Der Grenzgänger

Wie prägen wir uns Dinge ein, während wir schlafen? Jan Born fand durch seine interdisziplinäre Forschung die Antwort. Der Psychologe im Porträt.

Der Psychologe, Jan Born, lächelt und ist ein Grenzgänger zwischen der Psychologie und den Naturwissenschaften
Thema: Prof. Jan Born, Schlaf- und Gedaechtnisforscher, Universitaet Tueingen. Foto: Andreas Reeg, mail@andreasreeg.com, www.andreasreeg.com, phone +49 171 544 92 47. © Andreas Reeg

Der Weg zu Jan Born führt ganz nach oben. Knapp 40 Minuten dauert der Fußmarsch von der Tübinger Altstadt den Hügel hinauf, dann stehe ich am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie. Ich nehme den Aufzug in den sechsten Stock, gehe den Flur entlang, rechts liegt ein karger weißer Raum mit einem leeren Bett in der Ecke. Ein Kabelbündel verschwindet durch ein Loch in der Wand. In der Nacht davor hat hier noch eine Versuchsperson geschlummert – mit Elektroden am Kopf, die präzise ihre…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Hirnströme vermessen haben. Jetzt jedoch ist das Schlaflabor verwaist. Natürlich! Professor Jan Born ist Schlafforscher. Und Schlafforschung ist Nachtarbeit.

Ganz am Ende des Ganges erreiche ich Jan Borns Büro. Der Raum ist außerordentlich großzügig bemessen. Und der Blick durch die schlaftrunkenen Jalousien über die Stadt, der ist auch nicht ganz schlecht. „Schön, dass Sie hier sind.“ Jan Born begrüßt mich in lockerem Ton. Ein großer, schlanker Mann im blauen Polohemd, Brille, volles Haar, grau nur an den Schläfen. Born ist 61. Doch die Jahre scheinen an ihm vorübergegangen zu sein. Ich hätte ihn auf Anfang 50 geschätzt.

Jan Born zählt zu den bekanntesten deutschen Psychologen unserer Zeit. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ihm den Leibniz-Preis verliehen, den wichtigsten deutschen Forschungsförderpreis überhaupt. Seine Arbeiten erscheinen regelmäßig in Nature und Science, den bedeutendsten Wissenschaftsjournalen der Welt. In seinen Studien ist er einem uralten Rätsel auf die Schliche gekommen: Warum löst sich vieles, was wir am Tag gelernt haben, nicht etwa in Luft auf, sobald sich der Geist zur Ruhe begibt – sondern verfestigt sich sogar während des Schlafs?

Die Träume sind es nicht

Schon im ersten Jahrhundert nach Christus notierte der römische Rhetoriklehrer Quintilian verblüfft, dass sich unser Gedächtnis über Nacht oft erheblich verbessert. Man will heute etwas auswendig lernen und scheitert. Doch am nächsten Morgen läuft es auf einmal wie am Schnürchen. Die Sache erschien dem römischen Denker „seltsam und nicht leicht zu erklären“.

Jan Born erklärt: „Lange Zeit hat man ja geglaubt, dass die Konsolidierung von Erinnerung in unseren Träumen geschieht. Man dachte: Im Traum spielt man die Tagesereignisse noch einmal durch und kann sie sich deshalb besser merken.“ Born hat über die Jahre nachgewiesen: Die Träume haben mit weiten Teilen unseres Gedächtnisses wenig zu tun. Doch was ist dann der Mechanismus hinter dem rätselhaften nächtlichen Wissensschub? Der Antwort darauf verdankt Jan Born einen Gutteil seiner Reputation.

Jetzt sitzen wir am runden Besuchertisch und machen uns gemeinsam auf Spurensuche in seinem Lebenslauf. Hinter Borns Schreibtisch türmt sich Papier. Neben dem Computer entdecke ich einen weiteren Stapel. Born scheint also – anders als mancher seiner Kollegen – nicht nur auf iPad und Laptop zu lesen. Alte Schule.

Forschen in den USA

Er spricht von seiner Kindheit in Celle, wo er als jüngster von drei Söhnen eines Richters und einer Lehrerin aufwächst. Sein Vater habe ihn für „nicht besonders helle, aber durchsetzungsfähig“ gehalten, erzählt Born lachend. Nach dem Abitur studiert er in Tübingen Psychologie mit dem Nebenfach Philosophie. Die Erkenntnistheorie Immanuel Kants fasziniert ihn, aber auch die Mathematik, ein Fach, für das er sich nebenbei einige Semester lang einschreibt. „Ich war schon während des Studiums ein Mensch zwischen den Welten“, sagt er. Dieses Grenzgängertum, die Gratwanderung zwischen den Wissenschaftsdisziplinen, charakterisiert Jan Borns Forschertätigkeit bis heute. Es ist eine Art Markenzeichen.

Seine Diplomarbeit schreibt er in den USA. „Ich hatte dort alle Freiheiten“, erinnert sich Born. „Einen Rechner, einen Doktoranden als Kollegen, mit dem ich freundschaftlich verbunden war, dazu einen Techniker, der für uns Sachen programmiert hat. Und dann hieß es: ,Macht einfach mal!‘ Das kam mir entgegen.“ In den Staaten – als junger Diplomand – experimentiert Jan Born mit der Messung von Hirnströmen. Die Resultate seiner Diplomarbeit werden sogar in einem Fachjournal veröffentlicht – eine Seltenheit.

„Ich musste den Text für meinen amerikanischen Supervisor fünf-, sechsmal überarbeiten, immer wieder. Damals habe ich gelernt, wie man das eigentlich macht, eine wissenschaftliche Arbeit auf Englisch zu schreiben. Für meine Karriere war das sicherlich ein Glücksfall.“ Nicht nur den Schreibstil übernimmt Jan Born aus den Staaten. Seine Mitarbeiter berichten heute, er führe seine Abteilung mit derselben „optimalen Mischung aus Autonomie und Unterstützung“, die er selbst als junger Mann in Amerika erlebt hat.

Der Schlaf und die Hormone

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland landet Jan Born als Doktorand an der Universität Ulm. „Allerdings ging es dort nicht um Gehirnströme, sondern darum, wie Hormone im Gehirn wirken. Das war damals absolutes Neuland.“ Jan Born arbeitet in Ulm auch nicht mehr bei den Psychologen, sondern in der Neuroendokrinologie, also bei den Medizinern. „In den 1980er Jahren hatte man gerade angefangen, Hormone während des Schlafs zu untersuchen. Das fanden wir spannend. Wir gehörten damals zu den Ersten, die ein Schlaflabor eingerichtet haben.“

So rutscht Jan Born fast zufällig in das Thema, das ihn bis heute beschäftigt: den Schlaf. Er lernt, per Hirnstrommessung die fünf Schlafphasen zu unterscheiden, etwa den extrem tiefen Deltaschlaf, benannt nach den langwelligen Hirnströmen, den Deltawellen, von denen er begleitet wird. Oder den traumreichen REM-Schlaf. Die Abkürzung steht für den englischen Begriff rapid eye movement – wenn wir träumen, flackern die Augen unter den geschlossenen Lidern hin und her.

„Die Hirnströme sehen in dieser REM-Phase genauso aus, als wäre man wach, und zwar bei höchster Aufmerksamkeit“, erklärt Born. Deshalb misst man im Schlaflabor neben den Hirnströmen stets den Muskeltonus. „Denn auch wenn das Gehirn hellwach zu sein scheint – die Muskeln sind im Traumschlaf vollkommen erschlafft“, sagt Jan Born. „Deshalb kann man im Traum nicht schlafwandeln, das passiert nur im Tiefschlaf.“

Schlafphasen

Während seiner Dissertation und seiner Habilitation macht Jan Born eine Reihe bedeutsamer Entdeckungen. Seit langem weiß man, dass sich die einzelnen Schlafphasen nicht gleichmäßig über die Nacht verteilen. In der ersten Nachthälfte dominiert der tiefe, langwellige Deltaschlaf. Born und sein Team weisen nach, dass der Körper in dieser Phase viel Wachstumshormon freisetzt, während das Stresshormon Kortisol extrem herunterreguliert wird. „Tiefschlaf ist also das genaue Gegenteil von Stress“, sagt Born. Körper und Geist regenerieren, fernab von den Aufregungen des Tages.

In der zweiten Hälfte der Nacht kehren sich die Verhältnisse dagegen um: Nun dominiert der REM-Schlaf. Auch die Hormonkurven weisen während dieser Schlafphase exakt in die entgegengesetzte Richtung, wie Borns Team entdeckt: „Wachstumshormon wird runterreguliert, während Kortisol immer weiter nach oben geht, bis es am Morgen einen Höhepunkt erreicht.“

Teamplayer

Diese und andere Entdeckungen fördern Jan Borns Karriere: Mit 31 Jahren wird er an die Universität Bamberg berufen – als damals jüngster Professor in ganz Bayern. „Dort habe ich jemanden kennengelernt, dem ich vieles verdanke: Werner Plihal. Er war einer meiner Doktoranden und nur unwesentlich jünger als ich.“ Derlei Sätze hört man häufiger von Jan Born. Er ist ein Teamplayer. Und er weiß es. Völlig allein und ohne Lerngruppe für seine Diplomprüfung zu lernen, das habe ihn „fast depressiv“ gemacht, gesteht er.

Als Kind und Teenager habe er in seiner Freizeit Tennis gespielt, doch etwa mit 30 sei er dann zum Fußball gekommen. „Da ist mir erst klargeworden, wie viel mir verlorengegangen ist an Mannschaftssport während meiner Jugend.“ Inzwischen hat Born sich vom aktiven Fußball verabschiedet. Ein Schienbeinbruch vor zehn Jahren hat dazu beigetragen, aber auch sein Familienleben: Born ist zum zweiten Mal verheiratet. Zu Hause warten zwei kleine Kinder, sein ganz privates Team. „Ich habe einfach keine Zeit mehr.“

Gedächtnissaboteur Kortisol

Werner Plihal jedenfalls, Borns Doktorand, konfrontiert ihn in Bamberg mit einem wissenschaftlichen Aufsatz aus den USA. Dort geht es zum ersten Mal um jene Frage, die den Rest von Jan Borns Berufsweg prägen wird: Wie bildet sich eigentlich Erinnerung während des Schlafs? Der besagte Aufsatz berichtet von einem verblüffenden Fund: Anders als zuvor angenommen, funktioniert die Gedächtnisbildung während des Tiefschlafs offenbar besser als während der REM-Phasen. Lernen! Ausgerechnet im Tiefschlaf, weitab von jedem bewussten Gedanken im Kopf! Woran das liegt? Keiner weiß es damals.

Bei der Suche nach einer Erklärung kommen Born seine alten Ulmer Forschungserkenntnisse über die Hormonausschüttung im Schlaf nun wieder zupass. „Wir haben sofort gesehen: Na klar, das muss am Kortisol liegen! Wenn das Stresshormon hochreguliert wird wie im Traumschlaf, dann stört das die Gedächtnisbildung. Mit dieser Hypothese haben wir uns an die Arbeit gemacht – und genau das ist dann auch wirklich rausgekommen.“

Born und Plihal geben ihren Probanden ein paar Gedächtnisaufgaben und lassen sie anschließend eine Nacht im Schlaflabor zubringen. Wie erwartet können die Teilnehmer dieselbe Aufgabe am Folgetag besser lösen – der Schlaf hat das Gelernte im Langzeitgedächtnis verankert. Doch sobald die beiden Forscher bei ihren Versuchspersonen den Kortisolpegel während des Tiefschlafs künstlich erhöhen, bleibt die Lernleistung aus. Kortisol sabotiert also die Verankerung des Gelernten während des Schlafs.

Eine wichtige Erkenntnis! Ganz nebenbei entdecken Born und Plihal damit auch einen Ansatz, um posttraumatischen Belastungsstörungen möglicherweise vorbeugen zu können: „Nach dem traumatischen Erlebnis gibt man vor dem Schlaf Kortisol – die Gedächtnisbildung in der kommenden Nacht bleibt dadurch aus“, erklärt Born. Das Trauma wird – zumindest theoretisch – vergessen, statt sich für immer ins Gedächtnis einzubrennen. Tatsächlich experimentieren einige Forschungsgruppen heute mit einem solchen Vorgehen.

Gedächtnisturbo Rosenduft

Auch wenn Jan Born in Bamberg weiter Vorlesungen hält, als Forscher zieht es ihn schon bald weiter. Seine Arbeit im Schlaflabor sei stets „blutige Forschung“ gewesen, sagt er. Blutproben nehmen, Hormone verabreichen – ohne die Anbindung an eine Uniklinik sei das schwer zu organisieren. In Bamberg fehlt diese Einbettung jedoch. Und so kommt es, dass Jan Born auch organisatorisch bald ein Leben zwischen den Welten führt: als Lehrender an der Uni Bamberg und als Forscher an der Uni Lübeck.

Dort gelingt ihm mit seinem Team eine experimentelle Entdeckung, die in der Wissenschaftsgemeinde und diesmal auch in der Öffentlichkeit für Aufsehen sorgt. Born folgt dabei einem einfachen Gedankenspiel: Erinnerungen verfestigen sich im Tiefschlaf. Doch was passiert, wenn man das Gehirn dabei von außen elektrisch stimuliert? Vielleicht schlagen die Wellen der Hirnströme dann höher? Und vielleicht verbessert sich dabei auch die Gedächtnisleistung?

Klingt verrückt, doch Born und seine Mitforscher wagen den Versuch. Ihre Probanden lernen Vokabeln und begeben sich dann zur Ruhe – mal mit, mal ohne nächtliche Elektrostimulation. Und tatsächlich können sie sich mithilfe der Stromimpulse drei Vokabeln zusätzlich merken – im Schnitt 43 statt 40. Kein riesiger Effekt, zugegeben. Dennoch reagieren Fachwelt und Medien begeistert.

Über die Jahre findet Born noch zwei weitere Methoden, um die nächtliche Gedächtnisbildung anzuregen. Die eine funktioniert über unseren Geruchssinn: Man versprüht einen Rosenduft, während die Probanden Memory spielen. Lässt man sie nachts unter demselben Aroma schlafen, erinnern sie sich am Folgetag besser an die Kartenpositionen als Testpersonen, die unbeduftet ruhten. Borns zweite Methode: Er stimuliert das Gehirn im Tiefschlaf mit akustischen Signalen. Auch wenn die Töne im gleichen Rhythmus schwingen wie das Gehirn des Tiefschläfers, verbessert sich die Gedächtnisbildung.

Neues entsteht zwischen den Welten

Wenn Jan Born von solchen Entdeckungen berichtet, verändert sich seine Körpersprache. Seine Hände wirbeln durch die Luft, seine Augen weiten sich. „Jungenhaft“, so beschreibt ihn einer seiner Kollegen. Mitarbeiter schwärmen von seiner „großen Kreativität“, seinem „überraschend breiten wissenschaftlichen Fundament“. Andere betonen, er sei als Chef „sehr nahbar und zugänglich“ und „keiner dieser Professoren, die man persönlich nie zu Gesicht bekommt“.

Doch was inspiriert ihn zu seinen Ideen? „Ich hatte immer wieder solche Momente“, sagt Jan Born. „Ich höre Vorträge oder lese Aufsätze – und dann zähle ich eben eins und eins zusammen.“ Die Idee zur nächtlichen Elektrostimulation zum besseren Vokabellernen kam ihm zum Beispiel, als er einen Vortrag von Hannah Monyer hörte, einer Medizinerin, die heute an der Uni Heidelberg lehrt.

So frei und spontan zu forschen, „das geht vermutlich nur, wenn man nicht mitten im Mainstream einer Disziplin steckt“, sagt Born. Er ist ein Grenzgänger, ein Vermittler zwischen den Welten: Heimisch fühlt er sich nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Hirnforschung, der Medizin oder der Mathematik. Studien haben gezeigt: Innovation entsteht häufig an solchen Schnittstellen zwischen den Disziplinen.

Bei Wissenschaftlern findet man zwei Arten von Biografien. Die einen brennen schon als Kind für ein bestimmtes Thema und bleiben dabei bis zur Rente. Die anderen werden wie Odysseus von Zufall, Wind und Strömung hin und her getrieben – und landen schließlich genau an dem Ort, der perfekt zu ihnen passt. Jan Born gehört zur zweiten Sorte.

Und im Jahr 2010 trägt ihn das Geschick wieder zurück zu jener Hochschule, an der für ihn alles begann: nach Tübingen. „Ich hatte damals gerade den Leibnizpreis bekommen“, sagt Born. Und der bringt neben Ruhm und Ehre auch stolze 2,5 Millionen Euro an Forschungsmitteln. „Damit hatte ich auf einmal alle Freiheiten.“ In Tübingen bietet sich für Born die Chance, vor Ort stärker mit Tierexperimenten zu arbeiten. Dem institutseigenen Rattenlabor verdankt Jan Born auch einige seiner neuesten Erkenntnisse.

Wie eine riesige Bibliothek

Um die zu verstehen, muss man ein wenig über das Gedächtnis selbst sprechen. Klassischerweise unterscheidet man in der Psychologie zwischen prozeduralem und deklarativem Wissen. Prozedurales Wissen meint zum Beispiel bestimmte Bewegungsabläufe: einen Aufschlag beim Tennis, wie man mit dem Fahrrad fährt oder einen Handstand macht. Dem gegenüber steht das deklarative Wissen: Man büffelt Englischvokabeln, lernt die Hauptstädte verschiedener Länder auswendig – oder man erinnert sich an bestimmte Menschen, denen man schon einmal begegnet ist. Bei diesem deklarativen Gedächtnis spielt der Hippocampus eine entscheidende Rolle, ein Areal, das tief im Inneren des Gehirns verborgen liegt.

Schon in den 1990er Jahren konnte man bei Ratten zeigen, was dabei im Gehirn vor sich geht: Die Tiere lernen am Tag einen bestimmten Pfad durchs Labyrinth. Am Ende gibt’s das ersehnte Futter. Das Besondere: Im Tiefschlaf der folgenden Nacht werden genau dieselben Ortszellen im Hippocampus der Tiere erneut aktiviert – und zwar in derselben Reihenfolge wie beim Weg durchs Labyrinth am Tag zuvor.

Replay im Tiefschlaf

In der Hirnforschung gilt diese Studie als Beleg für die sogenannte „Replay-Hypothese“: Unser Gehirn scheint im Tiefschlaf bestimmte Episoden noch einmal nachzuspielen. Gleichzeitig – so zeigen auch Borns Arbeiten – werden im Tiefschlaf bestimmte Gedächtnisinhalte in die Großhirnrinde übertragen. „Dadurch werden – so vermuten wir – diese neuen Inhalte mit dem verknüpft, was schon vorher an Wissen da war. So wird das neue Erlernte später leichter auffindbar – man kann sich bestimmte Inhalte also nicht nur merken, sondern sie auch tatsächlich abrufen.“

Mit anderen Worten: Unser Gedächtnis funktioniert wie eine riesige Bibliothek. Auch dort genügt es nicht, ein neues Buch einfach ins Regal zu stellen. Man will es ja später wiederfinden. Die Datenbank der Bibliothek muss deshalb laufend aktualisiert und erweitert werden. Genau diese Aufgabe erledigt unser Gehirn im Tiefschlaf. Das ist der Grund, warum wir über Nacht manchmal neue Lösungen für komplexe Probleme finden: weil die neuen Informationen auf besondere Art mit unserem Vorwissen in Kontakt kommen. Auch diese Alltagserfahrung hat Jan Born über die Jahre wissenschaftlich bestätigt.

Sogar das Vergessen selbst könnte man auf diese Weise erklären. Ist es möglich, dass wir nie die Daten selbst verlieren, sondern nur den Zugang dazu? Dass in unserem Gehirn also nie etwas wirklich gelöscht wird? „Diese These hat zumindest noch niemand widerlegt“, sagt Born. „Ich persönlich glaube zwar schon, dass einige Dinge vergessen werden. Trotzdem: Man erlebt es immer wieder, dass einem im Alter plötzlich Sachen wieder einfallen, die einem über lange Zeit nicht zugänglich waren. Und das ist schon ein Zeichen dafür, dass vieles doch irgendwo gespeichert bleibt.“

Die vergessene Kindheit

Neben der plötzlichen Erinnerung im Alter hat auch das genaue Gegenteil Jan Borns Interesse geweckt – ein Phänomen, das man unter Psychologen als „infantile Amnesie“ bezeichnet: Nichts scheint uns stärker zu prägen als die ersten beiden Lebensjahre. Dennoch haben wir praktisch alle konkreten Szenen, alle Episoden aus diesem Lebensabschnitt komplett vergessen.

Diesem Rätsel gilt dieser Tage Jan Borns Forscherleidenschaft. Erste, noch unveröffentlichte Experimente seiner Forschungsgruppe mit Rattenkindern lassen darauf schließen, dass sehr früh Gelerntes keineswegs verloren sein muss: Jungtiere, die räumliche Orientierungsaufgaben trainieren mussten, schnitten als „Erwachsene“ bei ähnlichen Aufgaben erheblich besser ab als untrainierte Altersgenossen. „Die Effekte waren so groß, dass wir anfangs an einen Messfehler glaubten“, sagt Born begeistert. Das Wissen der Jungtiere hat in der Gedächtnisbibliothek also bleibende Spuren hinterlassen.

Und beim Menschen? Inzwischen laufen am Tübinger Institut Experimente mit Babys und Kleinkindern. Jan Born könnte einmal mehr einer großen Sache auf der Spur sein. Neugierig wie ein junger Doktorand – ein hellwacher Schlafforscher.

Serie: Psychologen-Porträts

Bisher erschien:

Martin Seligman – Von der Hilflosigkeit zum Glück. Heft 10/2019

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2020: Bilder der Kindheit