florida. Shepperd spricht dabei vom bracing for the worst, davon also, wie Menschen sich gegen schlechte Nachrichten wappnen. Wir neigen zum Zweckpessimismus. Wir sagen vor einer Prüfung: Bestimmt werde ich durchfallen! Wir gehen in eine ärztliche Untersuchung und denken: Bestimmt ist es Krebs! Unser Schwarzsehen wirkt wie eine seelische Ritterrüstung gegen Katastrophen. Kate Sweeny erinnert sich. „Ich habe den Vortrag gehört und sofort Feuer gefangen. Das war genau mein Thema!“

Denn Kate Sweeny gehört zu jenen Menschen, die stark zur Sorge neigen. Möglich, dass das an ihrer Biografie liegt. Sie ist neun Jahre alt, als ihre Mutter („menschlich mein größtes Vorbild“) an Lymphdrüsenkrebs erkrankt. Die wechselhafte Krankengeschichte der Mutter bis zur Genesung begleitet Kate Sweeny praktisch durch die gesamte Schulzeit. Ihre Forschung entspringt also der eigenen Erfahrung. Und der Frage: „Geht das mit der Sorge eigentlich nur mir so?“

Jedenfalls schreibt Kate Sweeny ihre Dissertation bei James Shepperd – darüber, wie Ärzte ihren Patienten am schonendsten eine schlechte Botschaft überbringen können. Ihr Doktorvater ist noch heute begeistert von ihr, obwohl sie ihn ziemlich in Beschlag nahm: „Kate stand ungefähr jede Woche in meinem Büro, weil sie schon wieder eine neue Forschungsidee hatte. Sie hat dabei Fragen angestoßen, die ich selbst übersehen hatte. Sie ist eine große Denkerin. Und, Junge, kann sie gut schreiben.“

Warten als Hölle auf Erden

In ihrer Forschung geht Kate Sweeny dorthin, wo die Sorge wohnt. Sie befragt etwa Frauen, die bei einem Verdacht auf Brustkrebs zwei Wochen lang auf die Ergebnisse ihrer Biopsie warten müssen. Sweeny hat auch Doktoranden befragt, die auf die Zu- oder Absage möglicher Arbeitgeber warten. Die meisten ihrer Studien aber liefert ihr das merkwürdige Verfahren, mit welchem in Kalifornien neue Anwälte zugelassen werden. Am Ende des Jurastudiums schreibt man dort ein extrem schweres Examen, bei dem rund 40 Prozent der Kandidaten durchfallen. Bis die Resultate eintreffen, dauert es geschlagene vier Monate. Für derlei Situationen gibt es im Deutschen die Formulierung „jemanden auf die Folter spannen“.

Wie wirkt diese Folter aus psychologischer Sicht? Was richtet sie in der Seele an? Eigentlich ist es ein Wunder, dass vor Kate Sweeny kaum jemand diese Frage systematisch gestellt hat. „Warten unter Unsicherheit“ ist ihr Feld. Und wie immer, wenn man es im wirklichen Leben mit wirklichen Menschen zu tun hat, fallen die Ergebnisse höchst individuell aus. „Jede Person erlebt das ein wenig anders“, sagt Kate Sweeny. Dennoch hat sie verblüffende Gemeinsamkeiten gefunden, Dinge also, die fast allen Menschen gleichermaßen widerfahren. Das Warten auf schlechte Nachrichten scheint einer festen Gesetzmäßigkeit zu folgen – und zwar egal ob eine medizinische Diagnose ansteht, ein Examensergebnis oder der Ausgang einer Präsidentschaftswahl. Sieben Erkenntnisse sind dabei besonders auffällig.

1. Angst und Sorge. Warten unter Unsicherheit fühlt sich praktisch immer schrecklich an. Die meisten empfinden dabei viel mehr negative und erheblich weniger positive Emotionen als sonst. Sie leiden. Am stärksten wirken dabei zwei unangenehme Gefühle: die Angst und vor allem die Sorge.

2. Schlechter Schlaf. Diese Beunruhigung hat handfeste Folgen. Viele Studienteilnehmer berichten davon, in Warteperioden schlechter zu schlafen als gewöhnlich. Die Sorge hält sie wach. Selbstvorwürfe kommen hinzu. Hätte ich früher zum Arzt gehen sollen? Früher mit dem Lernen anfangen? Die Gedanken greifen aus ins Gestern und ins Morgen – und finden im Jetzt keine Ruhe.

3. Die Zeit dehnt sich. Warten unter Unsicherheit ist in vieler Hinsicht anders als das Anstehen beim Bäcker. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten: Die Zeit dehnt sich beim Warten um etwa 50 Prozent. Wer erzählt, er habe beim Hausarzt „eine geschlagene Stunde“ im Wartezimmer gesessen, hat in Wahrheit selten mehr als 40 Minuten dort verbracht. Wir empfinden diese sorgenvolle Leidenszeit also als länger, als sie tatsächlich ist.

4. Lieber ein Ende mit Schrecken… Viele Menschen haben in dieser Situation das Gefühl, unter der Last der Sorge zusammenzubrechen. „Wieder und wieder“ hört Kate Sweeny in ihren Interviews einen bestimmten Satz. Die Patientinnen sagen: „Ich will lieber jetzt hören, dass ich Krebs habe, als noch länger warten zu müssen!“ Das Warten auf die Dia­gnose erscheint ihnen in diesem Moment schlimmer als die Krankheit selbst. Mit etwas Abstand betrachtet, klinge diese Haltung natürlich „ziemlich verrückt“, sagt Kate Sweeny. Denn natürlich will man gesund sein. Natürlich will man sein Examen bestehen. Doch was genau ist es, dass das Warten unter Unsicherheit zur Folter macht? Kate Sweeny hat dafür derzeit folgende Erklärung:

5. Die Gefühle laufen ins Leere.Angst und Sorge sind immer unangenehm“, sagt sie. „Aber sie haben eine biologische Funktion. Sie motivieren uns. Sie bringen uns ins Handeln. Wer Angst vor einem Verkehrsunfall hat, schnallt sich an. Wer Angst vor Brustkrebs hat, geht zur Vorsorge. Wir wappnen uns also vor möglichen Gefahren – und erhöhen unsere Chance zu überleben.“ Deshalb, so die Theorie, haben sich Angst und Sorge im Laufe der Evolution durchgesetzt. Doch beim Warten unter Unsicherheit entsteht eine neue Situation: Wir sind dabei völlig machtlos – es bleiben keine Handlungsoptionen. Schließlich können wir das Examen nicht noch einmal schreiben. Es gibt nichts zu tun, um unsere inneren Drachen zu besänftigen. Die Gefühle werden ihrer Funktion beraubt, sie laufen ins Leere – und quälen uns weiter, ohne uns zu helfen.

6. Die U-Kurve der Unsicherheit. Die schlechten Emotionen durchlaufen während der Wartezeit eine U-Kurve. „Direkt nach der Biopsie, kurz nach dem Examen – da fühlt sich alles ganz, ganz schlimm an. Dann beruhigt man sich ein wenig – und ganz am Ende, kurz bevor man seine Resultate erhält, bricht wieder die Panik aus“, sagt Kate Sweeny. Diese U-Kurve ist eines der „sehr zuverlässigen Ergebnisse“ in all ihren Studien. Sie ist das, womit man als Betroffener in einer solchen Situation rechnen sollte.

7. Gegen die Sorge ist (fast) kein Kraut gewachsen. Kate Sweeny hat fast 20 Jahre lang untersucht, wie Menschen versuchen, der Sorge Herr zu werden. Die meisten versuchen, sich abzulenken. Etwa mit langen Fernseh-, Film- und Netflixnächten. Sie greifen zur Vogel-Strauß-Methode, stecken den Kopf in den Sand und meiden systematisch jede Information, die etwas mit ihrem Fall zu tun haben könnte. Sie trinken mehr Alkohol als gewöhnlich. Oder trösten sich mit Schokolade. Sie leben ungesund. Gleichwohl: All die Ablenkungsmanöver laufen ins Leere. Die Sorge bleibt. Andere versuchen angestrengt, dem Tipp ihrer Freunde zu folgen: „Einfach nicht dran denken!“ Kate Sweeny lacht. „Gefühle zu unterdrücken, das geht praktisch immer nach hinten los – das ist der schlechteste Rat von allen.“

Andere Studienteilnehmer handeln scheinbar vernünftiger. Sie planen für den Ernstfall. Wer nimmt die Kinder, wenn ich in die Klinik muss? Wie kann ich mich auf die Nachholprüfung vorbereiten, wenn ich durchgefallen bin? Wieder andere bedienen sich einer silver lining-Strategie. Sie versuchen, selbst in der schlimmsten aller möglichen Nachrichten noch etwas Positives zu sehen. „Tatsächlich sagen 72 Prozent unserer Krebspatientinnen, dass die Krankheit auch etwas Gutes haben könnte“, sagt Kate Sweeny. Doch es bleibt dabei: Weder die gezielte Vorbereitung noch die Hat-auch-was-Gutes-Methode können den miesen Gefühlen etwas anhaben. Sie machen das Warten nicht leichter. Die Sorge, so scheint es, ist ein Drache mit stahlharter Haut, unverwundbar und nicht totzukriegen.

Nicht alle Menschen leiden gleich

Doch bei wem hinterlässt der Drache die schlimmsten Brandwunden? Kate Sweeny hat eine Reihe relevanter Persönlichkeitseigenschaften ermittelt. Einige leuchten einem sofort ein. Klar: Es gibt Optimisten und Pessimisten. Wer generell zur Hoffnung neigt, wird das Warten unter Unsicherheit vermutlich besser überstehen. „Genau das haben unsere Studien bestätigt“, sagt Kate Sweeny. Sorge, schlechter Schlaf, die U-Kurve – all das widerfährt zwar auch den Optimisten. Aber eben auf etwas erträglicherem Niveau. Auch eine generelle emotionale Stabilität hilft ein bisschen.

Einen anderen Persönlichkeitsfaktor hat Sweeny aus der Forschung zu Angststörungen übernommen. Dort spricht man von „Unsicherheitsintoleranz“, wenn Menschen besonders empfindlich auf unklare Situationen reagieren. Wenn man etwa Überraschungen hasst – oder darunter leidet, bei einer Entscheidung nicht sämtliche Informationen vorliegen zu haben. Man ahnt es schon: Menschen mit einer hohen Unsicherheitsintoleranz leiden auch stärker, wenn sie tatenlos auf ihre Diagnose warten müssen. Interessant: Kurz bevor man seine Testergebnisse tatsächlich bekommt, steigt die Unsicherheitsintoleranz plötzlich bei allen. „Im Moment der Wahrheit gibt es eine kurze Phase, in der jeder unter einer schwachen Angststörung leidet“, sagt Kate Sweeny.

Was das Tattoo erzählt

Kate Sweeny seufzt. „Ich habe nach vielen Jahren der Forschung festgestellt, dass ich selbst beim Warten unter Unsicherheit kein Stück besser geworden bin. Und bis vor kurzem habe ich in Interviews und bei Vorträgen immer erzählt: Wir wissen nicht, wie man seine Sorgen verringern kann.“ Irgendwann entdeckte Sweeny jedoch einen Zusammenhang, der immerhin Tröstliches offenbarte: „Wir haben festgestellt, dass man den Moment der Wahrheit als angenehmer empfindet, wenn man sich vorher größere Sorgen gemacht hat.“ Eigentlich verständlich: Man hat die Hölle ja schon vorher erlebt, was also will einen jetzt noch schrecken? Man trägt schlechte Nachrichten also mit größerer Fassung – und erlebt ein gutes Ergebnis mit größerer Erleichterung. Die Sorge, so quälend sie auch sein mag, hat ganz am Ende doch ihr Gutes.

Kate Sweeny krempelt die Ärmel hoch. Auf ihrem rechten Unterarm zeigt sich ein erst wenige Monate altes Tattoo, der Schattenriss dreier Vögel auf einem Zweig. Die dargestellten Buschhäher seien „kluge und gesellige Tiere“. Vor einigen Jahren, so erzählt Sweeny, sei so ein Paar regelmäßig in ihren Garten geflattert. „Sie haben mir und meinem Mann irgendwann die Erdnüsse direkt aus der Hand gefressen.“ Das Tattoo sei eine Erinnerung daran – „und ein bisschen stehen die Vögel auch für mich und meine Eltern, die heute als Rentner in Florida leben.“ Kate Sweeny hat, wie sie sagt, zu ihren Eltern ein ausgesprochen inniges Verhältnis. Sie trägt sie nun bei sich, auch wenn sie am anderen Ende des Kontinents wohnen.

Die Hurrikansaison in Florida ist für Sweeny jedenfalls ein jährlicher Test der eigenen Leidensfähigkeit. Manchmal sieht sie die Bilder der Zerstörung auf den Karibikinseln, die Wetterkarten. Und immer stellt sich die Frage: Erwischt der Sturm das Haus der Eltern? „Die beiden weigern sich dann immer, ihr Zuhause zu verlassen – und ich sterbe fast vor Sorge.“

Gibt es denn gar kein Mittel, das die Beklemmung lindert? Vor wenigen Jahren erlebte Kate Sweeny gemeinsam mit ihrer Doktorandin Kyla Rankin eine Art Durchbruch in ihrer Forschung: Die beiden entdeckten tatsächlich zwei Interventionen, mit denen ihre Versuchsteilnehmer ihre Sorgen mit einiger Zuverlässigkeit reduzieren konnten. „Beide Lösungen klingen leider ziemlich langweilig“, berichtet Kate Sweeny: „Wir haben festgestellt, dass Menschen sich weniger sorgen, wenn sie regelmäßig eine Achtsamkeitsmeditation einlegen.“ Sweeny hält das für ein „einleuchtendes Phänomen“. Statt seine Gedanken um die Selbstvorwürfe von gestern oder die Sorgen von morgen kreisen zu lassen, bringt man bei der Meditation seine Aufmerksamkeit zurück in das Hier und Jetzt.

Die zweite Maßnahme, die hilft, sind sogenannte Flow-Erfahrungen, Momente also, in denen man ganz in einer Tätigkeit aufgeht und sich selbst und die Welt um einen herum völlig vergisst. Im Experiment hat Kate Sweeny solche Flow-Momente mit einem sehr einfachen Trick hergestellt: Sie ließ ihre Probanden den Computerspielklassiker Tetris spielen. Sie selbst, sagt Kate Sweeny, erlebt Flow eher bei der Arbeit. Und wenn einmal wieder ein Hurrikan droht, dann wälzt sie sich heute nicht mehr schlaflos im Bett. „Ich stehe stattdessen auf und analysiere ein paar Datensätze. Ich bringe mich in einen Flow-Zustand und kann meine Sorgen dadurch ein wenig reduzieren.“

Eine plötzliche existenzielle Sorge

An der Wand neben Kate Sweenys Schreibtisch hängt ein säuberlich gerahmtes Foto. Es zeigt als Großaufnahme einen Kolibri im Flug, schwarz und weiß wie ein Schattenriss. Sweenys Ehemann hat es aufgenommen. Er ist begeisterter Naturfotograf und arbeitet ebenfalls an der Uni in Riverside. Wofür steht der Vogel? „Er ist elegant – aber er geht immer volle Pulle nach vorn“, sagt Kate Sweeny.

„Eine meiner Doktorandinnen behauptet, der Kolibri sei mein Seelentier.“ Sie zögert einen Moment. „Seelentier, das ist nicht wirklich ein Konzept, an das ich glaube.“ Als junge Frau war Kate Sweeny einige Jahre lang Mitglied einer radikalchristlichen Studentengemeinde (sie selbst spricht von einer Sekte). Sie hat sich noch als Doktorandin von der Gruppe losgesagt und bezeichnet sich heute als Rationalistin.

Dennoch. Wenn man mit ihr redet, schwingt gelegentlich ein, sagen wir mal: philosophischer Unterton mit. Das ganze menschliche Dasein, meint sie, sei im Grunde ein Warten unter Unsicherheit. „Wir wissen, dass wir sterben müssen. Aber der Zeitpunkt und die Umstände sind uns unbekannt. Geht es gut aus? Geht es schlecht aus? Wir haben keine Ahnung. Und manchmal wundere ich mich darüber, dass wir angesichts dessen nicht ständig ausrasten.“

In den nächsten Jahren will sie ein Buch schreiben, das ihre Arbeit zusammenfasst, „damit mein Wissen nicht in der akademischen Welt versauert“. Und sie will herausfinden, wie man beim Warten auf schlechte Nachrichten ein besseres Timing findet. Wie man also weniger Sorge und Schlaflosigkeit auf der Strecke erlebt – und die unvermeidliche, aber hilfreiche Ladung erst in den letzten Minuten vor dem Moment der Wahrheit. „So hat man weniger zu leiden – kann aber trotzdem noch die Vorteile nutzen, die einem die Sorge verschafft“, nämlich mehr Erleichterung, wenn es gut, und mehr Gelassenheit, wenn es schlecht ausgeht. Kate Sweeny hat erkannt, dass der Drache namens Sorge nicht zu töten ist. Aber vielleicht kann man ihn zähmen – und sich am Ende sogar mit ihm anfreunden.

Vom Überbringen schlechter Nachrichten

In seinem Buch The Anatomy of Hope erinnert sich der Onkologe Jerome Groopman an zwei Patientinnen, deren Diagnosen wenig Grund zur Hoffnung gaben. Die erste hatte einen Arzt, der ihr wiederholt etwas vormachte und so tat, als sei eine Heilung durchaus möglich, statt sie wahrheitsgemäß über ihr vermutliches Schicksal aufzuklären. Doch der Krebs war stärker – und kurz vor ihrem Tod sprach die Patientin von ihrem Entsetzen darüber, dass ausgerechnet der Arzt, dem sie so sehr vertraute, ihr die ganze Zeit falsche Hoffnungen gemacht hatte.

Ganz anders lief es bei der zweiten Patientin: Bei jedem Schub, den die Krankheit bei ihr verursachte, sprach der Arzt ganz offen davon, wie es wirklich um sie stand und dass die Sache sehr ernst sei. Diese Patientin lebte ihr Leben bis zum Schluss in ganzer Fülle. Sie starb gefasst und mit wenig Bedauern.

Obwohl beide Diagnosen in gleichem Maße düster waren, führten sie bei den Patientinnen zu sehr unterschiedlichen Erfahrungen. Solche Erzählungen unterstreichen, wie wichtig die Rolle jener ist, denen es überlassen bleibt, schlechte Nachrichten zu überbringen. Wie können die Empfänger wissen, ob an der Situation noch etwas zu ändern ist oder ob es besser wäre, die Sache möglichst gefasst zu akzeptieren? Diese Anekdoten unterstreichen die Notwendigkeit, ein systematisches Modell davon zu erstellen, wie schlechte Nachrichten übermittelt und empfangen werden.

Aus Kate Sweenys Dissertation mit dem Titel Being the best bearer of bad tidings: The bad news response model

SERIE: DAS PSYCHOLOGEN-PORTRÄT

Bisher erschienen:

Martin Seligman – Von der Hilflosigkeit zum Glück. Heft 10/2019

Jan Born – Der Grenzgänger. Heft 1/2020

Ursula Staudinger – Die Gründerin. Heft 5/2020

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2020: Emotional durchlässig