Als Doktorand hat Martin Seligman von einem Professor mal einen Lebensrat bekommen, den er nicht vergessen sollte. Es gebe zwei Sorten von Forschern in der Psychologie, so hob der Mentor an: solche, deren Motiv es sei, nicht falsch zu liegen, und solche, die nicht langweilig sein wollten. Und dann fügte der Professor hinzu: „Ich hoffe, du entscheidest dich für Letzteres.“ Seligman, heute einer der bekanntesten Psychologen weltweit, hat die Ermahnung beherzigt. „Ich gehe immerzu über das hinaus, was ich…
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über das hinaus, was ich verstehe“, schreibt er in seiner 2018 veröffentlichten Autobiografie. „Ich will wissen, bis zu welcher Grenze mich meine Idee trägt. Ich liege oft falsch, aber ich habe mich entschieden, nicht langweilig zu sein.“
Die Karriere des 77-jährigen Amerikaners umspannt mehr als fünf Jahrzehnte, in denen seine Arbeit einen bemerkenswerten Bogen vollzogen hat. Mit einem Fachartikel über „erlernte Hilflosigkeit“ machte er sich schon als 25-Jähriger unter Wissenschaftlern einen Namen. Heute ist Seligman vor allem als einer der Initiatoren und wichtigsten Verfechter der positiven Psychologie bekannt, einer einflussreichen Strömung des Faches. Ihre Vertreter haben es sich zur Aufgabe gemacht, explizit menschliche Stärken zu erforschen, die zu unserem Glück, Wohlbefinden und Persönlichkeitswachstum beitragen. Wie wurde aus dem nach eigener Beschreibung „in der Wolle gefärbten und versnobten Lernpsychologen, der Laborexperimente mit Hunden machte“, ein einflussreicher Erforscher von Glück und Zufriedenheit, der nicht nur auf Fachkongressen spricht, sondern Säle füllt? Und welche Bedeutung spielte dabei die Wahl zwischen nicht falsch liegen und nicht langweilig sein?
Auf meine E-Mail, in der ich ihn um ein persönliches Interview bitte, antwortet Seligman innerhalb einer knappen Stunde und bietet einen Termin nur wenige Tage später an. Vielleicht hätte mich seine Schnelligkeit nicht überraschen sollen. Der Drang, Dinge zu erledigen und eher zu früh als zu spät dran zu sein, sei ein Erkennungszeichen seines Lebens, schreibt er in seiner Autobiografie. „Und ich bin stolz darauf.“
Das Positive Psychology Center an der University of Pennsylvania, dessen Direktor er ist, nimmt das erste Obergeschoss eines der vielen modernen Bürokästen im Universitätsviertel von Philadelphia ein. Ich betrete die von Glas und Marmor dominierte Eingangshalle des Gebäudes und fahre mit dem Aufzug nach oben. Während draußen reger Verkehr fließt und eine nahegelegene Baustelle Lärm verbreitet, herrscht hier wohltuende Stille. Seligman bittet mich, am großen Konferenztisch Platz zu nehmen, der sein lichtdurchflutetes Büro dominiert, und setzt sich mir gegenüber. Er trägt ein einfaches kariertes Flanellhemd und eine legere Hose. Seine Stimme ist tief und angenehm.
Eine nicht sehr glückliche Kindheit
Bereitwillig gibt er Auskunft über seinen Lebensweg, aber redselig oder euphorisch würde man den Glücksforscher nicht nennen. Er wirkt ruhig, fast in sich gekehrt. Vielleicht liegt es an den Nachwirkungen der Grippe, die ihn in den letzten Tagen heimgesucht hat. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er es nicht unbedingt genießt, im Rampenlicht zu stehen, wie er selbst betont. „Öffentliche Bekanntheit interessiert mich nur als Maß für die Verbreitung meiner Ideen. Ich wollte nie, dass mein Leben dadurch beeinträchtigt wird. Ich mag die sozialen Interaktionen nicht, die mit Ruhm einhergehen, denn ich bin kein sehr sozialer Mensch.“
Dieser Wesenszug reicht offenbar sehr weit zurück. Er sei ein ängstlicher, oft betrübter und sozial unsicherer Teenager gewesen, der wenig Freunde und keinen Erfolg bei den Mädchen gehabt habe, erzählt Seligman. Und so habe er Zuflucht darin gesucht, ein intelligenter Bursche zu sein, der sich mit intellektuellen Dingen befasste. Mit 13 verbrachte er seine Sommerferien damit, die Introductory Lectures on Psychoanalysis von Sigmund Freud zu verschlingen. Auch an Bridgeturnieren nahm er begeistert teil. Die Eltern schickten ihn auf eine teure Privatschule – für sie ein großes finanzielles Opfer, das die Chancen des Sohnes auf einen Platz in einer exzellenten Universität erhöhen sollte. Er erzielte die besten Noten, aber als jüdischer Junge aus bescheidenen Verhältnissen gehörte er dort nie dazu. „Ich habe meine Kindheit nicht als sehr glücklich empfunden.“
Als er 13 war, erlitt sein Vater Adrian, ein promovierter Jurist, der eine sichere, aber wenig lukrative Stelle als Beamter hatte, einen schweren Schlaganfall. Der bis dahin extravertierte und erfolgshungrige Mann war nun einseitig gelähmt, emotional labil und der Vitalität, die ihn immer ausgezeichnet hatte, beraubt; er erholte sich nie wieder ganz. Der Fall in die Hilflosigkeit, den sein Vater erlitt, habe sich bei ihm tief eingeprägt, sagt Seligman, und auch seine spätere Arbeit beeinflusst: „Es war sicher keine bewusste Sache, aber es sensibilisierte mich für das Problem, hilflos zu sein.“ Die Krankheit des Vaters stürzte die Familie, die in Albany im Bundesstaat New York lebte, auch in eine finanzielle Krise. Ein Vollstipendium verhinderte, dass Sohn Martin an eine öffentliche Schule wechseln musste, und stachelte seinen akademischen Ehrgeiz noch mehr an.
Nach einem hervorragenden Schulabschluss wurde der familiäre Traum tatsächlich wahr: Der Sohn ergatterte einen Platz an der Princeton University. Philosophie und Psychologie mit ihren großen, weitreichenden Fragen zogen den 18-Jährigen besonders an. Für den Bachelor studierte er schwerpunktmäßig am Fachbereich für Philosophie, wo herausragende Größen dieses Fachs lehrten, und belegte zusätzlich Seminare in der eher mittelmäßigen Psychologieabteilung. Danach lautete die Frage: Philosoph, Psychologe – oder professioneller Bridgespieler? Er entschied sich für die Psychologie, die ihm nach Einschätzung seiner Lehrer sehr lag; in den anderen beiden Bereichen, so fürchtete er, würde er nie ganz an die Spitze kommen.
Hilflose Hunde
Bevor Seligman von der Princeton University für ein Promotionsstudium an die University of Pennsylvania wechselte, bekam er den professoralen Rat, von dem eingangs die Rede war: lieber mal falsch liegen als zu langweilen. Vielleicht war das ein Grund, warum er gleich am ersten Tag auf Steven Maier aufmerksam wurde, einen Kommilitonen aus New York City, der als Schüler sein Geld als Helfer bei illegalen Straßenlotterien verdient hatte und, so Seligman, „meine Verachtung für konventionelles Denken teilte“. Spontan beschlossen die beiden zusammenzuarbeiten. Doch welches Projekt könnten sie verfolgen? Seligman fiel eine Bemerkung ein, die sein Doktorvater Richard Solomon während eines Vorabbesuchs gemacht hatte: „Ich glaube, die Hunde in meinem Labor sind hilflos, und ich weiß nicht warum.“
In Solomons Abteilung wurden klassische behavioristische Reiz-Reaktion-Experimente durchgeführt. Als Versuchstiere dienten Hunde, die lernen sollten, vor Elektroschocks zu flüchten, indem sie von einer Box mit elektrisch aufladbarem Boden über eine niedrige Mauer in eine sichere Box sprangen. Oft sprangen sie aber eben nicht, sondern ließen den Stromschlag passiv über sich ergehen.
Für die beteiligten Forscher war es ein Ärgernis, das die Experimente erschwerte. Doch Seligman und Maier nahmen es als Phänomen, das es zu untersuchen galt. Konnte es sein, so fragten sie sich, dass die Hunde durch die Art des Versuchsaufbaus lernten, dass sie keine Kontrolle über ihre Situation hatten? Diese Vermutung schien tatsächlich zuzutreffen. Die beiden zeigten: Bringt man Hunden zunächst bei, dass nach einem Signalton ein Elektroschock folgt, dem sie nicht entkommen können, dann nehmen sie später den Schock einfach hin, auch wenn sie im neuen Umfeld durch einen Sprung flüchten könnten. Seligman und Maier nannten dieses Verhalten „erlernte Hilflosigkeit“.
Ihre Erkenntnisse seien damals, Mitte der 1960er, radikal gewesen, erinnert sich Seligman: Sie legten nahe, dass Lernen kein rein assoziatives Phänomen ist, wie die Behavioristen behaupteten, sondern auf komplexen mentalen Prozessen basiert. Die Arbeit habe ihn und Maier in dem neuen Lager positioniert, das man heute kognitive Psychologie nennt, und sie vom Clan der orthodoxen Reiz-Reaktion-Forscher entfremdet. An seinem Fachbereich war Seligman damit erst einmal ein Außenseiter, doch schon bald erntete er mit seinem Konzept der erlernten Hilflosigkeit die Aufmerksamkeit der Fachwelt, und der Begriff ging in die Lehrbücher ein.
Ein Pfad zur Depression
Den Rest des Promotionsstudiums, das er in rekordverdächtigen 32 Monaten beendete, verwendete Seligman dazu, seine Theorie zu erweitern und zu testen. 1967 nahm der erst 25-Jährige seinen ersten Job als Assistenzprofessor an der Cornell University an. Seine Arbeiten sprachen sich herum, und er erhielt Angebote von der Harvard University und seiner Alma Mater Princeton.
Doch sich mit dem Verhalten von Laborhunden zu befassen war dem umtriebigen Jungforscher nicht mehr genug. Seine Aufgabe als Psychologe verstand er darin, das Leid von Menschen zu mildern, „vielleicht weil ich selbst in jungen Jahren so viel gelitten habe“. Und es hatte noch einen pragmatischeren Grund, wie er offen einräumt: Es war einfach leichter, Geld für klinische Forschung aufzutreiben als für Grundlagenarbeit. So setzte er sich zum Ziel, herauszufinden, inwieweit erlernte Hilflosigkeit nicht nur als Laborphänomen bei geschockten Hunden auftritt, sondern reale Erfahrungen von Menschen in Situationen beschreibt, in denen ihnen im Leben die Kontrolle abhandenkommt – wie seinem Vater, als er schwer erkrankte, oder wie jemandem, der in Konkurs gehen muss oder dessen Ehepartner stirbt. Könnte das lähmende Gefühl von Hilflosigkeit, das sich dann oft einstellt, vielleicht sogar mit Depressionen in Verbindung stehen?
Lehrzeit in der Psychiatrie
Doch Seligman stellte fest, dass er Nachholbedarf in seinem neuen Wunschforschungsfeld hatte: Über Psychopathologie wusste er kaum etwas. Und so entschloss er sich, erst einmal alle Angebote abzulehnen, um an der University of Pennsylvania eine zweijährige Assistenzzeit in der psychiatrischen Abteilung einzulegen. Sein hauptsächlicher Lehrer war Aaron Beck, den man heute als Begründer der kognitiven Therapie der Depression kennt: Beck ging davon aus, dass Depressionen auf erlernte Denkmuster zurückgehen, die in fatalistischen und selbstabwertenden Überzeugungen münden.
Als Seligman 1976 an der Universität eine Professorenstelle auf Lebenszeit angeboten wurde, griff er zu. Seine neuen Kollegen zählten auf ihn als versierten Experimentator, waren aber auch ein wenig misstrauisch, ob er sich damit bescheiden würde – mit Recht, wie er selbst sagt: „Ich wollte meine Flügel spreizen, um die größeren Fragen anzusteuern.“
In den nächsten Jahren lenkte Seligman seine Forschung immer mehr in den angewandten und insbesondere klinischen Bereich. Er konnte zeigen, dass eine ausweglose Situation, die man im Labor auslöst, tatsächlich fast alle Symptome hervorruft, die eine klinische Depression charakterisieren. Doch wie sich herausstellte, sind nicht alle Menschen gleichermaßen anfällig dafür. Zusammen mit Kollegen entwickelte Seligman einen Fragebogen, der den sogenannten Attributionsstil einer Person ermittelt. Dieser Stil beeinflusst, wie anfällig jemand für erlernte Hilflosigkeit und Depressionen ist: Während optimistische Menschen ihre Misserfolge als Resultat äußerer Umstände betrachten, die nicht immer und überall gelten, sehen Menschen mit einem pessimistischen Attributionsstil ihre Fehlschläge als selbstverschuldet, andauernd und typisch für ihr ganzes Leben an.
Ein Aha-Erlebnis im Garten
Mit seinen Studien über Attributionsstile habe er wohl erstmals die Zehen in ein Gewässer gesteckt, das sich heute positive Psychologie nennt, sagt Martin Seligman. Es war eine Wendung, die ihm selbst nicht sofort bewusst wurde: „Ich redete mir lange ein, ich würde nur Pessimismus erforschen. Es war ein Buchagent, Richard Pine, der mir klarmachte, dass meine Arbeiten ebenso viel über Optimismus aussagten.“ Mithilfe von Pine veröffentlichte er 1990 sein erstes Ratgeberbuch, Learned Optimism, in dem er die Forschung zu erlernter Hilflosigkeit und Attributionsstilen zusammenführte und erläuterte, wie man eine optimistischere Haltung entwickeln und Depressionen vermeiden kann.
Zu Seligmans Perspektivwechsel zur positiven Seite der Dinge habe auch sein Privatleben beigetragen, sagt er. Nach einer ersten, als junger Student geschlossenen Ehe, die Mitte der 1970er Jahre auseinanderging, heiratete er 1988 ein zweites Mal: Mandy, eine 17 Jahre jüngere britische Psychologin, „die Liebe meines Lebens“. Mit 46 Jahren beschloss der jung vermählte Professor, seine Routine grundlegend zu ändern: Statt jeden Tag in sein Büro an der Uni zu gehen, arbeitete er nun öfter von zu Hause aus, genoss das neue Heim und das Familienleben mit den fünf Kindern, die das Paar bekam. „Bald schon bemerkte ich eine Veränderung. Vor Mandy hatte mein Denken vor allem darum gekreist, meine Trübsal zu minimieren und weniger depressiv zu sein. Aber nun dachte ich öfter über positive Möglichkeiten in meinem Leben nach. Ein gutes Leben aufzubauen bedeutete, glücklicher zu werden und nicht nur weniger unglücklich zu sein.“
Durch ein Erlebnis mit seiner kleinen Tochter wurde dieser Gedanke noch bekräftigt. Während der Gartenarbeit fuhr er die fünfjährige Nikki an, weil sie fröhlich tanzte und sang, anstatt Unkraut zu jäten. Daraufhin sagte sie zu ihm: „An meinem Geburtstag habe ich mir vorgenommen, nicht mehr ständig zu jammern. Und wenn ich aufhören kann zu jammern, dann kannst du aufhören, ein solcher Miesepeter zu sein.“ Diese Bemerkung habe ihm die Augen geöffnet, erzählt Seligman: dafür, dass sich die psychologische Wissenschaft darum drehen könnte, Menschen zu helfen, ihre Stärken zu fördern und nicht nur ihre Schwächen und Defizite zu korrigieren.
Cheerleader der positiven Psychologie
1998 bekam Seligman die Gelegenheit, der Idee einer positiven Psychologie eine große Bühne zu verschaffen. Er wurde zum Präsidenten der American Psychological Association gewählt, der größten Psychologenorganisation in den USA. „Ich wollte Teil von etwas sein, das weit und neu und anders war“, erinnert er sich, und so habe er beschlossen, seine Amtszeit der Förderung einer Psychologie zu widmen, die sich vornehmlich mit den positiven Aspekten des menschlichen Lebens befasst. Das Unterfangen ging er sehr systematisch und mit viel Elan an: Er brachte renommierte Wissenschaftler an Bord, die bereits in diese Richtung forschten, versammelte vielversprechende Jungforscher und kümmerte sich um Forschungsgelder. 1999 fand der erste Kongress der positiven Psychologie statt.
Das neue Feld zog schnell Interesse an, und das nicht nur unter Forschern. Die Medien berichteten ausführlich, Praktiker griffen die Erkenntnisse der positiven Psychologie auf, Universitäten fingen an, Happinesskurse für Studenten anzubieten, Länder wie Bhutan und Großbritannien führten nationale Glücksstatistiken ein. Kritik, zum Teil heftige, blieb nicht aus: Die positive Psychologie überbetone das Positive („Tyrannei des Positiven“); die Ergebnisse von Studien würden teilweise einseitig und übertrieben dargestellt und überzogene Versprechungen auf ein besseres Leben gemacht; die positive Psychologie bewerte den Einfluss externer Umstände zu gering; die humanistische Psychologie habe schon vieles von dem gesagt, was positive Psychologen nun für sich reklamierten.
Mittlerweile ist der Hype etwas abgeflaut, wie es scheint. Wie sieht Seligman rückblickend diese Jahre? Das Engagement für die positive Psychologie habe sein Leben verändert, sagt er. Nicht unbedingt wegen seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Bereich, wie beispielsweise der authentic happiness theory, die Glück als eine Funktion von positiven Emotionen, Engagement und Sinn erklärt. Die Forschung von Wissenschaftlern wie Mihály Csíkszentmihályi (Flow), Ed Diener (subjektives Wohlbefinden), George Vaillant (erfolgreiches Altern) und anderen seien viel wichtiger gewesen, sagt er: „Ich sehe mich sicherlich nicht als Chefwissenschaftler der positiven Psychologie, eher als Förderer und Cheerleader. Diese Rolle war neu für mich; ich wusste bis dahin nicht, dass ich ein Leader sein kann.“ Seit 2009 geht er zudem regelmäßig in Europa „auf Tour“ und stellt zusammen mit anderen Referenten neue Erkenntnisse der positiven Psychologie Therapeuten, Coaches, Pädagogen und anderen Interessierten vor; in diesem Sommer fanden Events in Hamburg, Graz und Bregenz statt.
Und das Leid?
Was die Kritik angeht, gibt er sich differenziert. Den Vorwurf etwa, die positive Psychologie vernachlässige negative Aspekte, hält er für ungerechtfertigt. Diese psychologische Richtung sei als Ergänzung zur Forschung über Leid zu verstehen, betont er, und ziele nicht darauf ab, Letztere zu beseitigen. Was überzogene Glücks- und Erfolgsversprechungen angeht, da sei er persönlich immer sehr zurückhaltend gewesen; er räumt aber ein, dass es Leute gebe, die Erkenntnisse übertrieben und aggressiv anpriesen. „Die positive Psychologie ist populärer, als sie es angesichts vorliegender Studien verdient. Ich wünschte, die Forschung wäre viel besser.“
Auch grundsätzlichere Kritik am Fokus der Forschung und der Verteilung von Ressourcen hält er für begründet: „Wenn man will, dass Menschen besser leben, soll man dann versuchen, die Menschen zu verändern oder die Umstände, in denen sie leben? Ich betone die internen Aspekte, weil das nun mal der Blickwinkel meiner Arbeit ist. Aber mir scheint die Frage nach den äußeren Umständen ein sehr wichtiger Kritikpunkt zu sein.“
Offen spricht er auch über persönliche Schwächen, die seine Arbeit manchmal beeinträchtigen: Hast; den Blick schon wieder auf die nächste Idee lenken, statt noch offene Fragen zu klären; egozentrisch und andern gegenüber ruppig sein, wenn es nicht so läuft, wie er es sich vorstellt. Kollegen heben jedoch vor allem seine Stärken hervor. „Er hat ein Gespür für Themen, die sich zu verfolgen lohnt, und scheut sich nicht, Altes über Bord zu werfen und Neues anzufangen“ sagt Willibald Ruch, Professor an der Universität Zürich, der Seligman seit vielen Jahren aus gemeinsamer Forschung und privaten Treffen kennt. „Außerdem hat er einen sehr guten Blick dafür, welche Leute für welche Aufgaben am besten geeignet sind, und fördert diese dann sehr.“
Seligman sei energievoll, diszipliniert und sehr gut organisiert, so schildert ihn Roy Baumeister, ebenfalls ein langjähriger Weggenosse. „Mit seinen Arbeiten zu erlernter Hilflosigkeit hat er ganz neue, kreative Ideen entwickelt und eine Menge Leute beeinflusst und inspiriert. Und er hat die positive Psychologie als eigenes Feld gestartet, wofür ihm große Anerkennung gebührt.“ Manche Forscher seien Seligman gegenüber ziemlich skeptisch und einige wenige lehnten ihn regelrecht ab, räumt Baumeister ein. „Aber insgesamt ist er in der scientific community enorm angesehen. Sehr viele Wissenschaftler schätzen und bewundern ihn, ich selbst auch.“
„Langweilig war ich nicht“
55 Jahre ist es nun her, dass Seligmans Professor die Hoffnung äußerte, er würde sich dafür entscheiden, als Forscher nicht langweilig zu sein. Wie hat er sich nach eigener Einschätzung geschlagen? Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. „Sehr gut“, sagt er und zeigt ein seltenes Lächeln.
„Es ist sehr wichtig, gewagte Hypothesen aufzustellen, auch wenn sie sich in der empirischen Überprüfung wahrscheinlich als falsch herausstellen, denn Wissen entsteht durch Irrtum und nicht durch Feigheit.“ Im Laufe seiner Karriere sei nur etwa ein Drittel seiner Ideen gut gewesen, schätzt er. Die ursprüngliche Theorie der erlernten Hilflosigkeit beispielsweise sei durch die späteren Arbeiten von Steven Maier völlig auf den Kopf gestellt worden. Dieser fand heraus, dass Tiere nicht erst lernen müssen, dass sie schlechten Umständen gegenüber hilflos sind – das ist sozusagen ihre naturgegebene Voreinstellung. Aber sie können umgekehrt lernen, dass sie nicht hilflos sein müssen und Kontrolle ausüben können.
„Ja, ich habe sehr oft falsch gelegen“, resümiert Seligman, „aber langweilig, denke ich, war ich nicht.“
Seligman und die CIA
Martin Seligmans Konzept der erlernten Hilflosigkeit erklärt, wie Individuen in einen Zustand der Resignation und Hoffnungslosigkeit geraten – oder in ihn gebracht werden. Eine ideale Methode für Peiniger aller Art? Vor fünf Jahren sah sich Seligman dem Vorwurf ausgesetzt, er habe mit seinem Wissen der CIA zugearbeitet. In den Medien und in einem Senatsgutachten wurde berichtet, dass zwei CIA-Psychologen Informationen über erlernte Hilflosigkeit aus Seligmans Vorträgen auf einer Militärbasis und aus direkten Gesprächen mit ihm als Anregung für Verhörstrategien genutzt hätten. Seligman hat wiederholt und vehement versichert, dass er mit diesen Agenten lediglich darüber gesprochen habe, wie seine Erkenntnisse gefangenen Amerikanern helfen könnten, einer Folter zu widerstehen, aber dass sie mit ihm niemals Verhörmethoden erörtert hätten. Im Übrigen habe einer dieser Agenten mittlerweile klargestellt, dass er sich bei der Entwicklung brutaler Befragungsmethoden gar nicht auf die Theorie der erlernten Hilflosigkeit gestützt habe.
Zum Weiterlesen
Martin Seligman: The hope circuit: A psychologist's journey from helplessness to optimism. PublicAffairs, New York 2018
Martin Seligman: Erlernte Hilflosigkeit. Beltz, Weinheim 2010
Lesen Sie auch unser Themenheft Das ist Glück! aus der Reihe Psychologie Heute compact.