Die Rede vom Sinn im Alltag beginnt schon bei einem einfachen Satz, der „Sinn macht“, wenn sich aus der Abfolge von Wörtern eine Aussage ergibt. Ansonsten sprechen wir eher von einem sinnlosen Gestammel: „Das macht doch keinen Sinn.“ Sätze werden durch ihre Abfolge zu einem Text, der sich verstehen lässt. Jede Beziehung, die Menschen zueinander eingehen, sodass sie sich miteinander verbunden fühlen, erfüllt sie mit Sinn.
Als „sinnlos“ kann hingegen empfunden werden, wenn Menschen ihr Tun nicht aufeinander…
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wenn Menschen ihr Tun nicht aufeinander abstimmen und somit zusammenhanglos agieren. Als „unsinnige“ Idee wird eine bezeichnet, die offenkundig keine, falsche oder schwer nachvollziehbare Zusammenhänge herstellt. So lässt sich sagen: Sinn, das ist Zusammenhang, Sinnlosigkeit demzufolge Zusammenhanglosigkeit.
Was hat das mit Kreativität zu tun? Es ist das Merkmal von Kreativität, Zusammenhänge, Verbindungen, Beziehungen aufzuspüren und zustande zu bringen. Neue Möglichkeiten resultieren daraus, überraschende Perspektiven tun sich auf, Lösungen für Probleme gehen daraus hervor, Erkenntnisse sind zu gewinnen, mit denen bestehende Dinge zu verstehen, andere zu entwerfen sind. Immer wieder gelingt es, mit der Sinnfrage Zusammenhänge zu erschließen, zu finden und auch zu erfinden: Nicht immer handelt es sich dabei um die bewusste Suche eines Ich, oft um die unbewusste eines unbestimmten Es (nicht „ich denke“, sondern „es denkt“), die zur Quelle der Kreativität wird, diese wiederum zur Grundlage für Innovation, individuell, gesellschaftlich, wissenschaftlich, wirtschaftlich.
Der Mensch als sinnbedürftiges Wesen
Was aber beim Fündigwerden geschieht, wird spürbar, wenn es gelingt, auseinanderliegende Dinge zusammenzudenken, überraschende Verbindungen zu entdecken, neue Beziehungen einzugehen: Wo ein Zusammenhang ist, fließt Energie. Vermutlich aus diesem Grund ist der Mensch ein sinnbedürftiges Wesen: Weil Sinn die Zusammenhänge herstellt, in denen Energien fließen können. Sinn stillt den Energiehunger des Menschen, dem das naturgegebene Energiequantum nicht auszureichen scheint, vermutlich weil sein Denken, seine Arbeit an Kunst und Kultur enormer Ressourcen bedarf.
Und wenn es an Sinn in seinem Leben fehlt? Dann wird es zur Aufgabe seiner bewussten Lebensführung, seiner Lebenskunst, danach zu suchen, um wieder Zusammenhänge zu finden und neue zu schaffen. Den, der ein sinnerfülltes, kreatives Leben führen will, sollen die nachstehenden Überlegungen zu eigenen Ideen anregen, bezogen auf die verschiedenen Bereiche und Reichweiten des Sinns.
Eine Quelle der Kreativität ist zuallererst die Suche nach sinnlichen Zusammenhängen und ihre Entdeckung, denn dies ist der elementarste Sinn im Leben: der Zusammenhang zwischen Selbst und Welt, Selbst und anderen, der durch die körperlichen Sinne vermittelt wird – vorausgesetzt, sie können sich reichhaltig entfalten. Die Kunst kann dabei behilflich sein: Als der Regisseur Robert Wilson im ausgehenden 20. Jahrhundert Theaterstücke zu inszenieren begann, gingen vielen Besuchern angesichts opulenter Spiele mit Licht, Farben und Formen die Augen über, und die Frage war: Darf man das? Einfach nur so für die Sinnlichkeit? Ganz unkritisch? Aber Kreativität besteht darin, die Sinne zu öffnen, die eigenen und die von anderen, um mit den Augen die Sinnlichkeit eines schönen Anblicks wahrzunehmen, mit den Ohren den Zusammenhang von Tönen, durch den eine musikalische Komposition bereits auf sinnliche Weise Sinn vermitteln kann. Der Geruchssinn wird von Duftkompositionen stimuliert, der Geschmackssinn von der Kompositionskunst zahlloser Köche in Haushalten und Restaurants. Hinreißende Kreativität bewies der Unbekannte, der einst nach einer Verbindung suchte zwischen dem Bedürfnis, Fleisch zu essen, und dem Fastengebot, keines zu essen: Wie könnte sich beides miteinander vereinbaren lassen? Maultaschen sind die Antwort, schwäbisch „Herrgotts b’scheiserle“ (für alle, die nichts verstehen außer Hochdeutsch: „Gottesbetrüger“, da die Teighülle das Fleisch vor den Augen religiöser Kontrolleure verbergen sollte).
Quellen der Kreativität: Sex, Natur, Seele
Der Gipfel des sinnlichen Sinns ist wohl die Erotik. Nach diesem Sinn zu suchen, macht außerordentlich kreativ, ihn zu finden ebenso: Berührungen und Umarmungen regenerieren mühelos die Kräfte von Menschen und setzen Energien frei. Vor allem Sex ist eine Quelle der Kreativität ohnegleichen, denn wenn der Körper dominiert, kann der Kopf sich erholen und neue Inspiration gewinnen. Fluten von Serotonin ermöglichen vielfältige Verknüpfungen im Gehirn, die gerade in Zeiten der Einfallslosigkeit neue Einfälle hervorbringen. Probleme des Denkens lösen sich auf, denen durch Grübeln nicht beizukommen war.
Sehr viel kreative Kraft ist außerdem aus der sinnlichen Begegnung mit der Natur zu beziehen, in der auf staunenswerte Weise alles mit allem zusammenhängt – wenigstens für einen Moment kann ein Mensch sich wieder in dieses große Ganze eingegliedert fühlen, sei es bei der Arbeit im Garten oder bei einem Spaziergang im Wald. In Zeiten voller Sinnlichkeit ist es leicht, sinnerfüllt und kreativ zu sein, und die einzige Voraussetzung dafür ist, diesen Zeiten eine Chance zu geben, sie auch selbst zu arrangieren, sie tief in sich aufzunehmen und der sinnlichen Verführungskraft des Lebens nachzugeben. Wie wichtig das ist, zeigt die Gegenprobe: Könnte ein Mensch nichts mehr sehen, hören, riechen, schmecken, berühren, fände er sich in einem schwarzen Nichts wieder, in dem er nicht lange überleben würde.
Eine weitere Quelle der Kreativität ist die Suche nach seelischen Zusammenhängen und die Sorge um ihre Bewahrung, wenn sie gefunden sind. Menschen entfalten eine enorme Kreativität auf der Suche nach Beziehungen, von denen sie seelisch, also in ihren Gefühlen berührt werden. Die Beziehungen wiederum steigern die Kreativität für alles Mögliche, da sie Zugang zu zusätzlichen Energien eröffnen. Das Vertrauen, das in positiven Beziehungen entsteht, stärkt das Selbstvertrauen, das schöpferische Kräfte freisetzt. Was die gefühlten Energien bewirken können, ist am stärksten in Zeiten der Verliebtheit erfahrbar: Alles wirkt heller, liebenswerter, rosiger, voller Sinn, und die Liebenden würden am liebsten „die ganze Welt umarmen“.
Feindschaft kann „beseelen“ und Kreativität befördern
Sobald Irritationen in der Beziehung auftauchen, brechen typischerweise aber auch wieder Sinnfragen auf: Warum sind wir zusammengekommen? Was verbindet uns? Wozu überhaupt noch zusammen sein? Die neuerliche Suche nach Sinn wird wieder zur Quelle der Kreativität, um sich in der bestehenden Beziehung oder über sie hinaus neu zu orientieren. Sollte der Zusammenhang zwischen beiden jedoch endgültig zusammenbrechen, erscheint ihnen die Welt mit der Entbehrung der Liebe dunkler, liebloser, schwärzer, das Leben versinkt in totaler Sinnlosigkeit.
Einen seelischen Zusammenhang bringen aber auch negative Gefühle wie Misstrauen und negative Beziehungen in Form von Feindschaft zustande, eine bemerkenswerte Kreativität geht auch hieraus hervor: Feinde wecken schier übermenschliche Kräfte, die nicht so schnell versiegen und von denen jeder, der einen Mangel an Motivation in seinem Leben und ein Manko an Inspiration in seiner Arbeit verspürt, dankbar Gebrauch machen kann. Der Ehrgeiz, „es ihnen zu zeigen“, ist ein Anreiz zu größten Anstrengungen.
Wollen Feinde, wirkliche oder vermeintliche, jemanden benachteiligen, etwa in einem Unternehmen oder einer Institution, kann der Betroffene sich einen Vorteil daraus machen und tief Luft holen für neue Projekte. Wollen sie sein Fortkommen behindern und ihn auf verlorenen Posten stellen, kann er sich darin üben, schwierige Situationen zu bewältigen. Auf wundersame Weise gelingt es ihm jetzt, seinem Anliegen schärfere Konturen zu verleihen, und je mehr er es schafft, sein Können unter Beweis zu stellen, desto mehr werden die Feinde ins Unrecht gesetzt, was sie zwar zu neuen Untaten anstachelt, den Betroffenen aber zu neuen Taten motiviert – ein Perpetuum mobile, eine Maschine zur Produktion exzellenter Leistungen. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Wort Feindseligkeit erst seine volle Bedeutung: Feindschaft kann einen Menschen geradezu beseelen, seiner Existenz Seele, also Energie verleihen und Kreativität ermöglichen. Vielleicht suchen Menschen auch aus diesem Grund manchmal unbewusst nach Feindschaft, vor allem dann, wenn es ihnen an anderen Sinnquellen mangelt.
Ideen und Gedanken: Evolution im Kleinen
Besonders kreativ macht zudem die Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen, unabhängig davon, ob freundliche oder feindselige Gefühle damit einhergehen. Unwillkürlich entsteht durch die Gefühle ein Zusammenhang mit ihnen, auch wenn er nicht willentlich gesucht wird. Die Spannung zwischen Unterschieden und Gegensätzen setzt Kräfte frei, die Suche nach Brücken treibt neue Ideen hervor, die Übertragung von Ideen aus einer Kultur in die andere ist ein Teil der Kreativität. Die Erfahrung, dass vieles auch anders gesehen werden kann, macht es leichter, bestehende Zusammenhänge infrage zu stellen und andere für möglich zu halten. Daher die Bedeutung der Diversity in Unternehmen. Andere Kulturen sind dabei nicht etwa nur regionale, nationale, politische und sprachliche Kulturen, sondern auch schon die unterschiedlichen Arten zu denken, zu fühlen, zu entscheiden zwischen Männern und Frauen, ebenso die unterschiedlichen Berufskulturen. In besonderem Maße macht der Umgang mit Kindern kreativ, die auf ansteckende Weise unablässig nach Zusammenhängen fragen und fantastische Ideen dazu entwickeln. Immer an den Kreuzungspunkten von Kulturen werden neue Verbindungen angeregt und hervorgelockt, ja geradezu erzwungen: Hier sprudeln ergiebige Quellen der Kreativität. Dort, wo Kulturen sich tagtäglich begegnen, in Familien, Institutionen, Städten, auf Reisen, an Grenzen, geschieht dies standardmäßig.
Eine Quelle der Kreativität ist ferner die Suche nach Sinn in geistigen Zusammenhängen. Jedes Lernen, jedes Gespräch, jede Lektüre, jede Deutung und Interpretation ist eine gedankliche Bewegung, mit der Menschen wirkliche Zusammenhänge zu fassen und zu verstehen versuchen sowie mögliche sich ausdenken. Zwischen den Neuronen des Gehirns entstehen dabei Synapsen, also diejenigen Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die die physiologische Grundlage des Sinns bilden.
In Ideen und Gedanken werden ständig unendlich viele Möglichkeiten von Verbindungen durchgespielt – eine verinnerlichte und beschleunigte Evolution im Kleinen, sofern Gedanken als neuronale Variationen und Mutationen zu verstehen sind, die teils von selbst geschehen, teils willentlich entworfen werden. Nicht alles daran ist eine bewusste gedankliche Arbeit, vieles geschieht unbewusst in Träumen, die versuchsweise alles mit allem verknüpfen, am Tag und in der Nacht. Vielleicht aus diesem Grund meinte Fernando Pessoa in seinem Buch der Unruhe, das einen Eindruck von diesem Prozess vermittelt, „dass aller Sinn im Schlafen liegt“ (Notiz 39 vom 21. 2. 1930). In der Konfrontation mit der bestehenden Wirklichkeit kommt es dann zur Selektion, bei der vieles wieder verworfen wird.
as „zweckfreie Spiel des Denkens“
Eine reiche Quelle der gedanklichen Kreativität ist die hermeneutische Fähigkeit eines Menschen, sich vieles vorstellen zu können und anders als gewohnt zu denken und zu deuten (Griechisch: hermeneuein). Eine gute Übung dafür ist alles, was Gedanken anregt, der Besuch einer Ausstellung beispielsweise: Ausstellungen vermitteln überraschende, bekräftigende, dann wieder fragwürdige und rätselhafte Sichtweisen. Sie schaffen Freiräume, in denen der Besucher saumselig umherwandern und neue Zusammenhänge aufspüren kann, angeregt von den Objekten der Kunst, aber auch gänzlich losgelöst davon, denn die Gedanken schweifen ab und finden ihre eigenen Sujets.
Schweifen Ihre Gedanken auch gerade ab? Kein Problem, das ist ein Zeichen von Kreativität. Kreativ macht jede Begegnung mit Gedanken anderer in Bildern, Büchern, Zeitungen, Vorträgen und Gesprächen; Zusammenhänge kommen dabei zum Vorschein, die zuvor nicht im Blick waren. Das ist auch der Sinn von Gesprächen, wie schon Sokrates sie führte: wechselseitig Hebammenhilfe beim Gebären von Gedanken zu leisten, sich wechselseitig über das eigene Denken klarer zu werden, alte Anschauungen zu überprüfen und neue Anregungen aufzunehmen.
Beim Reden entstehen die besten Einfälle, und auch wilde Assoziationen sind gut, um die Gedanken zum Tanzen zu bringen: Prinzip des Brainstormings. Jedes Spiel mit Ideen, Worten, Formen, gewagten Behauptungen, steilen Thesen, ungewöhnlichen Deutungen ist ein Hort der Kreativität. André Breton beschrieb dies im ersten Manifest des Surrealismus 1924 als das „zweckfreie Spiel des Denkens“. Gerade der Verzicht darauf, Zusammenhänge finden zu wollen, lockt sie hervor.
Möglicher Sinn des Seins: Alle Möglichkeiten verwirklichen
Als enorme Quelle der Kreativität hat sich seit jeher die Suche nach einem umfassenden Zusammenhang erwiesen, nach einem Sinn über die Wirklichkeit und Endlichkeit von Mensch und Welt hinaus. Die weitestmögliche Perspektive und reichste Energiequelle tut sich auf, wenn im Denken und Fühlen die engen Grenzen der gewöhnlichen Erfahrungswelt überschritten werden können. Das wird oft mit Religion in Verbindung gebracht, kann aber auch unabhängig von bestimmten Religionslehren ein Anliegen von Menschen sein, die ein Überschreiten des Wirklichen und Endlichen, also eine Transzendenz (von Lateinisch transcendere, überschreiten) grundsätzlich für möglich halten.
Dass ein transzendenter Sinn möglich ist, ahnen Menschen, die in intensiver Sinnlichkeit, in einer starken Bewegtheit durch Gefühle und bei ausgiebigen Exkursionen ins Reich der Gedanken ungewöhnlich tief in die Energien eintauchen, die dem Leben zugrunde liegen. Zeiten der Selbstvergessenheit lassen vermuten, dass da „noch etwas anderes ist“, und die Auflösung des Zeitgefühls in solchen Momenten lässt den Eindruck wach werden, dass die Energie, die dabei erfahrbar wird, das Eigentliche des Selbst ist, das nicht der Zeitlichkeit unterliegt. Fortan sucht ein Mensch nach dieser Erfahrung und entwickelt viel Kreativität, um sie wiederzufinden. Ein Sinn über das Leben hinaus kommt dabei in den Horizont, der nicht an die Beweisführung gebunden ist, dass es ihn wirklich gibt.
Sollte es aber einen umfassenden Sinn geben, worin könnte er bestehen? Auch wenn eine letzte Antwort darauf kaum möglich sein dürfte, regt die Frage danach zu kreativen Spekulationen an. Der Sinn des gesamten Seins könnte sein, alle Möglichkeiten des Seins zu verwirklichen und, wenn der Prozess jemals an ein Ende gelangen sollte, wieder von vorne zu beginnen. Schon das bisher bekannte Universum vermittelt einen Eindruck davon, dass es in der Welt der Sterne keine noch so abseitige Möglichkeit gibt, die nicht real werden würde. Das Leben in den letzten Winkeln des Planeten Erde beweist, dass auch das, was unmöglich erscheint, wirklich wird. Ebenso könnte der Sinn des menschlichen Seins darin liegen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten durchzuspielen, auch absurde Möglichkeiten, sodass sich sagen ließe: Die Menschen spinnen, aber das ist ihr Job. Vieles in der Welt lässt sich dann etwas nachsichtiger betrachten.
Kunst: das „Möglichkeitskraftwerk der Moderne“
Eine überbordende Quelle der Kreativität ist überdies die Kunst, sind alle Künste, und nur zum Teil aufgrund der Suche nach Sinn, nach Zusammenhängen. Auch ohne Suche finden Künstler (Picasso: „Ich suche nicht, ich finde“) nie gesehene oder nie beachtete Zusammenhänge und erfinden neue, ungewöhnliche; viele scheinen sich von selbst zu zeigen oder zu fügen. Als Quelle der Kreativität wird dabei zuweilen eine „göttliche Inspiration“ angenommen, aber auch bloße Zufälligkeit könnte im Spiel sein. Von Bedeutung ist sicherlich die Sensibilität für mögliche und wirkliche Zusammenhänge, durch die viele Künstler sich auszeichnen. Einigen ist die völlige Sinnfreiheit ihrer Arbeit wichtig, womit sie meist die Freiheit von teleologischem Sinn, von Ziel und Zweck (griechisch telos) meinen.
Die Logik, die für die rationale Sicht der Welt ein Kriterium für Sinn darstellt, wird in der künstlerischen Tätigkeit weit für den sogenannten Unsinn geöffnet, für das scheinbar Unzusammenhängende, das dennoch zu neuem Sinn, zu neuen Zusammenhängen führen kann. Auch das Zerschneiden und Zerstückeln bisheriger Zusammenhänge, praktiziert etwa in der dadaistischen Kunstform der Collage, kann sinnvoll sein, um Raum für neue Zusammenhänge, neue Möglichkeiten zu schaffen. Erscheinen die kreativ aufgespürten und hergestellten Zusammenhänge interessant, spannend, reizvoll, attraktiv, wird ein Kunstwerk gerne schön genannt. Schönheit ist dabei kein feststehender, sondern ein stets von Neuem umstrittener Begriff, um den es in der Kunst wie im Leben auch dann geht, wenn er vermieden oder verneint wird: Schön erscheint das, was bejaht werden kann, auch wenn andere es nicht schön oder gar hässlich finden. Es bereichert das Leben eines Menschen, auch wenn nicht zu erwarten ist, dass irgendwann alles im Leben nur noch schön sein wird. Bejaht wird es, weil Energie darin zu finden ist, eine Verdichtung von Möglichkeiten. Ein Künstler kann an einem Werk nur arbeiten, wenn er Energie daraus bezieht. Ein Betrachter wiederum wird genau dann von einem Werk erfasst, wenn er Energie in ihm spürt.
Das könnte der Sinn von Kunst sein: Mögliche Zusammenhänge zu suchen, zu finden und zu erfinden, in der Moderne mehr als je zuvor, denn Kunst ist das Möglichkeitskraftwerk der Moderne. In der Kunst kommt der Mensch zu seiner Erfüllung, wenn es wahr ist, dass er das Wesen der Möglichkeiten ist. Jedenfalls hebt sich seine Fähigkeit, neue und immer andere Möglichkeiten zu suchen und zu finden, deutlich von den Lebensbedingungen anderer Wesen ab, die an ihre Wirklichkeit gebunden bleiben: Anthropologie der Kreativität. Seit seinen Anfängen ist der Weg des Menschen undenkbar ohne Kreativität. Sie wurde in der Moderne nicht neu erfunden, nur zu neuer Bedeutung gebracht von künstlerischen Avantgarden. Schon die Aufklärer dachten sich im 18. Jahrhundert die neue Zeit als eine, die auf Gedankenfreiheit und das freie Spiel der Ideen setzt, um alte Strukturen aufzubrechen und neue zu entwerfen. Die künstlerische Kreativität, ebenso die wissenschaftliche, technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche (die Suche danach, was Zusammenhänge zwischen Individuen stärkt) treiben seither die Modernisierung an. Eine stürmische Entwicklung wie nie zuvor in der Geschichte kam so zustande. Auch eine Veränderung der Moderne ist wieder auf einen Schub an Kreativität angewiesen. Das könnte der Sinn der heftiger werdenden Suche nach Sinn sein: Sie setzt neue Kreativität frei und markiert damit den Beginn einer anderen Zeit.
Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. 2012 wurde ihm der Meckatzer-Philosophiepreis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie verliehen. Homepage: www.lebenskunstphilosophie.de.
Neuestes Buch: Dem Leben Sinn geben. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen und der Welt, Suhrkamp, 2013.