Der Lehrer als Regisseur

Was macht guten Unterricht aus? Der Bildungsforscher John Hattie hat zusammengetragen, was Lernerfolg in der Schule bestimmt. Ganz wichtig: Lehrer.

Eine Lehrerin beugt sich zu einer Schülerin herunter und erklärt ihr etwas vor einem Bildschirm.
Für den Lernerfolg ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler wissen, welche konkreten Erwartungen Lehrkräfte haben. © Tom Werner/Getty Images

Wer heute über Schule spricht, kommt an John Hattie nicht vorbei. Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler hat zusammengetragen, was bisher über Lernen in der Schule bekannt war. Aus einer riesigen Datenmenge hat er 138 Faktoren herausgefiltert, die guten Unterricht ausmachen. Ganz oben steht dabei: der Lehrer.

Ich hätte in meiner Schulzeit gern auf den Physikunterricht verzichtet, aber nur, weil ich den Lehrer nicht mochte. Er hatte eine Schnarrstimme. Hätte er die nicht gehabt und gelegentlich, wie…

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meine Chemielehrerin, eine Bluse mit Mohrrübenmuster getragen, wäre ich an Physik genauso interessiert gewesen wie an Chemie. Es lag bei mir immer hundertprozentig an der Lehrkraft. (Max Goldt: Der Krapfen auf dem Sims, 2001)

John Hattie ist ein unwahrscheinlicher Gast auf den deutschen Bestsellerlisten. Sein Buch Lernen sichtbar machen verkauft sich hervorragend. Dabei hat der Bildungsforscher aus Neuseeland wenig Zugeständnisse an den Massengeschmack gemacht. Er verzichtet weder auf statistische Details noch auf Fachsprache oder eine Fülle von Querverweisen, die dem uneingeweihten Leser wenig sagen. Sein Werk ist kein flottes Thesenpamphlet, sondern ein Fachbuch.

Gute Lehrkräfte sind entscheidend

Vielleicht trägt zu Hatties Erfolg bei, dass sich der komplexe Inhalt letztlich doch auf eine einfache Botschaft reduzieren lässt: Gute Lehrer machen den Unterschied. Ob Schüler etwas lernen, resümiert Hattie, hängt wenig von der Klassengröße, dem Schulgebäude oder anderen äußeren Faktoren ab. Entscheidend ist, dass der Lehrer die Schüler im Raum erreicht. Entscheidend ist, dass der Pädagoge weiß, was die Kinder oder Jugendlichen schon können, und sie auf die nächste Stufe führt. Entscheidend ist vor allem, dass er ehrlich zu sich ist und sich fragt: Versteht meine Klasse wirklich, was ich ihr sage?

2008 erschien John Hatties Buch in englischer Sprache. Visible Learning wurde ein weltweiter Erfolg. Im Verbund mit einer erweiterten Lehrerausgabe hat es sich 70.000-mal verkauft. Im Spiegel (16/2013) hieß es, Hatties Thesen könnten „der kleinteiligen und teilweise ideologisch geführten Schuldebatte in Deutschland eine neue Richtung geben“. Das Times Educational Supplement hält das Werk für den Heiligen Gral der Bildungsforschung. Der Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart nennt Visible Learning einen Meilenstein.

Diese Sprachbilder deuten es schon an: Hatties Anspruch war ein monumentaler. Er wollte den gesamten englischsprachigen Wissensstand zum Lernerfolg in Schulen bündeln. Da es zeitlich kaum möglich gewesen wäre, jede einzelne Veröffentlichung zu lesen, berücksichtigte er nur sogenannte Metaanalysen. Jede Metaanalyse ist schon für sich genommen eine Synthese von vielen detaillierteren Forschungsergebnissen. Insgesamt flossen so Informationen zu 250 Millionen Schülern in Hatties Buch ein. 15 Jahre habe er an seinem Projekt gearbeitet, berichtet Hattie. 

Nur wenige Faktoren schaden dem Lernen wirklich

Am Ende seiner Mühen hatte er 138 Faktoren extrahiert. Damit Leser auf einen Blick sehen können, was wirkt und was weniger, bildete er alle relevanten Faktoren auf Barometerskalen ab. Die meisten der 138 Faktoren haben einen positiven Einfluss. Nur sehr wenige schaden wirklich. Anders gesagt: Irgendetwas lernen Schüler während eines Schuljahres eigentlich immer. In manchen Klassen arbeiten sich die Kinder und Jugendlichen aber schneller durch den Stoff als in anderen und verstehen die Inhalte auch besser. Die entscheidende Frage ist deshalb: Was ist wirklich gut? Für den neuseeländischen Bildungsforscher sind das nur die Faktoren, die einen überdurchschnittlich positiven Effekt haben.

Nun hat Schule mehr Ziele, als möglichst viel Inhalt möglichst schnell zu beackern. In Deutschland gehört zum Beispiel der gesellschaftliche Auftrag dazu, die Schüler bei der Entwicklung zu mündigen und verantwortungsvollen Bürgern zu unterstützen. Schule ist ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche emotionale und soziale Erfahrungen machen, ein Ort, an dem sie ihre Persönlichkeit ausbilden. Um diese Dinge geht es John Hattie eher nicht. Er hat sich in Lernen sichtbar machen auf den Lernerfolg konzentriert. Es geht vor allem um den Wissenserwerb, um das Verstehen, Speichern und Abrufen von Inhalten.

Fünf Faktoren, die den Lernerfolg beeinflussen

John Hattie betrachtet also einen Teil des großen Ganzen. Doch welche Einzelfaktoren haben dabei nun den größten Einfluss auf den Lernerfolg in der Schule? Auf die Spitzenplätze kommen in Hatties Liste:

  1. Zutreffende Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus: Nur wer genau weiß, was er weiß und was er nicht weiß, kann an seinen Schwächen arbeiten und seine Stärken weiter ausbauen. Dagegen halten Kinder und Jugendliche, die sich selbst überschätzen, es vielleicht nicht für nötig, Vokabeln zu wiederholen oder die Matheaufgabe noch einmal durchzugehen. 

  2. Altersgerechtes Lernen: Es zahlt sich aus, den Unterricht so zu gestalten, dass die Lernenden die Inhalte auch begreifen können. Um Stoffe und Aufgaben entsprechend auszuwählen, müssen Pädagogen jedoch wissen, wie die Lernenden denken. Die Kinder dort abzuholen, wo sie in ihrer Entwicklung gerade stehen, fordert auch der Schweizer Autor Remo Largo. Diese Erkenntnis stützt sich auf Jean Piagets Theorie der kognitiven Entwicklungsstufen. Demnach können Kinder nicht alles von Geburt an; das Verständnis etwa für abstrakte, logische Probleme entwickeln sie erst im Laufe ihres Lebens. 

  3. Formative Evaluation des Unterrichts: Mit diesem sperrigen Begriff beschreiben Fachleute ein System, in dem Pädagogen fortwährend Rückmeldungen zu ihrem Verhalten, den verwendeten Hilfsmitteln und Programmen bekommen. Da die Lehrer regelmäßig Feedback erhalten, sind oft nur kleine Verbesserungen des Unterrichts notwendig. Das fällt ihnen oft leichter, als ihre Arbeit vollständig neu auszurichten. 

  4. Microteaching: Dieser Anglizismus umschreibt ebenfalls ein Hilfsmittel auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Beim Microteaching üben angehende Lehrer schon während ihres Studiums zu unterrichten. Das Besondere dabei: Sie sprechen nur zu kleinen Gruppen und in kurzen Einheiten von fünf bis zehn Minuten. Was sie tun, wird auf Video aufgezeichnet. So erhalten die Pädagogen eine Idee davon, wie ihr Unterricht auf Schüler wirkt. Natürlich kann Microteaching auch für Pädagogen eingesetzt werden, die bereits an einer Schule arbeiten. 

  5. Akzeleration: Nichts ist langweiliger für Schüler, als etwas verstanden zu haben und den Stoff dann ständig wiederzukäuen. Deshalb wirkt es sich positiv auf den Lernerfolg aus, wenn diejenigen, die schnell vorankommen, ihr Tempo beschleunigen dürfen. 

Guter Unterricht ist fast immer möglich

Treten wir einen Schritt zurück: Wer hält die Fäden in der Hand? Direkt oder indirekt läuft es immer auf den Lehrer zu. Er ist zwar nicht allmächtig, schließlich bringen die Schüler sich, ihre Fähigkeiten und Erfahrungen mit in den Unterricht ein. Trotzdem sind die Pädagogen in diesem Bild die Regisseure, die immer die richtigen Rückmeldungen und Anweisungen für Kinder und Jugendliche parat haben sollten. Das ist die große Verantwortung der Lehrenden.

Wer so in die Pflicht genommen wird, könnte das auch als Bürde empfinden. Fühlen sich Lehrer von Hattie unter Druck gesetzt, glauben sie, dass man ihnen die Schuld zuweist, wenn es im Unterricht schlecht läuft? Eher nicht. Gut beobachten ließ sich das Anfang 2013, als der Neuseeländer die deutsche Übersetzung von Visible Learning in Oldenburg vorstellte. Wer dort mit Pädagogen sprach, hörte vor allem Lob – eben dafür, dass die Lehrer endlich wieder in den Mittelpunkt gerückt würden. Da klang dann auch die Hoffnung durch, in Zukunft weniger Zeit und Nerven mit unsinnigen Reformen vergeuden zu müssen.

So ähnlich sieht das auch Klaus Zierer. Der Oldenburger Professor für Erziehungswissenschaften ist einer der beiden Übersetzer von Visible Learning. Er kennt nicht nur Hatties Werk bestens, sondern auch das deutsche Bildungswesen. Zierer sagt: „Lange Zeit haben wir in Deutschland vor allem über Strukturen geredet. Sollen Schüler nach zwölf oder dreizehn Jahren das Abitur ablegen? Sollen sie vier oder sechs Jahre zur Grundschule gehen? Brauchen wir eine Hauptschule, oder reicht eine Mittelschule? Immer mussten die Lehrer vor Ort sehen, was sie mit diesen Vorgaben machen.“ Hattie klinge dagegen erfrischend pragmatisch. Sein Credo: Egal wie die äußeren Umstände sind; guter Unterricht ist fast immer möglich.

Sieben relevante Erkenntnisse aus der Bildungsdiskussion

In Hatties Rangliste finden sich allerdings auch Faktoren, die zu gutem Unterricht verhältnismäßig wenig beitragen. Einige Methoden und Konzepte sind dem Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen kaum zuträglich. Im hinteren Drittel der Hattie-Liste stehen auch einige alte Bekannte aus der Bildungsdiskussion:

  • Sollten Mädchen anders unterrichtet werden als Jungen? Nein, sagt Hattie. Geschlechtsunterschiede beeinflussen den Lernerfolg von Schülern nur wenig. Dieser Faktor landet abgeschlagen auf dem 122. Platz von insgesamt 138. Stereotype Einschätzungen wie „Jungen interessieren sich für Mathematik, Mädchen für Sprache“ werden durch die von Hattie analysierten Studien nicht gestützt. Hattie fragt deshalb, „warum wir uns dennoch ständig so intensiv in Debatten über Geschlechtsunterschiede bei den Lernleistungen verstricken – es gibt sie einfach nicht“. 

  • Fließt mehr Geld in die Schulen, schlägt sich das nicht automatisch in besserem Unterricht nieder. Bei 138 untersuchten Faktoren landet die finanzielle Ausstattung von Schulen nur auf Rang 99. Die Klassengröße hat einen noch geringeren Einfluss auf den Lernerfolg. Es mag zwar angenehmer sein, in hervorragend ausgestatteten Räumen zu arbeiten. Nur verstehen Kinder und Jugendliche dort nicht ohne weiteres Zutun mehr. Auch die Klassengröße hat nur einen mittelbaren Einfluss. Ungeeignete Unterrichtsmethoden verbessern sich nicht dadurch, dass ihnen weniger Schüler ausgesetzt sind. 

  • Schulen ans Netz? Muss nicht sein. Webbasiertes Lernen hat Hatties Analyse zufolge einen unterdurchschnittlichen Einfluss auf den Lernerfolg von Schülern. 

  • Weitgehend wirkungslose Faktoren sind jahrgangsübergreifender Unterricht, Freiarbeit (Hattie versteht darunter die selbstbestimmte Auswahl von Arbeitsmaterialien) sowie offene Unterrichtskonzepte. Offene Ansätze, bei denen Schüler sehr individuell entscheiden können, was sie lernen, bringen Hattie zufolge nur „geringe Unterschiede“ im Lernerfolg, sie sind nicht besser als traditioneller Unterricht. 

  • Nur fünf Faktoren in Hatties Liste wirken sich negativ auf den Lernerfolg aus. Dazu gehört das Sitzenbleiben. Es schadet Schülern eher, als dass es ihnen nützt. Wiederholen Kinder oder Jugendliche einen Jahrgang, hat das einen leicht negativen Effekt. Eine mögliche Erklärung: Während ihrer Ehrenrunde erhalten die Schüler selten anderen Unterricht als zuvor. Der Stoff wird ihnen noch einmal so vermittelt, wie sie ihn auch im vorangegangenen Schuljahr nicht verstanden haben. 

  • Zu viel Fernsehen schadet. Der Einfluss auf die Lernleistung ist zwar insgesamt gering, aber doch negativ. Wie viel Fernsehen zu viel ist, darin sind sich die von Hattie ausgewerteten Studien jedoch nicht einig: Manche Wissenschaftler warnen vor mehr als zwei Stunden pro Woche, andere halten bis zu zehn Stunden für vertretbar. 

  • Schulwechsel belegen den 138. und damit letzten Rang in Hatties Liste. Sie können Schüler in ihrer Lernentwicklung zurückwerfen. Ein Problem ist das vor allem in den USA. Dort zieht einer von fünf Schülern innerhalb eines Jahres um. Hattie zufolge haben Kinder und Jugendliche nicht selten Schwierigkeiten, sich an ihr neues Umfeld anzupassen. 

Transparent handeln ist gemeinsamer Nenner für Lernerfolg

Wir haben also: wirksame, wirkungslose und schädliche Faktoren. Doch so wie einzelne Perlen noch keine Kette ergeben, ergeben 138 Faktoren noch keinen guten Unterricht. Es fehlt etwas Verbindendes, eine erklärende Geschichte. John Hattie liefert sie. Für ihn ist sichtbares Lehren und Lernen die Basis von erfolgreichem Lernen in der Schule. Der gemeinsame Nenner, auf den sich viele besonders wirksame Einflüsse bringen lassen, ist transparentes Handeln. Diese Transparenz sollte nach Hattie grundlegend zwischen Schülern und Lehrern herrschen.

In den Augen des Bildungswissenschaftlers verspricht es großen Erfolg, wenn Lernen das ausdrückliche Ziel des Unterrichts ist. So wissen alle Beteiligten, woran sie sind. Lehrer sollten eindeutig kommunizieren, welche Inhalte sie vermitteln werden und welche Leistung sie erwarten. Für die einzelnen Schüler dürfen die Anforderungen dabei weder zu einfach noch unlösbar sein.

Damit Lehren und Lernen sichtbar werden, brauchen Schüler und Lehrer Feedback. Schüler benötigen ausreichende Rückmeldungen, um sich selbst richtig einschätzen zu können. Lehrer brauchen Feedback, um ihre Lehrstrategien auf die Kinder und Jugendlichen abzustimmen: Verstehen sie den Unterricht – und wenn nicht, warum nicht? Das ist aufwendig und anstrengend. Deshalb hilft es, wenn daran aktive, leidenschaftliche und engagierte Menschen beteiligt sind – Lehrer, Schüler, und, aus Sicht des einzelnen Lernenden, auch motivierte Mitschüler.

Einige der 138 Faktoren lassen sich direkt mit der geforderten Transparenz in Verbindung bringen. Die Klarheit des Lehrers wirkt zum Beispiel überdurchschnittlich gut auf den Lernerfolg. Für andere Einflüsse gilt dieser Zusammenhang nur indirekt. Das ist etwa bei der hochwirksamen Selbsteinschätzung der Schüler so. Damit Kinder und Jugendliche ihre eigene Leistung reflektieren können, brauchen sie nachvollziehbare Hinweise zu Zielen und Ergebnissen durch die Pädagogen.

Lehrer befördern Problemschüler an die Spitze

Hattie stellt den Lehrer in den Mittelpunkt des Geschehens. Der Lehrer führt Regie im Unterricht, er leitet die Lernprozesse seiner Schüler an und koordiniert sie, er aktiviert ihre Fähigkeiten. Wie ein Regisseur kennt er das Drehbuch, er hat ein Bild davon im Kopf, wie das Ensemble am Ende spielen soll, und weist den Weg dorthin. Nicht zuletzt kontrolliert der Pädagoge die Fortschritte, gibt Rückmeldungen, greift ein und erklärt vielleicht noch einmal mit anderen Worten, worum es geht.

Der Regisseur des Klassenzimmers ist aktiv – und doch spricht nicht er die ganze Zeit, stellt er sich nicht in den Mittelpunkt. Wie ein guter Regisseur vermittelt ein guter Pädagoge Leidenschaft für ein, für sein Fach. Diese Begeisterung kann ansteckend sein. Hattie fasst zusammen: „Lehrer gehören zu den wirkungsvollsten Einflüssen beim Lernen.“ Das zeige sich schon daran, dass sich die Leistung oft mehr von Klassenraum zu Klassenraum unterscheide als von Schule zu Schule.

Theorie ist oftmals grau. Doch es gibt auch praktische Beispiele für Hatties Mantra des sichtbaren Lehrens und Lernens. Häufig wird auf die Johannesskolan im schwedischen Malmö verwiesen. Dort fiel jahrelang die Hälfte der Schüler durch den Abschlusstest am Ende des neunten Jahrgangs. Dann schickte ein Fernsehsender acht preisgekrönte Pädagogen in die Klasse 9a. Innerhalb eines halben Jahres erreichten die Jugendlichen Spitzenplätze bei landesweiten Leistungstests, im Fach Mathematik belegten sie sogar den ersten Rang. Neu waren: die Lehrer. Gleich blieben: Lehrplan, Schulgebäude und Klassengröße.

Gute Pädagogen sind zwar wichtig. Trotzdem dürfen sich Lehrer bei Hatties Botschaft entspannen. Viele von ihnen machten schon heute einen guten Job, sagt der Neuseeländer. Und seine Übersetzer Wolfgang Beywl und Klaus Zierer warnen davor, den Einfluss der Lehrer zu überschätzen. Denn die Idee eines Superpädagogen sei gefährlich. Sie überfordere „die Lehrpersonen, weil auch sie nur Protagonisten im äußerst komplexen Bildungsgeschehen sind“.

Welche Risiken es mit sich bringen kann, wenn Lehrer zu viel von sich erwarten, darauf haben schon vor Visible Learning Wissenschaftler hingewiesen. Die Psychologen Saul Neves de Jesus und Willy Lens etwa beziehen sich auf das Modell der erlernten Hilflosigkeit. Gerade Pädagogen mit hoher Motivation müssen demnach auf sich achten. De Jesus und Lens befürchten: Wenn Lehrer trotz hohem Einsatz nur wenig Ertrag sehen, resignieren sie. Sie beziehen dann nur noch die ohnehin willigen Schüler in ihren Unterricht ein.

Lernen sichtbar machen

Was fängt man als Leser nun mit Lernen sichtbar machen an? Hatties Übersetzer Klaus Zierer und Wolfgang Beywl warnen vor oberflächlichen Interpretationen. Nicht alles, was bei Hattie schlecht wegkommt, würden sie aus den Schulen verbannen. Ein Beispiel dafür sind Hausaufgaben. Sie nehmen in Hatties Liste einen Platz im letzten Drittel ein, kommen auf Rang 88 von 138. Ihr durchschnittlicher Einfluss ist demnach eher zu vernachlässigen.

Aber das ist eben nur ein Durchschnittswert. Zierer und Beywl weisen darauf hin, dass Hausaufgaben bei höheren Jahrgängen sehr wohl wirksam seien. Vor allem für die mathematischen, sprachlichen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen scheint es sinnvoll zu sein, sie auch zu Hause zu üben. Und selbst in der Grundschule würden Zierer und Beywl nicht auf Hausaufgaben verzichten. Denn: „Hausaufgaben im Gymnasium können nur dann effektiv sein, wenn die Verantwortung dafür, die damit verbundene Arbeitskultur und die Selbstverpflichtung schon von Anfang an gelernt wurden.“

Lernen sichtbar machen ist für viele Bildungsforscher ein großer Wurf. Der Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart schreibt, „eine derart breite Aufarbeitung der Forschung zu den Bedingungen schulischen Lernerfolgs“ habe „es bislang noch nicht gegeben“. Trotzdem sind die Inhalte nicht immer neu. Sie können es kaum sein. Da Hattie auf bereits veröffentlichte Studien zurückgegriffen hat, waren viele Ideen schon länger in der Diskussion.

Ewald Terhart merkt an, dass viele der wirkmächtigsten Faktoren bereits bekannt gewesen seien. In dieser Hinsicht „bietet das Buch keine Überraschungen“. Einige der Einflüsse, die Hattie als besonders förderlich herausarbeitet, finden sich schon länger in Lehrbüchern der pädagogischen Psychologie. Auch dort steht, dass es dem Lernerfolg von Schülern zugutekommt, wenn Lehrer ein flexibles Repertoire von Unterrichtsmethoden haben. Dasselbe gilt für klare, eindeutig kommunizierte Anforderungen seitens der Pädagogen.

Hattie hat also das Rad nicht neu erfunden. Sein Anspruch war, das vorhandene englischsprachige Wissen zusammenzutragen. Ob Eltern, Lehrer, Schüler oder Politiker daraus Schlüsse ziehen sollten, gar müssen, darüber kann man streiten. So gibt es auch in Deutschland Kritiker. Einer von ihnen ist der Konstanzer Psychologieprofessor Georg Lind. Für ihn steht und fällt Hatties Werk mit der Methodik. Und genau die bereitet Lind Bauchschmerzen. Lind wehrt sich „gegen die Vorstellung, dass sich aus relativ simplen empirischen Studien – und seien sie noch so groß und noch so viele – direkt taugliche Empfehlungen für den Unterricht oder die Bildungspolitik ableiten lassen“. Letztlich, so Lind, gebe es keine statistischen Verfahren, „die uns das Denken abnehmen können“.

Erwartungen an Schüler klären

Für den Psychologen reicht es nicht aus, große Stichproben und viele Daten zu haben, um Rückschlüsse auf das große Ganze ziehen zu können. Die Aussagekraft der von Hattie präsentierten Effektstärken bezweifelt Lind. Einen allzu optimistischen Umgang mit Statistik allgemein und Metaanalysen konkret hält er für überholt, deshalb fasst er zusammen: „Hattie ist von gestern. Die von ihm benutzten Metaanalysen taugen nicht für Empfehlungen.“ Lind ist zudem nicht davon überzeugt, dass Hatties Werk allzu aufwendig war. Er sagt: „Die Metaanalyse ist so simpel, dass sie normalerweise von Hilfskräften erledigt wird.“

Nur in einem Punkt finden der deutsche und der neuseeländische Forscher zusammen: Beide meinen, dass Lehrer – und deren Ausbildung – der Schlüssel zu besserem Unterricht sind. Was Hattie darüber hinaus wolle, ist Lind zu nebulös. Welche Unterrichtsmethoden empfehlenswert sind, wie sie vermittelt werden, das werde „nirgends in seinem Buch deutlich“.

Was könnte Lernen sichtbar machen für den Alltag in der Schule bedeuten? Für einen ersten Eindruck lohnt ein Blick in die Länder, in denen Hattie bislang den größten Einfluss hatte: sein Heimatland Neuseeland und Australien, wo er an der University of Melbourne lehrt.

In Neuseeland hat Hattie schon vor gut zehn Jahren eine Debatte über gute und schlechte Unterrichtsmethoden angestoßen, also noch bevor er Visible Learning veröffentlicht hatte. Diese Debatte habe, so berichtet er, zu veränderten Strategien in der Bildungspolitik geführt. Derzeit läuft der Transfer der Erkenntnisse in die Praxis.

Beispielsweise setzt das Bildungsministerium in Neuseeland mittlerweile darauf, nationale Standards vorzugeben, für englischsprachige Schüler das New Zealand Curriculum. Darin wird detailliert beschrieben, was Schüler etwa in den Bereichen Lesen, Schreiben und Mathematik können sollten. Für Lehrer bietet das die Grundlage, um transparent zu machen, welche Leistungen sie von ihren Schülerinnen und Schülern erwarten. Fallen Schüler zurück, können Lehrer und Eltern zusammen nach Mitteln und Wegen suchen, die Situation zu verbessern. 

Sichtbares Lernen für Lehrer

Ein weiterer Weg in die Praxis führt über Visible Learning plus. Das ist ein Unternehmen, das unter anderem Workshops anbietet, bei denen Lehrern die Kernbotschaften des sichtbaren Lehrens und Lernens nahegebracht werden. Die Chefin von Visible Learning plus, Debra Masters, arbeitet seit Jahren mit Hattie zusammen; wie er war auch sie ursprünglich Lehrerin.

Einen ihrer größten Erfolge feierte die Firma in Australien: „Eine Gruppe von mehr als 60 Schulen hat sich entschieden, eine Initiative einzuführen, die auf dem Visible Learning plus-Programm der schulischen Selbstbegutachtung beruht“, sagt Masters. Allerdings handelt es sich um eine freiwillige Entscheidung der Schulen – Sanktionen für Abweichler sind nicht vorgesehen. Daran, dass bei diesen Weiterbildungsprogrammen auch wirtschaftliche Interessen verfolgt werden, gibt es jedoch Kritik, schreibt Ewald Terhart.

Neuseeland und Australien liegen, von Deutschland aus betrachtet, am Ende der Welt. Wie übertragbar ist Hattie überhaupt? Sein Übersetzer Klaus Zierer kennt sowohl die deutsche Bildungslandschaft als auch Hatties Werk genau. Einige der 138 Faktoren aus Visible Learning ließen sich ohne Schwierigkeiten übertragen. Dazu zählt Zierer Einflüsse wie Kreativität, Selbstkonzept oder Motivation. Hatties Kernbotschaft gelte deshalb auch für Deutschland.

Trotzdem müsse man vorsichtig sein. So schaden etwa Sommerferien nach Hattie dem Lernerfolg. Zierer meint, hier müsse man bedenken, dass die Sommerferien in englischsprachigen Ländern oft bis zu drei Monate dauern. Ob deshalb in Deutschland auch sechs Wochen schulfrei zu lang seien, wisse man nicht.

Auch eine gute Ausbildung kann verbessert werden

Und wie sieht es in Deutschland mit der Ausbildung von Lehrern aus? Zierer hält die Lehrerbildung hierzulande für „gut strukturiert und organisiert – was nicht bedeuten soll, dass sie nicht noch verbessert werden könnte“. Es fehle an den Universitäten allerdings noch an Evidenzbasierung: „Die Lehramtsstudierenden sollten von Anfang an lernen, ihr eigenes Handeln zu hinterfragen – mit Blick auf den Einfluss, den es auslösen kann. Das kann in den ersten Seminaren passieren. Das muss in Praktika geschehen.“

Wie Hattie ist Zierer letztlich der Ansicht, dass vieles gar nicht so schlecht läuft: „Hattie weist auch darauf hin, dass wir in Deutschland ein gut funktionierendes Schulsystem haben – bei allen Punkten, die noch verbessert werden können.“ So hätten sich Schüler hierzulande bei den PISA-Tests im Laufe der Zeit immer weiter verbessert. Insofern sei Visible Learning tagein, tagaus an deutschen Schulen zu beobachten.

Literatur:

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2013: Selbstbewusst!