Hier muss es sein. München-Schwabing. Ein Schild weist den Fußweg zum Englischen Garten. Im afghanischen Restaurant an der Ecke brennt kein Licht – Lockdown, es ist Winter in Deutschland. Ich gehe vorbei an schönen Stadthäusern aus der Gründerzeit. Nicht jede Fassade hat kürzlich einen Malerpinsel gesehen. Bei Hausnummer 66 drücke ich den Klingelknopf, jemand betätigt den Summer. Wolfgang Schmidbauer trägt eine Maske, als er die Tür zu seiner Altbauwohnung öffnet. Jackett und Hemd, am Hals zwei Knöpfe…
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trägt eine Maske, als er die Tür zu seiner Altbauwohnung öffnet. Jackett und Hemd, am Hals zwei Knöpfe offen, länglich graues Zauselhaar. Mit seinen bald 80 Jahren zählt Schmidbauer zur Hochrisikogruppe in der Pandemie. Trotzdem hat er einem persönlichen Treffen sofort zugestimmt. Kein ängstlicher Mann, so viel steht schon mal fest.
Wir gehen in sein Arbeitszimmer. Und da sieht es wirklich genau so aus, wie man sich das vorstellt. Einerseits. Und andererseits: ganz, ganz anders. Denn klar: Dies ist der Raum eines Psychoanalytikers. Ausladend. Man könnte mühelos Tischtennis darin spielen. Hohe Decken. Das Mobiliar entstammt – wie die Grundidee von Sigmund Freuds Lehrgebäude – dem 19. Jahrhundert. Alte Schränke, alte Stühle, alte Tische, ein alter Sekretär. Vor dem Fenster, mit Kuscheldecken belegt, ein Biedermeierbett als Behandlungscouch. „Das hab ich beim Trödler gekauft, als ich noch Student war“, sagt Wolfgang Schmidbauer. „Meine erste Frau war ja Kunsthistorikerin. Damals waren solche Sachen noch überhaupt nicht geschätzt.“
Wir nehmen Platz in drei, vier Metern Abstand. „Hier sitzen ansonsten die Paare, die bei mir eine Beratung machen“, sagt Wolfgang Schmidbauer. Er redet in bayerischem Sound und gelassenem Tempo. Gelegentlich erzählt er kleine Witze und lässt dann ein halbstumm hechelndes Lachen hören. Er lacht wie für sich selbst. Arbeitshypothese: Wolfgang Schmidbauer mag Menschen. Aber eigentlich braucht er kein Publikum, keinen Beifall. Den spendet er sich selbst, wenn ihm etwas gelingt.
Ein großes Publikum
Doch Wolfgang Schmidbauer hat da draußen ein Publikum, ein großes sogar. Es begann im Jahr 1977, als er im Alter von 36 Jahren ein Buch mit dem Titel Die hilflosen Helfer veröffentlichte. Dort prägte er das Wort „Helfersyndrom“. Damals kamen scharenweise Menschen aus helfenden Berufen – von der Sozialpädagogin bis zum Pfleger – in Schmidbauers Selbsterfahrungsgruppen. „Und immer wenn die Leute was von sich erzählen sollten, von ihren eigenen Problemen, wurde es auf einmal merkwürdig still.“ Schmidbauer deutete das so: Viele Helfer brauchen das Gefühl, gebraucht zu werden, haben aber zugleich größte Probleme damit, selbst Hilfe anzunehmen oder auch nur die eigene Bedürftigkeit zu sehen. Anderen zu helfen sei für sie auch ein Mittel, den eigenen Selbstwert zu erhöhen, wie man im Jargon unserer Tage sagen würde.
Wer den Begriff „Helfersyndrom“ heute bei Google eintippt, erhält mehr als hunderttausend Treffer. Das Buch über die hilflosen Helfer hat über die Jahrzehnte mehr als 20 Auflagen angesammelt und verkauft sich noch immer. Nach mehr als 40 Jahren. „Das ist für einen Autor natürlich sehr schön, wenn er einen Bestseller schreibt“, sagt Wolfgang Schmidbauer. „Weil man ihm danach halt alles abnimmt. Zumindest jedes Sachbuch.“
Popularisierer im besten Sinne
Und Sachbücher hat Wolfgang Schmidbauer nun wirklich eine ganze Menge geschrieben über die Jahre. Ich habe vor unserem Treffen bei verschiedenen Onlineplattformen nachgesehen – und irgendwann das Zählen aufgegeben. Mehr als 50 Bücher sind es! Und genau das ist der Punkt, der mich am meisten überrascht an Wolfgang Schmidbauers Arbeitszimmer. Denn ich habe Regale erwartet. Meterlange Bretter voller Freud-Bücher, durchmischt mit Schmidbauer-Werken. Erstausgaben, Neuauflagen, Taschenbücher, italienische Übersetzungen. Etwa von Die Angst vor Nähe, einem zweiten Schmidbauer-Bestseller, in dem er unsere narzisstisch verzerrten Liebesbeziehungen unter die Lupe nimmt. Oder Die Seele des Psychologen, in dem er ohne Selbstschonung und Eitelkeit von der gescheiterten Beziehung mit seiner ersten Ehefrau erzählt. Doch alles, was in diesem Zimmer auf das Schreiben verweist, ist ein Computer, der sich fast verschämt in einer Ecke duckt vor einem Regalbrett, auf dem kleine afrikanische Metallfiguren stehen.
Das breite Publikum sieht in Wolfgang Schmidbauer den Psychoanalytiker. Für seine Kolleginnen und Kollegen hingegen ist er in erster Linie Autor. „Neulich kam ein Patient zu mir und meinte: ‚Ich habe ein Helfersyndrom‘“, verrät zum Beispiel der Psychoanalytiker Professor Hans-Jürgen Wirth. „Wolfgang Schmidbauer hat einen Begriff erfunden, der es bis in die Alltagssprache geschafft hat, bis in unser Alltagsdenken. Das ist eine große Leistung.“ Dennoch, sagt Wirth, habe man Schmidbauers Werke in Fachkreisen kaum wahrgenommen. „Das ist schade. Vermutlich hatten die Kollegen das Gefühl: Wolfgang Schmidbauer schreibt nur für ein Laienpublikum.“
Wirths Kollegin Eva Jaeggi, emeritierte Professorin für klinische Psychologie, sieht gerade darin eine Auszeichnung. Sie hält es für eine wichtige Aufgabe von Fachleuten, sich „für ein interessiertes Publikum verständlich zu äußern“ und nicht möglichst kompliziert zu schreiben. „Wolfgang Schmidbauer ist in dieser Beziehung ein Vorbild.“ Wenn Eva Jaeggi über den Wissenshunger ihres Kollegen spricht, klingt fast so etwas wie Bewunderung durch: „Ich schätze seine in den Büchern immer wieder durchscheinende Kenntnis anderer Wissenschaftsbereiche, etwa der Soziologie, der Politologie und der Geschichte.“
Der Blick über den Tellerrand
„Dieser Blick über den Tellerrand hat Wolfgang Schmidbauer immer von den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen unterschieden“, bestätigt Heiko Ernst. „Er war auch nie ein Schreibtischtäter. Durch seine Arbeit als Therapeut war er immer verbunden mit der gesellschaftlichen Realität. Er war immer ein undogmatischer, umfassend gebildeter Denker. Und: Er war einer, der sich mitteilen wollte. Der weitergeben wollte“, sagt der ehemalige Chefredakteur von Psychologie Heute. „Wir haben in der Zeit nach 1968 ja eine unglaubliche Psychologisierung der Gesellschaft erlebt. Wir denken heute im Alltag in psychologischen Begriffen. Und daran war Wolfgang Schmidbauer mit seinem Schreiben maßgeblich beteiligt. Er ist ein Popularisierer im besten Sinne des Wortes.“
Und jetzt sitze ich dem Mann gegenüber, um mit ihm über sein Leben zu reden. Womit anfangen? Wolfgang Schmidbauer ist Freudianer. Also: über die Eltern. Worüber denn sonst! „Mein Vater ist an der Ostfront gefallen. Ich kannte ihn eigentlich gar nicht“, sagt Wolfgang Schmidbauer. Das Thema der „Vaterlosigkeit“ taucht immer wieder auf während unseres Gesprächs. Das hat ihn geprägt. 1944 wird die Mutter mit dem kleinen Wolfgang und dessen älterem Bruder in München ausgebombt. Die kommenden Jahre leben die drei bei den Großeltern. Entweder in Passau bei der großbürgerlichen Familie der Mutter. Oder im Niederbayerischen auf dem Land, wo die Eltern des Vaters einen kleinen Hof bewirtschaften.
„Schweine, Hühner, vier Kühe – für uns Kinder war das eine Art Paradies.“ In ihrer Fantasie teilen er und sein älterer Bruder die Tiere am Hof untereinander auf. Dabei behauptet der kleine Wolfgang stets, die Leitkuh im Gespann gehöre selbstverständlich ihm – die etwas kleinere Kuh dem großen Bruder. An Selbstvertrauen – womöglich auch an einem guten Maß Narzissmus – scheint es ihm nicht gemangelt zu haben.
Sie war die Hochbegabte
Sein Vater, so erzählt Wolfgang Schmidbauer, hat als armer Bauernsohn in Passau Jura studiert, „ein sehr gutes Examen gemacht“ und eine Stelle beim Staat gefunden. Er steht an der Schwelle zur Verbeamtung, als er in den Krieg muss. Bei einem der wenigen Besuche zu Hause hinterlässt der Vater dem kleinen Wolfgang noch ein Vermächtnis. Als begeisterter Fotograf fertigt er ein ganzes Album mit Aufnahmen seines jüngsten Sohnes. Der Papier gewordene Blick eines stolzen Vaterauges, gesammelt zwischen zwei Buchdeckeln. „Ich habe diese Fotos erst mit 40 wirklich ernsthaft angeguckt. Das hat mich dann aber sehr beschäftigt“, sagt Wolfgang Schmidbauer.
Die ungleich wichtigere Figur in seinem jungen Leben ist jedoch die Mutter. „Sie war eine Hochbegabte. Es gibt so ein herrliches Bild vom Gymnasium Passau. Meine Mutter war die einzige Frau, die da Abitur gemacht hat – mit eins Komma null. Da sitzen alle anderen männlichen Abiturienten und in der Mitte sitzt sie – mit Kostümchen, Haarknoten und Brille.“ Nur die Familienpolitik der Nationalsozialisten verhindert damals ihre Karriere an der Uni. So arbeitet die Mutter als Lehrerin und gibt den Beruf gerne auf, als sie heiratet. Ihr Leben lang sucht sie intellektuelle Anregung. Sie liest Homer im Original und betreibt Sprachstudien – nicht gegen Geld, sondern zum geistigen Vergnügen.
In intellektuellen Dingen, so sagt Schmidbauer, sei die Mutter immer „sehr streng“ gewesen. „Aber das hat mich nicht gestört.“ Bis heute habe er die mütterliche Marotte übernommen, sachliche Fehler der anderen sofort zu verbessern. „Die Leute sind dann manchmal gekränkt und empfinden es als taktlos.“ Und dann hört man wieder sein halbstumm hechelndes Lachen. Ich notiere auf meinem Block das Wort „Selbstironie“. Sehr sympathisch.
Ein Mutterkind
So war das also. Anders als König Ödipus musste der junge Wolfgang Schmidbauer für den Sonnenplatz bei der Mutter keinen Vater erschlagen. Der Tod des Vaters war grausame Wirklichkeit. Mit der Mutter konnte Wolfgang Schmidbauer sich identifizieren. Mit ihrer Klugheit, ihrem Fleiß, ihrer Liebe zu Büchern. Gerne erzählt er die Anekdote, wie er schon als Zehnjähriger in der Bücherei zu Passau die Bände aus der Erwachsenenabteilung lesen durfte. Die Mutter hatte ihm eine Blankobescheinigung ausgestellt. Später, in einer „spätpubertären Fantasie“, wird er davon träumen, Dichter zu werden. „Ich habe auch wirklich einige Gedichte geschrieben und versucht, sie zu veröffentlichen. Das ist mir aber nicht gelungen.“
Statt Poet zu werden, studiert Wolfgang Schmidbauer dann Psychologie in München. „Das war das Fach, das mir am wenigsten Abscheu eingeflößt hat“, sagt er und garniert auch diesen Satz mit einem Schmidbauer-Kichern. Schon bald landet er als Werkstudent bei einem medizinischen Magazin. „Dort bin ich zwar nicht als Lyriker, aber als Journalist entdeckt worden.“ Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr schreibt er dort als freier science writer über Neues aus der Wissenschaft. Das Honorar kann nicht ganz schlecht gewesen sein. Schmidbauer kauft sich mit seiner ersten Ehefrau ein schlichtes, abgelegenes Steinhaus in der Toskana. „Wir haben immer das halbe Jahr in Italien gelebt. Ich habe in der Zeit auch so viel gespart, dass ich auf dem geteilten Grundstück meiner Mutter in Feldafing ein Haus bauen konnte. Das war eine sehr gute Investition.“
Mit Anfang 30 ist dann aber Schluss mit Medizinjournalismus. Schmidbauer beginnt eine psychoanalytische Ausbildung und wird Therapeut. Einer der Gründe dafür ist die Erkrankung seiner ersten Ehefrau. Sie leidet an Schizophrenie. Allein: Das neu erlernte Handwerk heilt weder die Gattin noch rettet es die Ehe. Er habe sich lange für die eigene Naivität und Selbstüberschätzung jener Jahre geschämt, sagt er. Dafür, dass seine Kraft nicht gereicht hat. Und auch das Gefühl von Liebe nicht.
„Heilung durch Liebe
Der Psychoanalyse jedoch bleibt Wolfgang Schmidbauer treu. Wieso er sich ausgerechnet diese Therapierichtung gesucht hat? Wolfgang Schmidbauer lächelt. Er hat die Frage oft gehört und viele Antworten auf Lager. Zum einen, sagt er, war er aus dem Studium bestens mit den Werken Sigmund Freuds vertraut: Seine Dissertation hat er über das Verhältnis von Mythos zur Psychoanalyse geschrieben. „Außerdem ist Freud einfach stilistisch ein wunderbarer Autor.“ Vielleicht hat Schmidbauer im alten Meister auch einen Seelenverwandten gesehen: einen, der neugierig war und forschen wollte. Dem es aber genauso darum ging, mit seinen Erkenntnissen zu helfen. „Es ist ja nicht so, dass der Patient mit einem Problem ankommt und ich die Lösung habe.
Wir begeben uns in einen offenen gemeinsamen Forschungsprozess“, sagt Wolfgang Schmidbauer. Er glaubt – ebenso wie Freud – an „Heilung durch Liebe“. Der Patient, die Patientin auf der Couch, der Therapeut auf dem Stuhl dahinter: Das ist ein fester Rahmen, fast ein Ritual. Dabei entsteht mit der Zeit eine Beziehung zwischen zwei Menschen, und in dieser Beziehung werden Erkenntnis und Gesundung möglich. „Das hat immer gut zu mir gepasst“, sagt Schmidbauer.
Der rein an Biologie und Statistik orientierten Psychologie seiner Studienzeit indes vermag Schmidbauer wenig abzugewinnen. „Da wurde alles dafür getan, einem das Interesse an der Seele auszutreiben.“ Überhaupt hält er es für gefährlich, „eine spirituelle Betrachtungsweise der Welt“ aufzugeben. Wenn wir alles nur auf das Messbare und Zählbare reduzieren, so glaubt er, dann wird letztlich alles profan und der Mensch zum Homo consumens, einem Wesen, das in seiner Gier den Planeten verbraucht, auf dem es lebt – und sich dadurch selbst vernichtet. „Das habe ich schon 1972 so formuliert“, sagt Wolfgang Schmidbauer. „Homo consumens ist wie der Dinosaurier zum Aussterben verurteilt. Und die Frage ist offen, ob Homo sapiens ihn überlebt.“
Das Unbehagen in der Kultur
„Pessimist in der Grundhaltung, Optimist im Alltag und in der Praxis“, so beschreibt er sich selbst. Mag sein, dass die Menschheit untergeht. Doch das Leid des einzelnen Menschen ist womöglich zu lindern. Durch Zuwendung. Mitgefühl. Auch durch Psychoanalyse. Woran leidet der moderne Mensch? Schmidbauers Antwort geht weit zurück in die Geschichte unserer Spezies. In ihren Anfängen, als unsere Vorfahren noch als Jäger und Sammler durch die Savanne zogen, sei sozusagen unsere Hardware entstanden. Also die Art, wie unser Körper und unser Gehirn funktionieren. Die gesellschaftlichen Strukturen dagegen seien erst mit der Erfindung der Landwirtschaft in die Welt gekommen.
Hier stutzt der Kenner! Hat Sigmund Freud in seinem Buch Totem und Tabu nicht etwas ganz anderes erzählt? Nämlich dass der gewalttätige Vater vielmehr schon in der menschlichen „Urhorde“ die ordnende Kraft gewesen sei und seinen Haufen mit brutaler Hand geführt habe? Wolfgang Schmidbauer winkt ab. „Ach, Totem und Tabu, das ist ungefähr die falscheste Sicht auf Primitivkultur, die man haben kann!“ Plötzlich ist es wieder da, das lautlose Schmidbauer-Lachen. „Schauen Sie sich die Forschungsliteratur einmal an. Die Jägerkulturen, die schlagen ihre Kinder nicht. Die sagen: Wer geschlagen wird, der wird ein schlechter Jäger.“ Die erzieherische Gewalt, so Schmidbauer, schleiche sich erst viel später in die Geschichte der Menschheit: nämlich im Neolithikum, also jener Zeit vor einigen tausend Jahren, in welcher der Mensch zum Bauern wird, sesshaft wird, in welcher so etwas wie Privatbesitz entsteht und komplexere Kulturen sich bilden. „Erst der Bauer muss seine Kinder hauen! Der muss streng sein! Weil man natürlich das Saatgut nicht aufessen darf. Man darf das nicht, obwohl’s bequem wäre.“
Wolfgang Schmidbauer macht eine kurze Pause. Kein Lachen. „Das ist genau das, was die ganzen innerpsychischen Konflikte ausmacht. Ich denke das oft bei den Menschen, die zu mir in die Therapie kommen, und ich kann das nur zu gut verstehen. Ich weiß, wie schwer wir Menschen es in der Kultur haben. Weil es so viel Einengung gibt, weil so viel Triebkontrolle notwendig ist. Weil wir unseren Kindern so viel Angst machen, dass aus ihnen später nichts wird.“
Ein kritischer Freudianer
Wolfgang Schmidbauer mag Freudianer sein, aber er widerspricht Freud, wo er es für angebracht hält. An die Psychoanalyse als Therapie glaubt er jedoch noch immer. Zumindest solange sie lebendig bleibt und permanent ihre eigenen Grenzen reflektiert. Er bemüht dazu gerne einen Vergleich: „Solange der Staat Venedig geblüht hat, gab es immer Streit um die Frage, wer dort eigentlich das Sagen hat, wer zu den Patrizierfamilien gehört, die das Schicksal der Stadt bestimmen. Aber irgendwann wurde ein Goldenes Buch angeschafft und da standen dann alle drin, die dazugehören. Und die da nicht drinstanden, die gehörten halt nicht dazu. In diesem Moment hat der Niedergang der stolzen Republik Venedig begonnen.“ Wieder kommt das Schmidbauer-Lachen. Auch die Psychoanalyse werde untergehen, sobald sie „orthodox wird und behauptet, sie hätte ein überlegenes Wissen“.
Der Patient, die Patientin auf der Couch, der Analytiker dahinter, das offene Ohr, um all die Geschichten zu hören, all die Träume mit zu deuten: Das ist jetzt seit 50 Jahren Wolfgang Schmidbauers Handwerk. Was hat diese Zeit mit ihm gemacht? Wolfgang Schmidbauer überlegt einen Moment. „Ich bin jedenfalls immer noch neugierig auf die Menschen“, sagt er. Auch Corona habe seine Arbeit verändert. Manche Patienten trifft er jetzt am Telefon, manche sogar am Rechner per Videocall. „Das geht in manchen Fällen überraschend gut.“
Schon früh merkt Schmidbauer, dass die Einzeltherapie nicht für alle Patienten passt. Er beginnt Sitzungen mit Gruppen. Zehn, zwölf Menschen im Stuhlkreis. Erst 2019 endet seine letzte Gruppe. „Ich hatte gesundheitliche Probleme und dachte, jetzt sollte ich damit aufhören. Heute fehlen mir meine Gruppen.“
Der gesellschaftliche Wandel
Und seine Leidenschaft gilt auch der Paartherapie. „Ich habe ja zwei Scheidungen hinter mir. Das hat mich damals sehr gequält. Zugleich bin ich meinen beiden geschiedenen Frauen aber sehr dankbar, weil ich viel von ihnen gelernt habe. Jetzt bin ich seit 40 Jahren verheiratet. Ich habe so viel Humor und Distanz entwickelt und auch irgendwie Freude an der Bewältigung des scheinbar nicht zu Bewältigenden. Genau das, diese Entwicklung hat mich zur Paartherapie gebracht.“ Sehr viele Paare, so sagt er, finden dadurch wieder besser zueinander. „Die glauben ja dran, dass es wieder etwas wird mit ihnen. Deshalb kommen sie überhaupt zu mir und bezahlen Geld dafür. Die Paare, die nicht mehr daran glauben, die gehen eher zum Scheidungsanwalt.“
Auch an seinen Paaren erkennt Wolfgang Schmidbauer den gesellschaftlichen Wandel. „Auf Tinder bekommen wir heute sehr einfach Kontakt zum nächsten Partner. Das macht es uns leicht, einfach in die nächste Beziehung zu springen. Die Probleme kommen dann später.“ Haben die Paare es heute schwerer? „Das glaube ich nicht. Der Fortschritt macht zwar nicht glücklich, aber auch nicht wirklich unglücklich. Er schafft halt neue Probleme. Es gibt mehr Glücksmöglichkeiten und mehr Unglücksmöglichkeiten. Vermutlich haben die Buddhisten recht: Die Summe der Leiden und Freuden bleibt immer gleich.“
So, es wird Zeit, mit Wolfgang Schmidbauer über seinen Job als Autor zu sprechen. Denn ihm geht es wie allen, die Bücher schreiben: Das eine Werk wird ein Bestseller. Für das nächste interessiert sich keine Seele. Und man hat keine Ahnung, woran es liegt. Empfindet er das als demütigend? „Dazu habe ich schon lange eine Einstellung, die mir sehr hilft. Nicht der Erfolg ist das Wichtigste, sondern die Freude am Handwerk. Am Prozess selbst. Und ich finde, ich bin halt gut und angenehm beschäftigt, wenn ich über irgendwas schreibe, was mich fesselt. Und wenn es dann andere Leute interessiert – umso besser.“
Sein Beleidigtsein amüsiert ihn
Wirklich? Keine Kränkung, wenn ein Buch sich gar nicht verkauft? Kein bisschen? „Na ja. Ich amüsiere mich dann eher selbst mit meinem Beleidigtsein. Wissen Sie, ich habe in meiner Adoleszenz wirklich geglaubt, wenn ich eines Tages zu einer Buchhandlung komme und dann schau ich durchs Schaufenster und da liegt ein Buch von mir, dann hab ich’s geschafft. Doch die Lebensgeschichte erweist, dass das nicht so ganz der Fall ist.“ Den letzten Satz bringt er nur noch stoßweise hervor, weil ihn das Schmidbauer-Lachen jetzt aber so richtig gepackt hat. Er kriegt sich gar nicht mehr ein. Zu komisch: Der junge Kerl, der sich von einem einzigen Buch Unsterblichkeit erhofft. Jetzt sind es schon mehr als fünfzig – und der bald achtzigjährige Wolfgang Schmidbauer weiß, dass er trotzdem noch zu den Sterblichen gehört.
Nur aus Neugier gefragt: Wie kann man so viele Bücher produzieren? Die Antwort: „Indem man jeden Tag schreibt.“ Auch am Sonntag? „Ja, klar. Aber nicht verbissen. Ich würde nie bei schönem Wetter am Schreibtisch sitzen bleiben, wenn ich stattdessen einen Ausflug machen oder baden gehen kann. Schreiben kann man immer. Baden aber nicht.“
Jetzt im Mai wird Wolfgang Schmidbauer 80 Jahre alt. Was kommt noch? „Tja“, sagt er und legt eine Kunstpause ein. „Ich mache so weiter wie immer. Ich schreibe und mache meine Therapie, so lange ich kann. Und irgendwann werde ich nicht mehr können. Und dann werde ich mich halt damit auseinandersetzen.“
5 Bücher von Wolfgang Schmidbauer
Hilflose Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe
Schmidbauers Klassiker. In seinen Therapiegruppen hat er erlebt, was Ärztinnen, Pfleger, Sozialarbeiterinnen und auch Psychologen umtreibt. Bei vielen bemerkte er das „Helfersyndrom“: die Unfähigkeit, sich selbst als hilfsbedürftig und schwach zu erleben.
Rowohlt, Reinbek 2018 (zuerst 1977)
Die Angst vor Nähe
Warum scheitern so viele Beziehungen in der modernen Welt? Wir sehnen uns nach Nähe, ohne sie selbst zulassen zu können. Wie kann man dem entkommen? Antworten liefern viele Fallgeschichten aus dem Therapiezimmer. Ein zeitloser Bestseller.
Rororo, Reinbek 2002 (zuerst 1985)
Die Seele des Psychologen. Ein autobiografisches Fragment
Wolfgang Schmidbauer erzählt von der aufkeimenden Romanze mit seiner ersten Ehefrau, vom gemeinsamen Steinhaus in der Toskana. Aber auch vom Zerfall der Ehe und Schmidbauers konfliktreichen Anfängen in der Psychoanalyse.
Orell Füssli, Zürich 2016
Die Kunst der Reparatur. Ein Essay
Eine Reflexion über die Wegwerfgesellschaft. Schmidbauers These: Wir können uns mit den Dingen neu verbinden, wenn wir lernen, sie zu reparieren. Auch bei diesem Werk gibt es autobiografische Wurzeln: Schmidbauer ist selbst ein stolzer und zupackender Bastler
Oekom, München 2020
Kaltes Denken, warmes Denken. Über den Gegensatz von Macht und Empathie
Eigentlich geht es hier um drei Arten des Denkens. Das kalte rationale Denken will die impulsive Macht des heißen Denkens bezähmen – oft um den Preis eisigen Urteilens und Moralisierens. Schmidbauer setzt dem das warme mitfühlende Denken entgegen.
Kursbuch.edition, Hamburg 2020
Wolfgang Schmidbauer mag Menschen. Aber Beifall braucht er nicht unbedingt. Den spendet er sich selbst
Bücher sucht man in seinem Arbeitszimmer vergeblich. Auf einem Regalbrett stehen kleine afrikanische Metallfiguren
Die Couch, der Analytiker dahinter: Therapie braucht einen Rahmen, ein Ritual, das Sicherheit spendet