Herr Hasselhorn, warum tun sich manche Kinder mit dem Schreiben und Rechnen so schwer?

Manche Kinder benötigen Förderung beim Lesen und Schreiben. Der Psychologe Marcus Hasselhorn zeigt, in welchem Alter man diesen Bedarf schon erkennen kann.

Jedes dritte Grundschulkind hat Schwierigkeiten beim Lernen von Lesen, Rechtschreiben und Rechnen. Warum?

Wenn Kinder lernen, sind dabei im Wesentlichen drei Subsysteme des Gehirns beteiligt: Das erste dient der Verarbeitung von sprachlichen und klanglichen Informationen. Es wird phonologische Bewusstheit genannt. Gibt es hier Probleme, entstehen häufig Rechtschreibstörungen, also eine Legasthenie oder Dyslexie. Rechtschreibschwäche ist vor allem in deutschsprachigen Ländern ein Thema, weil die Regeln hier strikter sind. In den angloamerikanischen Ländern ist man bei der Rechtschreibung nicht so streng.

Hier äußern sich die Probleme mit der phonologischen Bewusstheit eher beim Lesen. Beim zweiten Teilsystem des Gehirns geht es um die Verarbeitung visuell-räumlicher Informationen. Wenn hier Probleme auftreten, führen sie zu Schwierigkeiten in der Mathematik. Das ist Dyskalkulie. Das dritte Subsystem ist das zentral-exekutive Arbeitsgedächtnis, das die allgemeine Aufmerksamkeit steuert.

Woran kann man Lernstörungen bei Kindern erkennen?

Das ist etwa ab fünf Jahren möglich. Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche können Konsonanten in diesem Alter nicht gut verarbeiten: Wenn man ihnen das Wort „Lampe“ vorspricht, hören sie „Ampe“. Sie nehmen das „L“ nicht wahr. Und wenn Fünfjährige noch nicht verstehen, dass fünf mehr ist als vier, aber weniger als sechs, kann man das als Hinweis darauf deuten, dass sich später in der Schule eine Dyskalkulie entwickelt.

Kinder mit Dyslexie oder Dyskalkulie sind normal intelligent. Wie kommt es dann zu diesen Teilstörungen?

Das Konzept der Intelligenz wurde in einer Zeit entwickelt, als man noch keine Vorstellungen davon hatte, dass verschiedene Arten von Informationen in verschiedenen Gehirnarealen verarbeitet werden. Heute weiß man, dass es mit den anderen Bereichen nichts zu tun hat, wenn ein Teilsystem nicht gut funktioniert. Das heißt aber nicht, dass nichts verbessert werden könnte. Ob sich aus Dyskalkulie und Dyslexie größere Schwierigkeiten entwickeln, hängt davon ab, ob Kinder von klein auf genug gefördert werden.

Bei diesen Lernstörungen liegen die Zahlen in Deutschland heute höher als vor ein paar Jahrzehnten. Warum?

Das ist in den deutschsprachigen Ländern ein heikles Thema. Deutsche Kindertagesstätten bieten in der Regel – anders als vor Jahrzehnten – eine nur freiwillige, spielerische Förderung des Lernens von Buchstaben oder Zahlen an. Hier denkt man: Das Kind weiß selbst, was es nutzen will. Doch Kinder, die in einem der genannten Bereiche Probleme haben, wissen, dass sie bei den Aufgaben schlechter abschneiden werden als die anderen. Deshalb beschäftigen sie sich gerade nicht mit diesen Angeboten – und dadurch entgeht ihnen die Förderung. In den englischsprachigen Ländern sowie in Frankreich ist das anders.

Wie kann man vorbeugen, so dass in der Schule keine Probleme entstehen?

Ich halte eine Schuleingangsuntersuchung im Alter von fünf Jahren für sinnvoll, bei der dann solche Risiken erkannt werden. Kindertagesstätten sollten Förderung anbieten und die Kinder auffordern, mitzumachen. Für das letzte Jahr vor der Einschulung existieren längst sehr gute, spielerische Programme.

Literatur

Marcus Hasselhorn: Lernstörungen. Ein unvermeidbares Schicksal? Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 2022. DOI: 10.1024/1010-0652/a000324

Marcus Hasselhorn ist Psychologe und ­Direktor der Abteilung Bildung und Entwicklung am DIPF, Leibniz-Institut für ­Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt/Main und Berlin

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2022: Sehnsucht
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