An der Praxistür hängt ein gelber Zettel: Bis zum 9. Januar 2023 geschlossen. Ralf T. Vogel gönnt sich ein Sabbatical, ein knappes Jahr lang betreut der Psychologe und Psychoanalytiker niemanden, schreibt keine wissenschaftlichen Bücher und lehrt nicht an Universitäten. „Innehalten am Beginn des voraussichtlich letzten Drittels des Lebens“, nennt es der 59-Jährige. Als ich ihn Ende März 2022 in Ingolstadt besuche, liegt das Gros seiner Auszeit noch frisch vor ihm. Zu unserem Gespräch bittet er mich in seine…
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nennt es der 59-Jährige. Als ich ihn Ende März 2022 in Ingolstadt besuche, liegt das Gros seiner Auszeit noch frisch vor ihm. Zu unserem Gespräch bittet er mich in seine nunmehr verwaisten Praxisräume, die im Souterrain seines Wohnhauses liegen. Das sei ein guter Ort, um sich zu unterhalten. Zwei bequeme Sessel, dazwischen ein niedriger Tisch, auf der anderen Seite eine Couch und Bücherregale. Im Ofen brennt bereits ein Feuer, eine angenehme Wärme erfüllt den Raum.
Wenn Vogel hier seine Patientinnen und Patienten trifft, dann kommt in den Pausen zwischen den therapeutischen Sitzungen oft seine Katze herunter, um zu schmusen. Dafür ist Zeit. Denn mindestens 25 Minuten gönnt Vogel sich zwischen zwei Therapiesitzungen. Er möchte sich auf die Menschen einlassen. So wie er sich auch insgesamt meist viel Zeit nimmt, seine Patientinnen und Patienten therapeutisch zu begleiten, oft über Jahre hinweg. „Psychoanalytisch kann ich nicht mit Geschwindigkeit arbeiten“, sagt er. Wenn jemand in die Therapie kommt und eine schnelle Lösung will, könne er das nicht bieten. „Vogel wirkt nicht sofort“, sagt er und lacht.
Seine langen grauen Haare hat Vogel zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er sitzt zurückgelehnt im Sessel, spricht mit einem weichen bayerischen Klang und strahlt Ruhe aus. Dabei mag er durchaus auch Tempo. Vor seinem Haus stehen die „Dicke Berta“, 340 Kilogramm schwer, und die „Eiserne Lady“, seine beiden Motorräder. Fast täglich ist er mit ihnen unterwegs, im Urlaub auch auf größeren Touren. Im vergangenen Jahr ist er mit einem Freund in den USA die Route 66 gefahren. In der Bikerszene interessiert sich keiner dafür, an welchen Universitäten Vogel unterrichtet oder wovon seine zahlreichen Bücher handeln.
Das Individuum in seiner Not
Ralf T. Vogel ist Psychologe, Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut, hat eine Honorarprofessur an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Er ist einer der profiliertesten Kenner von C.G. Jung, einem der Pioniere der Tiefenpsychologie und Psychotherapie, und arbeitet als Lehranalytiker am C.-G.-Jung-Institut Zürich. Vogel ist es maßgeblich zu verdanken, dass in Deutschland das Thema Tod und Sterben in den vergangenen Jahren stärker in die Aus- und Weiterbildung für Psychiaterinnen und Psychotherapeuten aufgenommen wurde.
Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Ralf T. Vogel mit diesen existenziellen Themen. „Es gibt keine eindeutigen Antworten auf die Fragen nach dem Tod“, sagt er. Diese Erkenntnis, die er bei Jung wiedergefunden hat, gilt auch für seine therapeutische Arbeit. „Wenn jemand mit Todesängsten zu mir kommt, dann ist natürlich am Ende der Therapie das Thema Tod und Sterben nicht gelöst. Das wäre auch gar nicht möglich. Ein gutes Ergebnis von Psychotherapie ist, dass der Patient diese Todesängste einordnen kann, dass er einen Umgang mit diesen existenziellen Themen gefunden hat, auch ohne sie zu lösen.“
Vogel ist von ganzem Herzen Jungianer, doch er begnügt sich nicht damit, sich in einem geschlossenen Lehrgebäude wohlig einzurichten. Eines seiner großen Anliegen ist, die verschiedenen psychologischen Schulen und Therapieformen stärker miteinander zu verbinden, ihre Unterschiede herauszuarbeiten und einzelne Elemente konstruktiv und reflektiert zu kombinieren. Damit stößt Vogel aber auch auf Widerstand in der Therapieszene und an der Universität. Bei manchen eckt er an, weil er sich mit Spiritualität und Mythologie befasst. Und einige Kolleginnen und Kollegen aus der Tiefenpsychologie verstehen nicht, warum er auch Verhaltenstherapie wertschätzt.
Vogel lehnt jede Dogmatik ab. Theorien hinterfragen, Standpunkte nicht für unfehlbar halten, andere Ansichten zulassen, das gehört für ihn ebenso zu seinem Leben wie zu seiner Arbeit. Er sagt: „Wir sind Wesen, die mit Unsicherheit, mit Ungewissheiten zurechtkommen müssen. So zu tun, als könnten wir etwas sicher und unfehlbar wissen, ist schädlich.“
Dem Geheimnis des Menschen auf der Spur
Vogel ist Herausgeber einer wissenschaftlichen Buchreihe und seine Bücher erscheinen in wissenschaftlichen Verlagen, sie erfüllen alle akademischen Ansprüche. Doch eine Karriere an der Universität habe er nie angestrebt, sagt er. Denn die Methode der exakten Wissenschaft habe ihrerseits Grenzen. Vogel ist überzeugt davon, dass man mit den klassischen Mitteln der Forschung „das letztendliche Geheimnis des Menschen nicht lüften kann, sondern dass das immer ein Stück offenbleibt“. Ein Geheimnis, dem wir uns annähern, das wir aber nie ganz erfassen können. „In der akademischen Psychologie sind eindeutige Aussagen gefragt, Fakten, die mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit nachgewiesen wurden. Das ist nicht mein primärer Zugang zum Seelenleben des Menschen“, sagt Vogel.
Lieber hält er es mit dem griechischen Begriff der Aporie, der Erkenntnis des Nichtwissens. „Tiefenpsychologie und Psychotherapie sind aporetische Wissenschaften, sie beschäftigen sich per se mit Themen, die man nicht endgültig wissen kann, die man immer ein bisschen erahnen muss, für die man Intuition, Relativierung und Skepsis braucht. Was heute stimmt, kann morgen schon wieder anders sein. Wenn man über sich selbst nachdenkt, denkt man heute darüber ein wenig anders als gestern, weil man inzwischen mehr Erfahrungen gesammelt hat.“
Die Psyche des Menschen sei nie eindeutig, nicht berechenbar, sie lasse sich nicht in feste Schemata pressen. Doch leider sei die Psychologie „zu einer Art Naturwissenschaft geworden, und dabei ist viel verlorengegangen“, kritisiert er. Ein solch einseitiger Zugang ignoriere das tiefe Wissen über die Menschheit, die Wurzeln der Psychotherapie, die weit in die Philosophie, aber auch in die Mythologie und Spiritualität hineinreichten.
Im Angesicht der eigenen Unsicherheit
„Psychotherapie befasst sich mit einem leidenden menschlichen Individuum, das als Ganzes in seiner Not gesehen werden will und sich der Reduktion seines Leidens auf operationalisierbare Symptome immer wieder widersetzt“, so schreibt Vogel in seinem Buch Existenzielle Themen in der Psychotherapie. Er fordert: Wer Psychotherapie betreibt, muss sich auch mit existenziellen Fragen beschäftigen.
„Diese Uneindeutigkeit, das Nichtvorhandensein einer Lösung oder einer Antwort auf existenzielle Fragen macht es auch für Therapeuten so schwierig, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.“ Als Beispiel nennt Vogel das Thema Sterben: „Da weiß kein Mensch, was richtig ist, und es gibt keine Methode, die eine Lösung verspricht. Stattdessen musst du dich als Therapeut mit deiner eigenen Unsicherheit auseinandersetzen, und das ist etwas, das erst einmal Angst macht.“
Gleichwohl, so Vogel, können auch bei einer analytischen Psychotherapie verhaltenstherapeutische Elemente bisweilen sinnvoll sein. Wenn man solche Techniken in sein Repertoire integriere, gebe man deshalb ja noch lange nicht seine therapeutische Grundhaltung auf, sagt Vogel und macht das an einem anderen Beispiel klar: „Wenn ich mit Kunsttherapeuten oder Musiktherapeutinnen zusammenarbeite, stelle ich doch deshalb meinen sprechenden Zugang nicht infrage, sondern kann ihn ergänzen.“ Vogel schätzt die analytische Psychologie C.G. Jungs auch deshalb so sehr, weil er dort eine große Offenheit findet.
Schulverdruss und frühes Fernweh
Eine Methode Jungs, die Vogel sehr gern anwendet, ist die „aktive Imagination“, eine spirituelle und therapeutische Selbstarbeit. „Das Hinabtauchen in den mundus imaginalis, in die bildhaften Schichten der Seele, ist für mich zu einem unschätzbaren Mittel der Selbsterforschung und -entwicklung geworden.“ Dabei geht es darum, innere Bilder aus dem Unbewussten aufsteigen zu lassen und kreativ mit ihnen zu arbeiten. Auf diese Weise soll man mit den tieferen Schichten der Seele in Kontakt kommen.
Jung sei es gelungen, religiöse und philosophische Erkenntnisse mit statistisch-naturwissenschaftlich gewonnenem Wissen zu verbinden und dabei verschiedene imaginative und kreative Therapiemethoden zu entwickeln. „Er arbeitete viel mit Unausgesprochenem, mit inneren Bildern, mit der Imagination, und gleichzeitig hatte er als Psychiater das handfeste Ziel, das Leid der Menschen lindern zu wollen“, sagt Vogel. Diese komplementäre psychologische Denkweise findet Vogel auch im Fachbereich der Psychotherapiewissenschaft wieder, in dem er an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien habilitierte.
Vogel steht auf, öffnet die Klappe des Ofens und legt Holzscheite nach. Das Feuer knistert und flammt erneut auf. Er setzt sich wieder in den Sessel und schweigt kurz. „Sehr vieles von dem, was heute mein Leben ausmacht, war lange Zeit für mich undenkbar“, sagt er dann. Aufgewachsen ist Vogel in einfachen Verhältnissen in einem Arbeiterviertel in Ingolstadt. In der Familie seines Vaters war er der Erste, der eine höhere Schulbildung erhielt. An die Zeit auf dem Gymnasium hat er keine guten Erinnerungen. „Ich war ein schlechter, oft miserabler Schüler“, erinnert er sich. Neben körperlichen Bestrafungen erfuhr er von manchen seiner männlichen Lehrer Beleidigungen, sie vermittelten ihm immer wieder, dass er das Abitur nicht schaffen werde.
Sein Interesse für die Psychologie begann in der Jugend mit einer Begeisterung für die chinesische Kultur. Er sah Fernsehserien wie Kung Fu und träumte davon, nach China zu reisen oder sogar dort zu leben. Seine lebhafte Fantasie und die Sehnsucht nach fernen Ländern und fremden Leben ermöglichten ihm die Flucht aus einem schwierigen Schulalltag. Als 13-Jähriger begann er, ostasiatische Kampfkünste zu erlernen, das Training gab ihm Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein.
Gedankliche Flucht als Gegenwartsbewältigung
Er las zum ersten Mal Bücher über ostasiatische Religion und Philosophie, von denen er oberflächlich in den Trainingsstunden oder in den Fernsehserien gehört hatte. „Das Interesse entstand damals aus einer Notwendigkeit heraus, um mit dem Leben zurechtzukommen“, erinnert er sich heute. Die Beschäftigung mit den religiösen und philosophischen Gedanken gab ihm die Möglichkeit, dem Alltäglichen zu entfliehen. „Ich stellte fest, dass eine spirituelle Grundhaltung und ein philosophisches Nachdenken über die Welt von deren Alltäglichkeiten entlastet und sie in einen größeren, relativierenden Zusammenhang stellen kann.“ Seither fasziniert ihn in der chinesischen Philosophie unter anderem der Verzicht auf Eindeutigkeiten.
Nach dem Abitur leistete Vogel seinen Zivildienst in einer Werkstätte für geistig behinderte Menschen in Ingolstadt. Auch wenn sein Umfeld ihm vom Psychologiestudium abriet und seine Abiturnote weit unter dem Numerus clausus für das Fach lag, bewarb er sich und erhielt auf Umwegen schließlich einen Studienplatz in Mannheim. Er studierte dort einige Semester Psychologie, wechselte dann nach Erlangen, schloss dort sein Studium ab und promovierte. Parallel begann er an der Universität Erlangen ein Sinologiestudium.
Für Psychologinnen und Psychologen war die Situation auf dem Arbeitsmarkt damals schwierig, in Erlangen fand er keine Stelle. Er kehrte schließlich nach Ingolstadt zurück, wo er als Kinderpsychologe angestellt wurde. Eine erste berufliche Erfahrung, die wertvoll für seine spätere Arbeit wurde. „Vieles von dem, worunter man als Erwachsener leidet, kann man auf Kindheitserlebnisse zurückführen. Und wenn man das live miterlebt, hat man einen direkteren Zugang.“
C.G. Jungs Lehren in den Fokus gerückt
Vogel arbeitete anschließend zehn Jahre in der Akutpsychiatrie in Ingolstadt und lernte dort die verschiedenen Stationen kennen. Eine intensive und spannende Arbeit, bei der er aber auch erlebte, wie wenig Zeit im Klinikalltag bleibt, um einzeln auf die Patientinnen und Patienten einzugehen. Er übernahm die Leitung der Psychotherapiestation der Klinik und führte sie mit einem tiefenpsychologischen Konzept. Dann wurde er von einer verhaltenstherapeutischen Klinik nach Chemnitz abgeworben und dort Mitglied der Klinikleitung. Lehraufträge an den Universitäten in Chemnitz und Dresden folgten.
„Viele Glücksfälle in meinem Leben“, wie Vogel es bezeichnet. In der psychotherapeutischen Arbeit sei es angeraten, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. „Vieles von dem, was man schafft, hat mit einem selbst zu tun. Vieles aber auch nicht. Das Schicksal spielt auch mit“, sagt er.
In München absolvierte Vogel noch eine Doppelausbildung mit einem Abschluss in moderner Psychoanalyse und in analytischer Psychologie. „Mit Schrecken nahm ich aber bald wahr, dass die analytische Psychologie C.G. Jungs nur eine kleine und oft übersehene Randerscheinung darstellte“, sagt er. Er wollte dazu beitragen, dass Jungs Lehrgebäude mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, und begann, darüber Vorträge und Vorlesungen zu halten und Bücher zu schreiben.
Den Tod in allem Lebenden erkennen
2004 beschloss er, sich selbständig zu machen und eine eigene Praxis zu gründen, auch um mehr Zeit für seine Patienten und Patientinnen zu haben. „Psychotherapie ist in erster Linie eine Innerlichkeitsarbeit“, sagt er. „Eine Arbeit am und im seelischen Innenraum, vermittelt über die therapeutische Beziehung. Dadurch entsteht Veränderung.“ Aber das brauche Zeit.
Vogel zog zurück nach Ingolstadt. Dabei ist ihm die Nähe zu den Bergen nicht besonders wichtig, eigentlich würde es ihn viel mehr reizen, am Meer zu wohnen, zum Beispiel an der Ostsee. Warum er dann trotzdem wieder nach Oberbayern gezogen ist? „Meine Lebensgefährtin lebt hier in Ingolstadt und meine wichtigsten Freunde. Ich fühle mich mit dem Ort verbunden und von hier aus kann ich gut in der Welt unterwegs sein.“ Er reist gern und pflegt regelmäßige berufliche Kontakte, auch in die USA und nach China.
Und Vogel begleitet oft trauernde Menschen, arbeitet viel auf Palliativstationen und in Hospizen. Das menschliche Leben sei von einem grundlegenden Konflikt geprägt. „Wir wissen – vielleicht als einzige Lebewesen überhaupt –, dass wir sterben werden, und hoffen doch insgeheim immer auf ein Stück Unsterblichkeit. Wir wissen auch, dass wir in jeder Sekunde unserem Tod näherkommen, und tun doch die meiste Zeit so, als müssten wir nie sterben.“ In einer Gesellschaft, in der wir die Endlichkeit weitestgehend aus unserem Alltag verbannt haben, sind wir unvorbereitet auf das Sterben. Dem möchte Ralf T. Vogel entgegenwirken.
Er hat bei seiner Arbeit immer wieder festgestellt, dass Psychotherapien früher oder später um existenzielle Themen kreisen, die auch den Therapeutinnen und Therapeuten selbst nicht fremd sind. Es geht, hier folgt er dem amerikanischen Therapeuten Irvin Yalom, vor allem um Tod, Einsamkeit, Freiheit und die Frage nach dem Sinn des Lebens. Oft steht dabei das Thema Vergänglichkeit und Sterben belastend im Fokus und stellt eine besonders große Herausforderung dar. Auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Todes gibt es jedoch keine eindeutigen Antworten. „Das ist für uns Menschen nicht immer leicht auszuhalten.“ Die Auseinandersetzung mit den existenziellen Ungewissheiten ist ein wichtiger Bestandteil seiner therapeutischen Arbeit geworden.
Zwiegespräch mit der eigenen Sterblichkeit
Bis vor einigen Jahren wurde der Tod in der Psychotherapie nur selten explizit behandelt. Als Vogel 2012 die erste Auflage seines Buches Todesthemen in der Psychotherapie veröffentlichte, war das in der Fachliteratur noch ein exotischer Gegenstand. Das hat sich in den vergangenen zehn Jahren geändert, seitdem widmen sich mehr Fachzeitschriften, Bücher und Tagungen dem Thema, und auch Ausbildungsinstitute befassen sich zunehmend damit, wie der Tod und das Sterben in die Psychotherapie einbezogen werden können. „Wir haben uns bisher zu wenig um das gekümmert, was wir in der Psychologie ein ‚Todeskonzept‘ nennen, eine gedankliche und emotionale Sicht auf Sterblichkeit und Tod“, sagt Vogel.
Was aber heißt es, wenn C.G. Jung sagt, es sei wichtig, den Tod als das Ziel zu erblicken? „Das memento mori, das Bedenken des Todes, und die meditatio mortis, das achtsame Nachsinnen über Sterben und Tod, ist für Psychotherapeutinnen und -therapeuten eine Schlüsselqualifikation ihres Tuns“, davon ist Vogel überzeugt. Erst wenn wir Ungewissheiten annehmen und aushalten, wenn wir uns mit dem Tod auseinandersetzen, können wir bewusster leben. „Verdrängen macht jede Entwicklung schwer“, sagt Vogel, „selbst wenn es bisweilen nützlich sein mag. Auch in den Momenten des Aufbruchs und des Neubeginns nähern wir uns in jeder Sekunde gleichzeitig dem Todesmoment. Dies immer mitzubedenken, in jeder Lebensäußerung auch den Tod zu erkennen ist mit memento mori gemeint.“ Eine solche Haltung führe zu einer „ganzheitlicheren und lebendigeren Existenz“.
In seinem Buch Todesthemen in der Psychotherapie bietet Vogel Menschen in Heilberufen Anregungen und Materialien, um sich selbst mit Tod und Sterben auseinanderzusetzen, und er liefert Inspirationen, wie man die Themen in der praktischen Arbeit mit Patientinnen und Patienten umsetzen kann. Es geht ihm um eine psychotherapeutische Sensibilisierung für das Thema. „Wir sollten mehr über Sterben und Tod sprechen und uns behutsam mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen“, fordert er. Das beginne schon damit, dass wir uns bewusst dem Thema annähern, indem jede und jeder sich persönlich fragt: Was bedeuten für mich Sterben und Tod genau?
Therapie verändert den Therapeuten
Wenn Vogel über sich, seine Arbeit und seine Forschungen spricht, wird deutlich, wie dankbar er ist, seinen Beruf ausüben zu können. Seine Begeisterung hat in all den Jahrzehnten nicht abgenommen. Das Psychologiestudium sei – neben seiner Partnerschaft – die beste Entscheidung gewesen, die er in seinem Leben getroffen habe.
„Es ist der schönste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Der Vorteil ist, dass er so abwechslungsreich ist. Selbst wenn ich an einem Tag nur Patienten mit Depressionen habe, ist jede Stunde, jede Patientin, jede Therapie so einzigartig, dass sich nie etwas wiederholt.“ Zudem sei das alles für ihn selbst eine tägliche Selbsterfahrung und Weiterentwicklung. „Das Bücherschreiben und die therapeutische Arbeit mache ich für andere, aber immer auch für mich. Ich gehe verändert daraus hervor, die Arbeit ist immer auch eine Auseinandersetzung mit meinem eigenen Innenleben.“
Den Coronalockdown hat er genutzt, um sich mit den Herausforderungen der Pandemie für Therapeutinnen und Therapeuten auseinanderzusetzen – und darüber ein kleines Buch zu schreiben, Psychotherapie in Zeiten kollektiver Verunsicherung. Mit dem Ausbruch der Coronapandemie waren Patientinnen und Therapeutinnen gleichermaßen mit dem Gefühl von Bedrohung und existenzieller Verunsicherung konfrontiert. Gleichzeitig stehen Psychotherapeuten in solch einer Ausnahmesituation aber auch vor der Herausforderung, selbst einen guten Umgang dafür zu finden, um überhaupt anderen helfen zu können. Außerdem sind sie noch notfallpsychologisch und präventiv gefragt.
Tragende Säulen auch in schweren Zeiten
Ein Jahr ein Sabbatical zu machen, eine Pause bei der Arbeit einzulegen, einmal anzuhalten, Zeit zum Nachdenken und für andere Dinge zu haben hatte Vogel schon lange geplant. Es brauchte einen langen Vorlauf, schließlich konnte er die einzelnen Therapien nicht plötzlich abbrechen. Ob er in den ersten Wochen in ein Loch gefallen sei, weil er nun plötzlich so viel Zeit hatte? Vogel lacht und schüttelt den Kopf. „Nein, und das kann ich mir auch nicht vorstellen.“ Er hat Freunde besucht, Möbel zusammengebaut, ist viel Motorrad gefahren. Langweilig werde ihm nicht.
Es sei ihm immer schon wichtig gewesen, viele Säulen im Leben zu haben. Und wenn dann einmal eine Säule wackelt, wenn er zum Beispiel einmal harte Kritik erfährt in seinem Beruf oder wenn eine Patientin einen Rückschlag erleidet, lasse sich das viel besser ertragen und aushalten, weil die anderen Säulen ihn dann ja noch stützen. Vogel übt seinen Beruf mit Begeisterung und Leidenschaft aus, aber er zieht sein Selbstwertgefühl nicht ausschließlich aus seiner beruflichen Identität. Er trainiert immer noch Kampfkunst und er hat wieder eine große Motorradtour geplant.
5 Bücher von Ralf T. Vogel:
Todesthemen in der Psychotherapie. Ein integratives Handbuch zur Arbeit mit Sterben, Tod und Trauer: In dem Buch bietet Vogel Fachleuten aus Therapie und verwandten Berufsgruppen Anregungen und Materialien, um sich selbst mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen. Er liefert Inspirationen, wie man die Themen in der praktischen Arbeit umsetzen und in die Psychotherapie einbeziehen kann. Kohlhammer
Psychotherapie in Zeitenkollektiver Verunsicherung: Was bedeutet therapeutisches Arbeiten in und mit kollektiven Ausnahmeszenarien? Vogel zeigt, welchen Herausforderungen Therapeutinnen und Therapeuten in Situationen wie der Coronapandemie gegenüberstehen und wie sie selbst einen guten Umgang mit existenzieller Verunsicherung finden und ihr therapeutisches Handeln an die Umstände anpassen können. Springer
Existenzielle Themen in der Psychotherapie: Psychotherapien kreisen früher oder später um existenzielle Themen, die auch den Therapierenden selbst nicht fremd sind: Tod, Einsamkeit, Freiheit und die Frage nach dem Sinn des Lebens. In dem Buch befasst sich Vogel mit diesen vier Themen und bietet praxisnahe Vorschläge für therapeutisches Arbeiten. Kohlhammer
Analytische Psychologie nach C.G. Jung: Vogel geht von Jungs Gedanken aus, ergänzt sie aber in vielen Punkten durch Erkenntnisse der nächsten Generationen. Er beleuchtet die geisteswissenschaftlichen Wurzeln der analytischen Psychologie und beschreibt die daraus entwickelten therapeutischen Methoden, wie die Traumarbeit oder die aktive Imagination. Kohlhammer
Der Tod ist groß, wir sind die Seinen. Mit dem Sterben leben lernen: Neben theoretischen Einordnungen in die kulturübergreifende Tradition der Totenbücher bietet Vogel Impulse für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Dazu gehören auch ganz praktische Tipps wie eine Sterbeimagination, die Übung des achtsamen Ausatmens oder Überlegungen zur Begräbnisfeier. Patmos
In unserer Serie „Das Porträt“ erschienen zuletzt:
Ulrike Ehlert – Die Stressforscherin (Heft 8/2022)
Steven Hayes – Der Mann, der sich der Angst stellte (Heft 5/2022)
Angela Friederici – Die Frau an der Schnittstelle (Heft 2/2022)
James Pennebaker – Der Schriftgelehrte (Heft 11/2021)
Susan Fiske – Die Forscherin, die Stereotype entschlüsselt (Heft 8/2021)
Wolfgang Schmidbauer – Der hilfreiche Helfer (Heft 5/2021)
Gerd Gigerenzer – Der Meister der klaren Entscheidung (Heft 1/2021)
Frans de Waal – Der Beobachter (Heft 11/2020)
Kate Sweeny – Die Sorgenbändigerin (Heft 8/2020)