Die Forscherin, die Stereotype entschlüsselt

Porträt der Psychologin Susan Fiske: Ihre Kindheit in einem Multikulti-Viertel Chicagos. Ein Karriererückschlag. Warum sie manche einschüchtert.

Die renommierte Psychologin und Princeton-Professorin Susan Fiske, steht im roten Regenmantel und rotem Hut an ihrer roten Eingangstür
Susan Fiske erforscht mit Leidenschaft, wie Menschen über andere denken und welche Stereotype sie dabei leiten. © Jürgen Frank

Ich erreiche Susan Fiske in Jamaica, Vermont, einem Ort mit rund 1000 Einwohnern, drei Autostunden nordwestlich von Boston. Normalerweise wohnt die 68-Jährige während des Semesters in New Jersey, wo die Professorin an der ehrwürdigen Princeton University „Psychologie und öffentliche Angelegenheiten“ lehrt. Doch als wir uns in Coronazeiten zum Gespräch verabreden, findet der Unibetrieb noch immer weitgehend aus der Ferne statt. Und so haben Fiske und ihr Mann die letzten Monate an ihrem Zweitwohnsitz auf…

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aus der Ferne statt. Und so haben Fiske und ihr Mann die letzten Monate an ihrem Zweitwohnsitz auf dem Land verbracht.

Das Skype-Interview mit ihr zu arrangieren war unkompliziert, und sie betont mehrfach, wie geehrt sie sich fühle, dass in Deutschland ein Porträt über sie erscheint. Auf dem Bildschirm kann ich hinter ihrem Gesicht durch ein Fenster den Garten sehen, in dem die Forscherin sich gerne mit Gemüseanbau die Zeit vertreibt, wie sie mir erzählt.

Schnell kommen wir auch auf die politische Lage zu sprechen. Susan Fiske macht keinen Hehl daraus, wie sehr sie die Situation in den USA bedrückt. Auch wenn Wahlverlierer Donald Trump das Weiße Haus schließlich doch räumen musste: „Es bleibt die Tatsache, dass fast die Hälfte meines Landes für ihn gestimmt hat, und das ist deprimierend.“

Seit mehr als 40 Jahren

In den Obama-Jahren sei sie beglückt gewesen, erinnert sich Fiske: „Wir hatten einen Präsidenten gewählt, der einer Minorität angehört. Menschen aus anderen Ländern strömten in die USA. Ich hatte das Gefühl, die amerikanische Idee zeige sich von ihrer besten Seite.“ Aber vielen Leuten sei der schnelle Wandel unbehaglich gewesen, und so hätten sie sich Trump zugewendet. „Und wenn man einen Demagogen an der Spitze hat, der sagt, dass bestimmte Gruppen von Menschen unmoralisch, kriminell oder verseucht sind, dann werden diese Menschen nicht als Individuen gesehen, sondern mit Vorurteilen belegt und ausgegrenzt.“

Wie Menschen über andere denken und von welchen Faktoren diese Gedanken beeinflusst werden, das ist das Thema, das Fiske seit mehr als 40 Jahren erforscht – seit sie als junge Wissenschaftlerin zusammen mit ihrer Doktormutter eines der ersten Lehrbücher über soziale Kognition schrieb, also darüber, wie Menschen einander wahrnehmen und beurteilen. Das Buch Social Cognition gilt heute immer noch als eine Art Katechismus des Feldes, in dem Susan Fiske die Forschung entscheidend mitgeprägt hat. Fiske spiele ganz oben in der psychologischen Forschungsliga mit, sagt Alex Koch von der University of Chicago. „In der Community wird sie als eine der Grandes Dames der sozialen Kognitionsforschung angesehen.“ Als Anerkennung für ihre Leistungen wurde sie 2013 in die amerikanische Nationale Akademie der Wissenschaften gewählt, vier europäische Universitäten haben ihr Ehrendoktortitel verliehen.

Ihr vielleicht bekanntestes Konzept ist das stereotype content model. Hinter dem nüchternen Namen verbirgt sich ein eingängiger Ansatz mit hoher Erklärungskraft. Die Theorie postuliert, dass bei der Bewertung von Menschen zwei Aspekte besonders wichtig sind: erstens als wie warm und zweitens als wie kompetent sie von anderen wahrgenommen werden. Dabei steht Wärme für Freundlichkeit und Vertrauenswürdigkeit; Kompetenz meint die Fähigkeit und das Selbstvertrauen, Vorhaben anzugehen. Der Ansatz kann beispiels­-weise erklären, warum Obdachlose so viel Geringschätzung erleben und erfolgreiche Frauen so leicht Neidgefühle wecken – nämlich weil Obdachlosen im vorurteilsbeladenen Blick anderer weder viel Wärme noch viel Kompetenz zugeschrieben wird, während durchsetzungsfähige Frauen, einem anderen Klischee folgend, zwar als kompetent, aber nicht als warm wahrgenommen werden. Ursprünglich entwickelt, um Stereotype über Gruppen in den USA zu verstehen, wurde Fiskes Modell mittlerweile auch für andere Kulturen sowie andere Epochen bestätigt. Und es gilt nicht nur bei der Beurteilung von Subkulturen und Gruppen, sondern ebenso bei der Einschätzung von Individuen.

Das Wort ergreifen

Die Frage, wie sich Stereotype bilden, verfolge sie leidenschaftlich, sagt Fiske. Schon früh in ihrem Leben habe sich bei ihr ein Gefühl der moralischen Empörung darüber eingestellt, dass Menschen andere aufgrund von willkürlichen Gruppenkategorien schlecht behandeln. Dies habe viel mit dem Ort zu tun, an dem sie aufgewachsen ist, betont sie: Hyde Park im Süden Chicagos. In diesem Viertel hätten ganz unterschiedliche Menschen gut miteinander gelebt, und die Erwachsenen seien stolz auf ihre stabile Gemeinschaft gewesen. Diese Erfahrung habe sie sehr geprägt.

Susan Fiskes Vater, ein renommierter Psychologieprofessor, arbeitete an der University of Chicago, deren Campus in Hyde Park liegt, und so konnte sie auf die unieigene Schule gehen. Ihre Klasse war sehr bunt, erzählt Fiske: Es gab Kinder aus wohlhabenden und Kinder aus wirtschaftlich benachteiligten Elternhäusern, deren Schulbesuch Stipendien möglich machten, Schüler verschiedener Hautfarbe, Schülerinnen aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Dies habe sie für ungerechtfertigte Verallgemeinerungen sensibilisiert: „Wenn jemand behauptete, schwarze Leute verhalten sich auf bestimmte Weise, sagte ich sogleich: Aber meine Freundin Brenda macht das nicht.“

Sie sei eine gute Schülerin gewesen, die sich nicht gescheut habe, in der Klasse das Wort zu ergreifen, „zu oft für ein Mädchen, wie manche Jungs fanden, und so ließen sie mich wissen, ich solle mal meinen Mund halten“, erinnert sie sich lachend. Aber zu Hause hörte sie eher zu, wenn der fünf Jahre ältere Bruder Alan (der heute Professor für Anthropologie ist) mit den Eltern beim Abendessen interessante Gespräche führte. Dabei sei es oft um Psychologie gegangen.

Überhaupt beschäftigte sie, was der Vater sechs Tage die Woche an der Uni machte. Als sie in der Highschool war, erinnert sie sich, habe sie ihn einmal gefragt, welches Buch sie lesen könne, das mit seiner Arbeit zu tun habe. „Komischerweise gab er mir ein Buch von Sigmund Freud zur Traumdeutung.“ Sie weiß selbst nicht, wie er darauf kam. „Das war überhaupt nicht, womit er sich beschäftigte.“ Denn anders als der Begründer der Psychoanalyse war Donald Fiske vor allem für seine Arbeiten zu methodologischen Fragen bekannt. Sein Interesse an aussagekräftigen empirischen Belegen und genauem Messen habe sich auf sie übertragen, sagt Fiske.

Faszinierende Frauenbilder

Ihre Mutter Barbara war auf andere Weise Inspiration. Sie engagierte sich für zahlreiche soziale Zwecke – von Wahlrecht bis Umweltschutz – und übernahm ehrenamtliche Führungsaufgaben in städtischen Gremien. Und es gab noch andere starke Frauen in der Familie: Fiskes Großmutter, die als Ökonomin arbeitete, sowie ihre Urgroßmutter, eine der ersten Frauen, die am renommierten Massachusetts Institute of Technology studierten, halfen mit, die Suffragettenbewegung in den USA zu organisieren, die für das Wahlrecht von Frauen kämpfte.

Solche Vorbilder in der Familie zu haben sei wichtig für sie gewesen, so Fiske. Sie hält einen Moment inne, um nachzudenken, und sagt dann mit ihrer ruhigen Stimme: „Es hat nicht nur meine Leidenschaft geweckt, für eine bessere Gesellschaft zu arbeiten, sondern mich auch entschlossen gemacht, finanziell unabhängig zu sein und meine Karriere wichtig zu nehmen.“

Susan Fiskes Einstieg in die Psychologie verlief dennoch nicht ganz glatt. Nach der Highschool schrieb sie sich am Radcliffe College der Harvard University in „Social Relations“ ein, einem interdisziplinären Studiengang, zu dem Psychologie, Anthropologie und Soziologie gehörten. Auch beide Eltern und ihr Bruder hatten an der elitären Harvard University studiert, aber sie habe sich dort sehr fremd gefühlt, erinnert sich Fiske: „Während meine Mitstudierenden genau zu wissen schienen, in welche Richtung sie strebten, war ich orientierungslos.“ Sie fand Lehrkräfte, die ihr Credit Points für selbständige Literaturstudien gaben, ging ein Jahr auf Reisen und quälte sich dann mit einer, wie sie fand, nutzlosen Abschlussarbeit in klinischer Psychologie herum.

Die frustrierende Phase endete, als sie Shelley Taylor kennenlernte. Taylor, nur sechs Jahre älter als die damals 21-jährige Fiske, war zu diesem Zeitpunkt die einzige Psychologieprofessorin in Harvard und hatte erst wenige Monate zuvor dort angefangen. Fiske schildert, wie fasziniert sie von ihr war: „Sie hatte Stil, war klug, und was sie sagte, hatte Autorität, trotz ihrer jungen Jahre.“ Fiske wurde Taylors erste Doktorandin und zusammen starteten die beiden Frauen, die noch heute befreundet sind, ein Forschungsprogramm in sozialer Kognition. Dies war damals ein neues Feld, das die bislang getrennten Bereiche der Kognitions- und Sozialpsychologie zusammenführen wollte. Ihre Arbeit drehte sich vor allem um „Salienz“. Gemeint ist das Phänomen, dass Menschen glauben, etwas sei wichtiger, wenn es auffällig ist. Die beiden Forscherinnen zeigten beispielsweise, dass einer Person, die bei einem Treffen am Kopfende des Tisches sitzt und so die Aufmerksamkeit auf sich zieht, mehr Einfluss auf die Situation zugeschrieben wird.

Steiler Aufstieg, dann am Tiefpunkt

1978 hatte Fiske den Doktorabschluss in der Tasche. Als hot­shot in einem aufblühenden Feld fand sie ihren ersten Job als Assistenzprofessorin an der Carnegie Mellon University. Pittsburgh war nicht gerade ihre Traumstadt. Aber das Psychologieinstitut der Universität war renommiert und hatte Geld, und so hoffte sie, dort ihre Arbeit vorantreiben zu können und nach einigen Jahren die sogenannte tenure, eine unbefristete Professur zu bekommen.

Doch schon im Laufe der ersten Monate wurde klar, dass sie nicht gut dorthin passte, erzählt sie: „Die anderen Professoren und Professorinnen waren alle verheiratet und besaßen Häuser mit Ziertapeten an den Wänden. Ich wohnte in einer Mietwohnung mit selbstgebastelten Möbeln und hatte einen Freund, der Motorrad fuhr und radikale politische Ideen vertrat.“ Ein paarmal verhielt sie sich nicht sehr taktvoll, als sie in diesem Zirkel mit Alteingesessenen über deren Arbeit sprach, erinnert sie sich: „Ich fand mich aufrichtig, sie hielten mich für unausstehlich. Dadurch habe ich manchen vor den Kopf gestoßen, aber ehrlich gesagt, sie mich auch.“

Zudem missachtete Fiske eine wichtige Regel: Von den jungen Neulingen im akademischen Betrieb wird erwartet, dass sie möglichst viele Fachartikel veröffentlichen. Fiske aber machte sich stattdessen daran, mit Shelley Taylor das erwähnte Lehrbuch über soziale Kognition zu schreiben, „was der Institutsleiter vorgeschlagen hatte“, wie sie betont. Außerdem betätigte sie sich als Expertin für Frauendiskriminierung vor Gericht. So sagte sie in einem Fall aus, in dem eine Wirtschaftsprüferin ihre Firma verklagte, weil diese sie wegen ihres angeblich unweiblichen Auftretens nicht zur Partnerin befördert hatte.

Die schwierigste Herausforderung

Langfristig machten diese Aktivitäten Fiske weithin bekannt. Das Lehrbuch ist bis heute ihre am meisten zitierte Publikation und gerade wurde sie dafür, zusammen mit Taylor, mit dem internationalen Frontiers of Knowledge Award ausgezeichnet; die Klage, in der Fiske aussagte, landete schließlich vor dem US-Verfassungsgericht und gilt heute als wegweisend. Doch kurzfristig musste die junge Wissenschaftlerin einen Preis für ihren eigenen Weg zahlen. So kam es nach fünf Jahren in ihrem Institut zum Eklat. Im entscheidenden Meeting stimmten die anderen Professoren dagegen, die unbequeme und wenig beliebte Kollegin für die Tenure-Beförderung vorzuschlagen. Der Vorwurf: Ihre Forschungsbilanz sei zu dünn. „Ich war so geschockt und niedergeschmettert, dass ich mit dem Gedanken spielte, beruflich ganz umzusatteln“, erinnert sich Susan Fiske. Doch es gab keine Tätigkeit, die sie lieber gemacht hätte. Und so nahm sie das Angebot des Institutsleiters an, noch zwei Jahre zu bleiben, um ihr Publikationskonto zu füllen, aber die Universität dann zu verlassen.

In dieser Situation wieder aufs Pferd zu steigen sei die schwierigste Herausforderung ihrer Laufbahn gewesen, sagt sie heute: „Nach der Zurückweisung ins Institut zu gehen war sehr beschämend.“ Sie reagierte mit Racheproduktivität, wie sie es nennt, und machte sich daran, Studien zu veröffentlichen und auf Konferenzen zu gehen. „Ich wollte den anderen zeigen, wie falsch ihre Entscheidung war.“

Die berufliche Krise durchzustehen zahlte sich aus. Zwei Jahre später bot ihr die University of Massachusetts, die UMass eine Professur an, und sie griff zu. Auch ihr Privatleben hatte eine bemerkenswerte Wendung genommen, erzählt sie: „Nach einer Serie von fragwürdigen Freunden fand ich, noch in Pittsburgh, endlich den passenden Partner, einen Psychotherapeuten, der in der Nachbarschaft wohnte. Vielleicht führte der berufliche Crash dazu, dass ich meine Verletzbarkeit zeigte und nicht mehr so einschüchternd wirkte. Vielleicht merkte ich auch, dass Karriere nicht genug ist, so dass ich der Liebe eine Chance gab.“

Eine Frage von Macht

Gemeinsam mit ihrem Partner, den sie dann auch heiratete, zog sie 1986 von Pittsburgh in das 850 Kilometer entfernte Amherst um. Am Wochenende und in den Ferien kam der Sohn ihres Mannes, der bei der Mutter lebte, dazu. Und dann bekam das Paar auch eine gemeinsame Tochter. Als die Kleine alt genug war, habe sie sie morgens in die unieigene Kinderbetreuung gebracht, „meist nach einem Kampf um das Haarebürsten“, erinnert sich Fiske lächelnd; nachmittags habe die Tochter oft in einem Laufställchen in ihrem Büro gespielt. Das Muttersein, sagt die Forscherin, habe sie zu sehr effizientem Arbeiten motiviert.

Fiske war nicht die Einzige, die ihr Familienleben wichtig nahm. „Viele meiner Kolleginnen und Kollegen am Psychologieinstitut waren engagierte Eltern – und gleichzeitig produktive und scharfsinnige Forschende. Mehr noch: Sie interessierten sich für die Arbeit der anderen. Es herrschten Vertrauen, gegenseitiger Respekt und Kooperation.“ Für Fiske begann eine fruchtbare Periode; in den 14 Jahren in Amherst entwickelte sie drei ihrer vier bekanntesten Theorien.

Dabei ließ sie sich auch von eigenen Erfahrungen leiten. Beispielsweise beobachtete sie beschämt, dass sich ihr Verhalten in der akademischen Hierarchie veränderte: „In Carnegie Mellon hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht, was der Institutsleiter, der sehr mächtig war, von mir hielt. An der UMass, wo es viel demokratischer zuging, beschäftigte ich mich viel weniger mit dem Institutsleiter, weil er nicht so viel Kontrolle über mein Fortkommen hatte. Ich merkte auch, dass nun, wo mein Ansehen und mein Einfluss stiegen, ich Leute, die hierarchisch unter mir standen, nachlässiger behandelte. Ich vergaß ihre Namen oder konnte mich nicht mehr genau an unser letztes Treffen erinnern – und das störte mich gewaltig.“ Diese Beobachtungen flossen in ihr power as control model ein (siehe Kasten Seite 67).

Stereotype Content Model

Fiskes Forschung gedieh an der UMass, doch es gab ein Problem: Die öffentliche Universität war chronisch unterfinanziert. Projekte zu planen und neue Beschäftigte einzustellen war schwierig, weil man nie wusste, ob genug Geld zur Verfügung stehen würde, erzählt sie. Ihre Frustration über diese Situation war ein Grund, warum sie im Jahr 2000 einem Ruf an die finanziell gut gepolsterte Princeton University folgte. Zudem steckte ihre Ehe in einer Krise und die Scheidung stand an; ihr großes berufliches Engagement, ihre Konferenzreisen und ihre Erfolge hatten zu ständigen ­Spannungen geführt, wie sie erzählt. Die Vorstellung, ihrem Ex nach der Trennung im kleinstädtischen Amherst ständig über den Weg zu laufen, schreckte sie ab und ließ den Umzug nach New Jersey erst recht attraktiv erscheinen.

Princeton habe sie als alleinerziehende Mutter und Wissenschaftlerin sehr unterstützt, so Fiske: „Bald hatte ich ein Labor mit begeisterten Leuten, Studentinnen, Doktoranden, Gastwissenschaftlerinnen, die alle Forschung machen wollten, die die Welt verbessern könnte.“ Von Anfang an kreiste ihre Arbeit dort insbesondere um das stereotype content model, das sie bis heute beschäftigt. „Dass sich die Forschung zu diesem Modell als so weitreichend und mannigfaltig herausstellen würde, hätte ich nicht erwartet.“

In Princeton fand sie auch eine neue Liebe, den Soziologieprofessor Douglas Massey, mit dem sie heute verheiratet ist. Aber Tiefschläge musste die Wissenschaftlerin ebenfalls einstecken. Die „Replikationskrise“ hatte die Psychologie erfasst: Die Befunde wegweisender klassischer Studien hatten sich in Wiederholungsversuchen oft nicht bestätigen lassen, der Ruf des Faches war beschädigt. Als Susan Fiske sich 2016 in die Debatte einschaltete, gab es teilweise scharfe Kritik. In einer Kolumne für die Association for Psychological Science hatte sie beklagt, dass soziale Medien zu ungefilterter Verunglimpfung wissenschaftlicher Arbeiten einlüden und in extremen Fällen die persönliche Integrität und Karriere von Forschenden attackiert worden seien. Fiske erzählt mir, dass sie dies bei einer ehemaligen Doktorandin selbst miterlebt habe. Diese habe zunächst als aufsteigender Star gegolten und sei dann, als sich manche ihrer Resultate nicht replizieren ließen, in Onlineblogs heftig angegriffen worden.

Vom Umgang mit Kritik

Ihre moralische Empörung über dieses, wie sie findet, „unfaire und unethische“ Verhalten habe sie verleitet, in ihrem Kommentar sprachlich etwas zu überziehen, räumt Fiske ein (sie schrieb von „selbsternannter Datenpolizei“, in einem versehentlich veröffentlichten Entwurf sogar von „methodologischen Terroristen“). Eigentlich habe sie nur Menschen schützen wollen, die ihr verletzlich erschienen, erklärt sie, aber bei anderen sei es so angekommen, als wolle sie öffentliche Kritik an wissenschaftlichen Studien unterdrücken und ihre Macht als einflussreiche Forscherin sichern. Die Angriffe gegen sie seien schmerzlich gewesen: „Es war so, als würde mein Bildnis öffentlich verbrannt. Aber wenigstens kam eine Diskussion über Regeln des Diskurses und anständigen Umgangs miteinander in Gang.“

Auch persönlich hat sie sich viele Gedanken darüber gemacht, wie man besser mit Kritik und unterschiedlichen Meinungen in der Wissenschaft umgehen kann. Begeistert äußert sie sich über eine Kooperation mit vier „rivalisierenden“ Forschenden aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden, die ähnliche, aber eben konkurrierende Konzepte entwickelt haben wie ihr stereotype content model. Seit 2016 hat diese Gruppe mehrfach gemeinsam geforscht und publiziert. Es sei eine der besten Kollaborationen, die sie je hatte, sagt Fiske, „denn wer kennt die eigene Arbeit schon besser als die Leute, mit denen man konkurriert“.

Alex Koch, einer der deutschen Kollegen, bestätigt, wie gut die Zusammenarbeit läuft. „Wir haben aus dem Kontrastieren und Gegenüberstellen unserer Methoden und Ergebnisse alle sehr viel dazugelernt und konnten viele Widersprüche, die es zwischen unseren Ansätzen gab, auflösen.“ Fiske, die er als sehr warmherzig und auf die Belange anderer orientiert, aber auch sehr effizient und professionell arbeitend beschreibt, engagiere sich besonders dafür, ihre Kollaboration bekanntzumachen, und spreche auf den wichtigen Konferenzen unermüdlich darüber. „Sie hat ein exzellentes Auge dafür, was strategisch gute Schritte sind, um ein Projekt größer und erfolgreicher zu machen“, sagt Koch.

Aber auch Fiskes ureigene Forschung geht weiter. So hat sie mit ihrem Team in einer kürzlich veröffentlichten Serie von Studien Stereotype in homogenen und heterogenen Gemeinschaften verglichen. Die Ergebnisse stimmen die Forscherin hoffnungsvoll. Denn sie konnte zeigen: Wenn Menschen eine Weile in ethnisch gemischten Communitys leben – so wie einst Susan Fiske selbst in ihrer Jugend in Chicago –, dann sehen sie die verschiedenen Gruppen eher als ähnlich an. „Die Menschen sagen dann: Was soll’s, wir sind doch alle Einheimische von New York oder von Berlin.“ In homogenen Gemeinschaften dagegen, in denen die Menschen weniger ethnischen und kulturellen Unterschieden ausgesetzt sind, sind Stereotype über andere Gruppen stärker ausgeprägt. „Paradoxerweise führt Diversität zu weniger differenzierten Stereotypen – und das gilt auf nationaler, regionaler und individueller Ebene“, so Fiske. „Dies ist eine optimistische Botschaft, die zeigt, wie anpassungsfähig Menschen sind. Sie können sich nicht nur an einen Lockdown gewöhnen, sondern auch daran, in einer Nachbarschaft mit verschiedenen Menschen zu leben. Mit anderen Worten: Der Schmelztiegel lebt.“

Wie Menschen über andere Menschen denken

Susan Fiskes vier wichtigste Theorien

1. Leitmerkmale Kompetenz und Wärme

Nach dem stereotype content model nehmen Menschen soziale Gruppen anhand von zwei grundlegenden Dimensionen wahr: Wärme und Kompetenz. Denn um eine Person einschätzen zu können, muss man zwei Sachen wissen – erstens: Ist sie mir wohlwollend gesinnt oder nicht? Eine freundliche Gesinnung verspricht eine vertrauensvolle Kooperation. Und zweitens: Ist mein Gegenüber kompetent genug, um seine Absichten durchzusetzen, denn wenn nicht, hat seine Intention wenig Bedeutung. Je nachdem welche Kombination man bei einem anderen wahrnimmt, neigt man zu bestimmten Reaktionen: Geringschätzung (Kälte + Inkompetenz); Mitleid (Wärme + Inkompetenz); Neid oder Furcht (Kälte + Kompetenz); Bewunderung (Wärme + Kompetenz).

Ein Kontinuum von Eindrücken

Das continuum model of impression formation, das Fiske 1990 zusammen mit Steven Neuberg veröffentlichte, erklärt, welche Schritte ablaufen, wenn ein Mensch sich ein Bild von einer anderen Person macht. Der Ausgangspunkt: Manchmal entsteht ein Eindruck auf Basis eines weitgehend automatischen Prozesses – man läuft auf der Straße an jemandem vorbei und macht sich ein grobes Bild (ein türkischer Mann, eine Rollstuhlfahrerin). Manchmal geht man bewusst und detailliert vor, beispielsweise wenn man zu verstehen versucht, wie die neue Kollegin tickt. Doch wie, so Fiskes Frage, hängen diese beiden Prozesse zusammen? Ihre Antwort: Eindrücke bilden sich entlang eines Kontinuums, das von oberflächlichem Kategorisieren bis zu individuellen Einschätzungen reichen kann. Wie weit man auf diesem Kontinuum voranschreitet, hängt vor allem von zwei Faktoren ab, so zeigen ihre Studien: den Informationen, die man über die andere Person hat, und wie motiviert man ist, sich diese Informationen zunutze zu machen.

3. Was Macht macht

Ob man andere auf oberflächliche oder detaillierte Weise einschätzt, wird nach Fiskes power as control model von 1993 zudem davon beeinflusst, welche Machtposition man hat. Bei der Entwicklung dieses Ansatzes, so Fiske, sei sie von der Beobachtung ausgegangen, dass Abhängigkeiten in sozialen Hierarchien ungleich verteilt sind: „Die Chefin braucht den Mitarbeiter weniger als der Mitarbeiter die Chefin.“ Die Folge: Machtvolle Menschen, egal ob in einer Firma oder anderswo, beachten Leute, die rangmäßig unter ihnen stehen, weniger genau und sind folglich eher in Gefahr, sich an Stereotypen zu orientieren. Eine Person dagegen, die in der Hierarchie weiter unten ist, macht sich viele Gedanken über diejenigen, die die Kontrolle haben, und kommt dadurch eher zu komplexen und individuellen Einschätzungen.

4. Die zwei Gesichter von Sexismus

Die ambivalence sexism theory, die Fiske 1996 zusammen mit ihrem Kollegen Peter Glick entwickelte, nimmt sich speziell Vorurteilen gegenüber Frauen an. Sexismus, so argumentierten die beiden, kommt in zwei Ausprägungen daher: als traditioneller, feindseliger Sexismus (hostile), der von negativen Stereotypen, Antipathie und Ausgrenzung geprägt ist, und als wohlmeinender Sexismus (benevolent), bei dem Frauen idealisiert und als schutzbedürftig gesehen werden. Die beiden Arten seien wie Zuckerbrot und Peitsche, erläutert Fiske: Frauen, die sich an traditionelle Rollen halten und kooperieren, werden von Männern belohnt und beschützt; nichttraditionelle Frauen, die das hergebrachte Machtgefüge infrage stellen, werden mit Feindseligkeit bestraft. Zwei Faktoren tragen nach der Theorie zu der Zweiteilung bei: Erstens sind Männer und Frauen im täglichen Leben aufeinander angewiesen und zweitens haben Männer typischerweise einen höheren Status als Frauen, den sie nicht verlieren wollen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2021: Sich wieder nah sein