Da stehe ich nun und habe Pech gehabt. Ein Aushang verrät: „Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ist für externe Besucher bis auf Weiteres geschlossen.“ Eigentlich soll ich hier im Südwesten Berlins den Psychologen Gerd Gigerenzer treffen. Doch jetzt hat Corona die Türen abgesperrt. Erst nach einigen Irrwegen und zwei Telefonaten holt man mich ab. Dumm gelaufen. Statt den Zettel an der Tür zu lesen, Google Maps zu vertrauen und einen anderen Eingang zu suchen, hätte ich eine viel simplere…
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an der Tür zu lesen, Google Maps zu vertrauen und einen anderen Eingang zu suchen, hätte ich eine viel simplere Strategie wählen sollen: „Warum haben Sie nicht einfach geklingelt?“, fragt Gigerenzers Assistentin.
Genau solche Alltagsentscheidungen sind Gerd Gigerenzers Forschungsfeld. Darin trainiert er Ärztinnen und Patienten, Banker und Privatanlegerinnen, Richterinnen und Fußballfunktionäre – in Deutschland, England, den USA und anderswo. Er gehört zu den bekanntesten Psychologen der Welt. Jetzt lächelt er unter einem breiten Schnurrbart. Wir sitzen an einem länglichen Tisch im Außenbereich des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, wo Gigerenzer 20 Jahre lang Direktor war. Heute – jenseits der siebzig – leitet er das von ihm gegründete Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam.
Doch Gerd Gigerenzer hat nicht nur in der Fachwelt einen Namen. Viele kennen sein Gesicht. Er hat populärwissenschaftliche Bücher geschrieben, übersetzt in mehr als zwanzig Sprachen. Man sieht ihn regelmäßig im Fernsehen. Denn Gigerenzer befasst sich mit dem Alltagsdenken der Menschen und hat deshalb zu vielen Themen etwas zu sagen: Corona, Klimawandel, künstliche Intelligenz, Terrorismus, Wahlverhalten, Bankenkrise – das volle Programm. Und weil er klare, schnelle und effiziente Entscheidungen liebt, haben seine Erkenntnisse Konsequenzen.
Freiheit als Grundrecht
Gerd Gigerenzer ist ein Nachkriegskind. Die ersten drei Lebensjahre verbringt er bei den Großeltern. Sie betreiben damals einen kleinen Bauernhof in Niederbayern. „Das waren arme Leute, die hart gearbeitet haben. Den Wagen des Großvaters haben zwei Ochsen gezogen.“ Er selbst, sagt Gerd Gigerenzer, habe auf dem Land „in unglaublicher Freiheit“ gelebt und später meist die Ferien dort verbracht. „Der Großvater hat alles toleriert, was ich angestellt habe.“ Noch heute ist der bayerische Akzent Gigerenzers deutlich hörbar.
Seine Eltern wohnen mit ihrem Sohn in München. „In der Stadt fand mein zweites Leben statt“, sagt er. Die Mutter ist meist zu Hause, der Vater arbeitet als Handlungsreisender. Frei fühlt sich der junge Gigerenzer auch dort. „Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, eine Stunde Musik üben. Danach ging’s raus bis zum Abend. Wir Jungs haben uns eine Ruine gesucht, eine Höhle, irgendwas, wo man noch Minen, Handgranaten und solche Sachen finden konnte. Man war die ganze Zeit weg.“
Gerd Gigerenzers komplette Karriere lässt sich aus dieser Perspektive verstehen: Freiheit gehört für ihn zu den selbstverständlichen Grundrechten eines Menschen. Vermutlich hat ihn genau dieses Motiv zur Max-Planck-Gesellschaft geführt. Dort besetzt man die Leitungsposten nicht nach komplizierten Formeln, sondern nach einer einfachen Faustregel: Wähle sorgfältig jemanden aus, die oder der erstklassig ist – und lass diese Person dann einfach machen. An den Unis, so sagt Gigerenzer, finde man diese Haltung dagegen kaum noch. Dort herrsche eher ein „System des Misstrauens“. Und so ließ Gigerenzer in den 1990er Jahren eine Bilderbuchkarriere in den USA sausen, um als Direktor zur Max-Planck-Gesellschaft zu gehen. Dorthin, wo er frei sein konnte.
Das Königreich der Intuititon
Faustregeln – sogenannte Heuristiken – sind ein zentraler Forschungsgegenstand von Gerd Gigerenzer. Wie ist es dazu gekommen? In seinem Studium und während seiner Zeit als Doktorand in München interessiert er sich stark für Statistik. Doch dann erlebt er als junger Professor so etwas wie eine Offenbarung: Für ein Jahr geht er nach Bielefeld ans Zentrum für interdisziplinäre Forschung, dort treffen sich Gelehrte aus den verschiedensten Disziplinen und denken gemeinsam über ein Thema nach. In seinem Fall ist dies die „probabilistische Revolution“, also die Frage, wieso man in den Wissenschaften heute so viel mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet.
„Was wir da alles zusammengelesen haben!“, erinnert sich Gigerenzer. „Quantentheorie, Biologie, Soziologie, Ökonomie.“ Dort, so sagt er, seien ihm mehrere Dinge klargeworden. Dass man über seine Fachgrenzen hinaus mit anderen zusammenarbeiten sollte. Dass man die Geschichte hinter den Ideen und Konzepten verstehen muss. Und dass die Macht der Statistik ihre Grenzen hat. Genau dort beginnt das Königreich der Intuition.
Auch im Privatleben wird Bielefeld für Gigerenzer zum Wendepunkt: Hier lernt er seine Frau Lorraine Daston kennen, eine Wissenschaftshistorikerin aus den USA. Die zwei arbeiten für einige Jahre gemeinsam an der University of Chicago („meine Lieblingsuniversität“). Später werden beide Direktoren für die Max-Planck-Gesellschaft. Das Paar wohnt heute in Berlin, die gemeinsame Tochter studiert in den USA.
Die Truthahnillusion
Gerd Gigerenzer trifft, wenn er die Welt betrachtet, eine Unterscheidung, die simpel klingt, aber häufig übersehen wird. Es gibt, so sagt er, „Risiko“ und „Ungewissheit“. Risiko meint: Man weiß nicht, wie’s ausgeht, aber man kennt die statistischen Wahrscheinlichkeiten. Beim Würfeln ist das so. Beim Roulette. Sogar beim Schach. Dem gegenüber steht die Ungewissheit: Auch dort weiß man nicht, wie’s ausgeht. Doch etwas anderes kommt hinzu: Auch die Wahrscheinlichkeiten sind unbekannt. Etwa weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen oder weil das Kräfteverhältnis dieser Faktoren sich permanent ändert, weil die Welt von morgen nach anderen Regeln läuft als die Welt von gestern. Anders als viele andere Fachleute ist Gigerenzer überzeugt, dass zum Beispiel die Finanzwelt hochgradig ungewiss ist. „Deshalb liegen die ganzen teuren und komplizierten Prognosen der Banken auch regelmäßig daneben.“
Ist es gefährlich, Risiko und Ungewissheit miteinander zu verwechseln? Manchmal schon. Gigerenzer erzählt dazu gerne die Geschichte von der „Truthahnillusion“: Wenn man die Zukunft mathematisch aus der Vergangenheit ableitet, dann kommt man als Truthahn zu dem Ergebnis, dass man auch morgen wieder gutes Futter von seinem Bauern zu erwarten hat. Doch dann naht Thanksgiving. „An diesem Tag ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie gefüttert werden, scheinbar größer als je zuvor. Und ausgerechnet an diesem Tag kommen Sie unters Beil.“
Das Bauchgefühl
Was folgt aus der Unterscheidung zwischen Risiko und Ungewissheit? Gerd Gigerenzer sagt: „Wenn Sie es mit einer stabilen Welt zu tun haben, wo es um Risiko geht, wo das Morgen wie das Gestern ist, dann verwenden Sie am besten komplizierte Methoden. Wenn es aber höchst ungewiss ist, dann sind Sie bei Vorhersagen mit einfachen Heuristiken oft genauso gut und ganz sicher schneller. Außerdem verstehen Sie, was Sie da eigentlich tun. Das ist bei komplizierten Modellen und einigen Methoden der künstlichen Intelligenz nicht der Fall.“
Dasselbe gilt fürs Privatleben. Soll man lange nachdenken? Pro-und-Kontra-Listen schreiben? Systematisch abwägen? Oder sich lieber auf sein Bauchgefühl verlassen? „Kommt drauf an“, meint Gigerenzer. In manchen Fällen kann die Intuition besser sein. „Unter Intuition verstehe ich ein Urteil, das unvermittelt im Bewusstsein auftaucht, dessen Gründe uns nicht ganz bewusst sind und das stark genug ist, um danach zu handeln.“ Bauchgefühl, so erklärt er, haben wir, weil ein Großteil unseres Wissens unbewusst gespeichert wird – jenseits der Sprache. Eine Profifußballerin schießt den Ball aus 20 Metern in den Torwinkel. Wenn sie erklären müsste, wie sie das gemacht hat, fände sie keine Antwort. Das ist ein entscheidender Punkt: Intuition braucht Erfahrung, Könnerschaft, Expertise. Sie ist kein siebter Sinn, keine göttliche Eingebung. Bauchgefühl ist umso wichtiger und zuverlässiger, je mehr man von einer Sache versteht.
Gerd Gigerenzer hat es sich längst zur Aufgabe gemacht, möglichst vielen Menschen seine Erkenntnisse näherzubringen. Er hält Vorträge und steht häufig auf der Bühne. Er würzt seine Gedanken mit Anekdoten, Geschichten und gut geschriebenen Gags. Seine Entertainerqualitäten sind kein Zufall. Beinahe wäre aus ihm – er spielt Akkordeon, Gitarre, Bass und Banjo – ein Profimusiker geworden. Mit 17 hatte er in München die ersten Engagements mit einer Tanzkapelle. „Drei Auftritte pro Woche“ habe er gespielt, sagt er, „Freitag, Samstag, Sonntag“.
Professor oder Musiker?
So finanziert er sich sein Studium bis zur Promotion – inklusive eigener Wohnung und schickem Auto: Gigerenzer kauft sich „in einem Anflug jugendlicher Verliebtheit“ einen Opel GT, einen schicken Sportflitzer. Auf YouTube findet man bis heute einen Werbespot aus dieser Zeit. Gigerenzer sitzt darin hinterm Steuer eines neuen Golf. Er und seine Bandkollegen steigen aus und fangen an, Dixieland zu spielen. An die genaue Bezahlung für den Spot erinnert er sich nicht mehr. „Sicher über 500 Mark pro Person.“ Damals sei es ihm viel vorgekommen, in Wahrheit aber „viel zu wenig“ gewesen.
Warum er nach der Promotion Professor wurde und nicht Musiker? „Mir war klar: Als Musiker muss ich spielen, was andere hören wollen“, sagt er. Also entscheidet er sich für die Karriere, die ihm am Ende mehr Freiheit verschafft. Auch hier: Keine lange Pro-und-Kontra-Liste – sondern eine einfache Faustregel, die sich an einem einzigen Kriterium orientiert. Wo werde ich am ehesten frei sein?
Von Menschen, die mal in seinem Team waren, hört man über Gerd Gigerenzer meist ehrliche Begeisterung. Er lässt sich von allen duzen, gewährt seinen Leuten viele Entscheidungsfreiheiten, löst angespannte Situationen bisweilen mit einer Partie Tischtennis an der institutseigenen Platte. „Aber dort spielt er dann schon, um zu gewinnen“, so ist zu hören. Sein größter sportlicher Erfolg auf seinem Lebensweg war übrigens, nach eigenem Bekunden, „dritter Münchner Stadtmeister im Judo“.
Ein zäher Gegner
In seinem Institut sorgt Gigerenzer seit jeher für Vielfalt. Nur einige seiner Stellen besetzt er mit Leuten aus der Psychologie. Die meisten stammen aus anderen Disziplinen. „Auf diese Weise habe ich jeden Tag etwas Neues gelernt“, sagt er. „Meine Leute wussten Dinge, von denen ich selbst keine Ahnung hatte.“ Auch wusste er eine gesunde Streitkultur zu schätzen. Bei unverständlichen Vorträgen habe man an seinem Institut „sofort unterbrochen und nachgefragt“.
Beharrlicher Widerspruch gehört ohnehin zu den Grundmotiven in Gigerenzers Biografie. Er ist ein zäher Gegner. Bei der Bundeswehr ertrotzt er sich Wochenendausgang, um mit seiner Band auftreten zu können („Ich habe meine Anfrage so lange wiederholt, bis der Offizier nachgegeben hat“). Im Studium kämpft er für einen besseren Statistikunterricht, die entsprechenden Dozenten werden tatsächlich ausgetauscht – Gigerenzer bekommt eine Stelle als Tutor. Als junger Doktorand lehnt er das Thema ab, das sein Doktorvater ihm aufgetragen hat („Das hat mich halt nicht interessiert – und ich lebe ja nur einmal!“). In seiner Abschlussprüfung wagt er es sogar, seinen Prüfer öffentlich zu kritisieren („Was Sie da sagen, stimmt nicht!“). Der Professor gibt ihm am Ende die Bestnote. Gerd Gigerenzer scheint keiner Debatte aus dem Weg zu gehen. Vor großen Namen schreckt er dabei schon mal gar nicht zurück.
In seinen Vorträgen erzählt Gerd Gigerenzer mit sichtlichem Vergnügen die Story des Ökonomen Harry Markowitz. Der bekam 1990 den Nobelpreis für sein recht kompliziertes „Minimum-Varianz-Portfolio“. Damit kann man berechnen, wie man am besten sein Geld investieren soll. Viele Banken, so sagt Gigerenzer, schwören auf dieses Modell „und warnen ihre Kunden davor, ihrer Intuition zu vertrauen“. Und dann kommt die Pointe: Markowitz hielt sich bei seinen eigenen Geldanlagen nicht an sein Modell. Er folgte vielmehr einer einfachen Heuristik, nämlich der Faustformel: „Verteile dein Geld gleichmäßig auf verschiedene Anlageformen.“ Studien, so sagt Gigerenzer, haben inzwischen gezeigt, dass diese Faustregel in der wirklichen Welt meist besser abschneidet als die komplexen Methoden der Banken.
Ein Streit zahlt sich aus
Gigerenzers Vertrauen in Intuition und Heuristiken hat ihm gelegentlich Ärger eingebracht. So geriet er ausgerechnet mit den wohl bekanntesten zeitgenössischen Vertretern seines Fachs aneinander: mit Daniel Kahneman und dem inzwischen verstorbenen Amos Tversky, den beiden ersten Psychologen, die je einen Nobelpreis bekamen. Kahneman und Tversky sagen: Unser Denken läuft in zwei verschiedenen Systemen. System eins ist intuitiv, schnell, sparsam – aber fehlerhaft und kaum erziehbar. System zwei ist langsam und ineffizient – aber auch logisch, rational und ziemlich präzise. Gigerenzer kritisiert diese Ideen vor 30 Jahren in einem Vortrag in Stanford, also just an jener Universität, an der Amos Tversky damals lehrt. Der Gast aus Deutschland verteidigt dabei die Kraft der Intuition und weist den amerikanischen Kollegen einige Ungereimtheiten nach.
Tversky habe das „als Affront gewertet“, erzählt Gerd Gigerenzer. „Er war unter Kollegen nicht nur zu Recht verehrt, sondern auch gefürchtet.“ Tatsächlich kommt es nach dem Vortrag zu einer hitzigen Debatte. „Irgendwann hatte Amos keine Argumente mehr und ist persönlich geworden.“ Ehemalige Mitarbeiter behaupten, Tversky sei zutiefst getroffen und verärgert gewesen und habe Gigerenzer beruflich „vernichten“ wollen. Gerd Gigerenzer winkt ab, wenn er heute davon erzählt. „Ja, die Boys waren sehr erfolgreich darin, ihre Kritiker mundtot zu machen.“
Für Gigerenzer jedoch findet die Sache ein glückliches Ende. Denn über die Debatte wird intensiv publiziert. Jeder in der Fachwelt kennt nun Gigerenzers Namen und seine Thesen. Ein tüchtiger beef, ein aufmerksamkeitserregender Streit kann sich auszahlen – in dieser Hinsicht folgt die Wissenschaft denselben Gesetzen wie Facebook und Twitter.
Das Unvorstellbare aufzeigen
Gerd Gigerenzer wird es nicht gerne hören: Aber im Grunde liegen er und Daniel Kahneman mit ihren Thesen gar nicht so weit auseinander. Beide haben herausgefunden, dass wir uns manchmal schwer damit tun, Zahlen und Prozentangaben zu verstehen – aber gleichzeitig glauben, voll den Durchblick zu haben. Gigerenzers Studien haben in dieser Hinsicht ein paar erschütternde Dinge zutage gefördert. Die meisten Ärzte und Ärztinnen sind demnach nicht in der Lage, medizinische Studien richtig zu interpretieren. Bankangestellte verstehen oftmals ihre eigenen Finanzprodukte nicht.
Doch im Gegensatz zu Nobelpreisträger Kahneman ist Gigerenzer davon überzeugt, dagegen etwas tun zu können. Und zwar nicht durch längeres Nachdenken, sondern indem man die Zahlen so darstellt, „dass die Leute sie auch verstehen“. Genau das machen Gerd Gigerenzer und sein Team mit sogenannten „Faktenboxen“, zum Beispiel zum Nutzen von Reihenuntersuchungen zur Krebsvorsorge, sogenannten Screenings. Sie übersetzen Wahrscheinlichkeiten in absolute Häufigkeiten, also etwa: Wie viele von 1000 Menschen erliegen einer Krebserkrankung? Dabei kommt dann heraus, dass Frauen, die an einer Reihenmammografie teilgenommen haben, fast genauso häufig an Brustkrebs sterben wie Frauen ohne Mammografie. Nicht einmal eine von 100 Frauen bleibt aufgrund des Screenings verschont. Wer dieser Logik folgt, wird sich womöglich überlegen, ohne Symptome zur Früherkennung zu erscheinen.
War Gerd Gigerenzer selbst schon einmal bei einer? „Noch nie! Natürlich nicht. Es gibt dafür keinen bewiesenen Nutzen, nur bewiesenen Schaden. Außerdem kann ich doch nicht etwas schreiben und in meinem eigenen Leben dann nicht danach handeln.“ Seit Jahren wirbt Gigerenzer dafür, dass solche Faktenboxen in den Lehrplan der Schulen aufgenommen werden. „Man muss die Kinder risikokompetent machen“, sagt er. „Die Grundprinzipien kapieren sie schon in der vierten Klasse.“ Die Mühen waren nicht umsonst: Gigerenzers Methoden stehen seit einem Jahr in den Mathebüchern für die 11. Klasse. Zumindest in Bayern.
Gerd Gigerenzer hält seinen Auftrag aber noch nicht für erfüllt. Als Max-Planck-Direktor ist er seit 2017 emeritiert. Dennoch sieht man ihn regelmäßig im luftigen und durchaus inspirierenden 1970er-Jahre-Betonbau an der Grenze von Dahlem und Wilmersdorf. Schuld daran ist ein Zufall, der sich vor einigen Jahren in England ereignet: Gigerenzers Buch Das Einmaleins der Skepsis ist für einen Preis nominiert, er fährt also nach London, um einen Vortrag zu halten. Die erwähnten Faktenboxen spielen dabei eine zentrale Rolle: Wie kann man Schülerinnen, Ärzte, Juristinnen und Banker darin schulen, besser mit Wahrscheinlichkeiten und Häufigkeiten umzugehen? Wie führt man sie zu klügeren Entscheidungen? Im Publikum sitzt auch der Milliardär David Harding. „Beim Abendessen habe ich ihm dann gesagt, dass es mein größter Traum wäre, dass man all diese Erkenntnisse jetzt mal konkret umsetzt. Dann kam die erste Million.“
Und so arbeitet der Professor aus Bayern noch immer in Berlin – weil ein sehr reicher Mann aus England ihm das Geld dafür gibt. Gerade habe er von Harding die Zusage für ein weiteres Jahr bekommen, sagt Gerd Gigerenzer. Der Meister der klaren Entscheidung ist jetzt 73 Jahre alt. Er hat sich entschieden, noch eine Weile weiterzumachen. ■
Der Schnauzbart? „War schon vor der Geburt da“
3 schnelle Fragen an Gerd Gigerenzer – und 3 schnelle Antworten
1. Herr Gigerenzer, korrekt, dass die Angst vor der Klimakatastrophe Blödsinn ist?
Nicht korrekt.
2. Man soll sich davor fürchten?
Man hätte allen Grund dazu. Man soll aber lieber was dagegen tun.
3. Elektroauto: ja oder nein?
In Frankreich ja, in Deutschland bringt’s nicht viel.
4. Weil?
Wenn Sie die CO2-Belastung von Anfang der Herstellung bis zur Entsorgung berechnen, dann ist es nicht besser als ein Diesel.
5. Warum bringt es in Frankreich was?
Weil die mehr Atomkraftwerke haben.
6. Weißbier oder Rotwein?
Beides.
7. Sie sind 1969 an die Uni gegangen. Wilde Zeit. Nach welcher Heuristik haben Sie gelebt: Monogamie oder freie Liebe?
Ach. Damals waren wir alle in der freien Liebe drin. Aber dann auch wieder in festen Beziehungen. Da gab es alles. Und Toleranz für alle Formen.
8. Wie oft als Student gegen die Springer-Presse demonstriert?
Wir haben gegen alles Mögliche demonstriert. Vietnam zum Beispiel. Aber gegen Springer? Nie.
9. Wann die langen Haare abgeschnitten?
Hatte ich denn welche?
10. Keine langen Haare?
Na ja, länger als heute. Und natürlich mehr als heute. Aber richtig lang? Nein.
11. Seit wann der Schnauzbart?
Weiß ich nicht mehr. War schon vor der Geburt da.
12. In den 70ern Schmidt oder Strauß gewählt?
Schmidt, klar.
13. Korrekt, dass Gerd Gigerenzer die Coronapandemie am Anfang unterschätzt hat?
Ich habe früh gesagt: Niemand weiß, ob wir die Sache über- oder unterschätzen. Corona ist das perfekte Beispiel für Ungewissheit. Ich gebe aber zu: Ich habe anfangs gehofft, dass wir wieder so glimpflich davonkommen wie bei der Schweinegrippe.
14. Soll man heiraten?
Was für eine Frage! Tja. Warum denn nicht?
15. Soll man vorher eine Pro-und-Kontra-Liste machen?
Darwin hat so eine Liste gemacht. Alle kommen da wohl ein bisschen ins Nachdenken. Vor allem wenn man wie ich eine Amerikanerin heiratet. Wie wird das gehen? Wie soll das weitergehen? Aber am Ende muss man doch aus dem Bauch handeln.
16. Korrekt, dass Sie all Ihre Bücher auf Englisch schreiben?
Stimmt. Ich will nicht nur in Deutschland gelesen werden. Ich schreibe übrigens gerade ein Buch über digitale Risikokompetenz. Kommt vermutlich im Frühjahr.
17. Wann zuletzt eine Speisekarte komplett durchgelesen?
Mache ich selten. Meistens warte ich, was die Person bestellt, die sich am Tisch am besten auskennt. Dann nehme ich dasselbe. Oder ich frage den Kellner, was er selbst an diesem Tag essen würde.
18. Das ist eine Heuristik?
Genau.
19. Man spart damit Zeit?
Ja.
20. Und kriegt auf Dauer besseres Essen?
Ganz klar. Unbedingt richtig.
21. Wenn Sie heute 20 wären – was würden Sie studieren?
Vielleicht Verhaltensbiologie. Ich hatte schon immer eine Liebe zu Tieren und ihrem Verhalten. Oder Astrophysik. Wäre auch spannend. Was da oben alles passiert.
22. Soll man mit 20 lernen, wie künstliche Intelligenz funktioniert?
Man sollte verstehen, was diese Methoden können und was sie nicht können. Das schon.
23. Wenn Sie nur ein einziges Instrument mitnehmen dürften: Gitarre, Bass oder Banjo?
Das Akkordeon.
24. Korrekt, dass Sie schon immer eine Rampensau waren?
Was ist eine Rampensau?
25. Jemand der auf die Bühne gehen und eine gute Show abliefern will. Ein Entertainer.
Der Begriff gefällt mir nicht. Ich kenne viele Leute, die rausgehen, aber nichts zu bieten haben. Aber zugegeben: Es ist wichtig, dass man die Menschen dort abholt, wo sie sind. Und ein bisschen Humor kann auch nicht schaden.
26. Freud oder Jung?
Ach, die Freud-Jung-Phase hat bei mir vielleicht zwei Jahre gedauert. Danach: keiner von beiden.
27. Wie oft mit Daniel Kahneman gegessen?
Puh. Ich hab’s nicht gezählt.
28. Wer hat gezahlt?
Amos Tversky hat mal eine Zehn-Dollar-Wette gegen mich verloren. Er hat dann gesagt: Wir gehen stattdessen zum Lunch.
29. Wie teuer war’s?
Sieben Dollar – für zwei Personen.
30. Haben Sie Chancen auf den Nobelpreis?
Das kann ich nicht kommentieren.
31. Der größte emotionale Moment Ihrer Karriere?
Auf der Bühne als Musiker, wenn wir Jazz gespielt haben. Plötzlich wird aus der ganzen Truppe eine Einheit, es läuft einfach. Man könnte sagen, dass ES auf einmal spielt. Das ist wohl so ein Moment, den mein Kollege Mihály Csíkszentmihályi als „Flow“ bezeichnet.
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Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet
Auch in diesem Buch geht es um Statistik und Emotionen. Und um die Frage, wovor wir uns eigentlich fürchten sollten – und wovor eher nicht.