Professor Glück, was zeichnet einen weisen Menschen aus?
Weise Menschen haben einen reflektiven und selbstreflektiven kognitiven Stil. Das heißt, sie hinterfragen die Dinge und sie hinterfragen sich selbst. Sie reagieren nicht impulsiv, sie denken intensiv nach und haben das Bedürfnis, insbesondere große Lebensthemen vertiefend zu verstehen.
Das heißt auch, dass sie bereit sind, ihre eigenen Handlungen zu hinterfragen, selbst wenn dabei nicht nur Positives zum Vorschein kommt. Und im Zusammenhang damit haben sie eine generelle Bereitschaft, sich nicht so wichtig zu nehmen.
Wie unterscheidet sich der weise vom klugen Menschen?
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass der weise Mensch klug ist – aber nicht jeder kluge Mensch weise. Weisheit ist ein Begriff, der vieles umfasst und der in mehrerlei Hinsicht über Klugheit hinausgeht. Zum Beispiel bei der Frage, wie ich Ziele verfolge: Ich kann sehr klug darin sein, Ziele zu verfolgen, die mir selbst nützen.
Zur Weisheit gehört aber immer, dass ich meine eigenen Ziele und Bedürfnisse mit denen anderer Menschen abgleiche. Eine weise Handlung dient nie nur dem eigenen Nutzen, sondern orientiert sich an breiteren guten Ergebnissen, am Gemeinwohl, wenn Sie so wollen.
Wie hängen Intelligenz und Weisheit zusammen? Wenn ich intelligenter bin als der Durchschnitt, ist es dann auch wahrscheinlicher, dass ich im Laufe meines Lebens weise werde?
Das würde ich so nicht sagen. Für Weisheit braucht es zwar schon ein gewisses Maß an Intelligenz, zum Beispiel die Fähigkeit, über komplexe Dinge nachdenken zu können. Wenn ich ein Problem nicht in seiner Komplexität verstehe, dann kann ich damit auch nicht weise umgehen. Es gibt also gewisse Schwellenwerte, unterhalb derer es vermutlich schwierig ist, weise zu handeln. Aber jenseits dessen sehen wir keinen Zusammenhang: Ein intelligenter Mensch ist nicht automatisch weiser; und weise Menschen müssen nicht hochintelligent sein.
Sind weise Menschen in der Regel gute Zuhörerinnen und Zuhörer?
Das ist eine spannende Frage, weil man ja spontan denken würde: Weise Menschen geben anderen gute Ratschläge. Aber aus ganz vielem, was wir über weise Menschen wissen, geht hervor, dass sie eben nicht diejenigen sind, die nur kurz zuhören und dann klar sagen, was zu tun ist. Sondern dass sie sehr gut und genau zuhören und ihrem Gegenüber die Möglichkeit geben, vielleicht einen anderen Blickwinkel einzunehmen und für sich selbst eine Lösung zu finden.
Wie wichtig ist für weise Menschen die viel gepriesene Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, mit Unsicherheit und Ungewissheit gut zurechtzukommen?
Sehr wichtig. Das gehört mit zu dem Bedürfnis, Dinge in ihrer Tiefe verstehen zu wollen. Komplexe Probleme sind facettenreich und es gibt nicht die eine richtige Antwort. Das muss man aushalten können, das haben wir ja gerade erst im Zusammenhang mit Covid-19 erlebt – alles ist immer komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint.
Gibt es Persönlichkeitseigenschaften, die Weisheit fördern?
Wenn wir die Big Five betrachten – also das Standardmodell in der Persönlichkeitsforschung – muss man dort ganz klar die Offenheit für neue Erfahrungen hervorheben. Sie ist zentral, um Weisheit zu entwickeln. Dabei meine ich aber nicht jede Art von Erfahrung – dazu würde ja auch zählen, dass man es spannend findet, immer neue Speisen auszuprobieren.
Sondern es geht im engeren Sinne um Offenheit für Ideen, Erkenntnisse, für die eigenen Gefühle und die der anderen. Die anderen vier Faktoren der Big Five sind rein statistisch weniger oder in den meisten Studien gar nicht in Zusammenhang mit Weisheit gebracht worden, auch die Verträglichkeit nicht. Weise Menschen sind nicht unbedingt viel netter als andere. Aber sie sind eben so offen, dass sie auch andere Perspektiven akzeptieren können.
Jenseits der Big Five glaube ich schon, dass Mitgefühl natürlich eine Rolle dafür spielt, dass man sich nicht nur an seinen eigenen Interessen, sondern am Gemeinwohl orientiert. Je besser ich mich in andere hineinversetzen kann, desto mehr bin ich bereit, über mein eigenes Wohlbefinden hinaus zu handeln.
Welche Rolle spielt Lebenserfahrung für Weisheit?
Lebenserfahrung ist zentral. Interessant ist die Frage, die wir in der Weisheitsforschung schon lange diskutieren: Muss man, kann man nur durch eigene, selbst gemachte Erfahrungen weiser werden? Oder ist es auch möglich, wenn ich zusehe, wie jemand anders diese Erfahrungen macht? Oder wenn ich nur ein Buch darüber gelesen habe?
In dieser Diskussion stehe ich ein wenig zwischen den Polen. Ich denke, dass nicht alles, was man liest oder im Fernsehen sieht, einen weiser macht. Sondern man entwickelt sich nur dann weiter, wenn es einen emotional berührt und es auf eine Frage trifft, die man sich ohnehin gestellt hat.
Wenn wir Menschen befragen, was ihre Erlebnisse waren, aus denen sie Erkenntnisse gewonnen haben, dann erzählen sie manchmal auch so etwas wie: „Ich bin im Zug gefahren und dieser Mann hat etwas zu mir gesagt, und dann sind wir ins Gespräch gekommen und dadurch habe ich eine ganz neue Perspektive entwickelt.“
Es sind nicht immer die großen Life-Events. Entscheidend ist, dass es mich auf einer emotionalen Ebene berührt, damit es mich verändert. Und dadurch werde ich auch weiser. Also ich glaube nicht, dass rein durch Bücherlesen oder Psychologiestudieren die Weisheit wirklich steigt.
Kann Weisheit über die Lebensspanne hinweg auch wieder abnehmen?
Ja. Wenn man älter wird, gibt es zum Beispiel den so genannten Positivity Bias, das heißt, dass man sich zunehmend auf positive Emotionen konzentriert, weil es schwieriger wird, die negativen zu regulieren. Das bewirkt, dass man sich auf komplexere Lebensprobleme manchmal schwerer einlassen kann.
Auch die Offenheit für neue Erfahrungen lässt meist nach, weil man diese emotional nicht mehr so gut verarbeiten kann. Und es gibt bis zu einem gewissen Umfang Rückgänge der fluiden Intelligenz, so dass man weniger in der Lage ist, multidimensionale Probleme zu erfassen.
Einige neuere Studien weisen darauf hin, dass der Höhepunkt der Weisheitskurve etwa zwischen 50 und 70 Jahren liegt und sie danach statistisch etwas nachlässt. Individuell ist das natürlich sehr unterschiedlich, es gibt sehr weise 90-Jährige und vor allem wenige weise 60-Jährige. Aber es deutet vieles darauf hin, dass Weisheit im sehr hohen Alter nicht so häufig ist.
Das heißt, das Bild des alten weisen Mannes mit weißem Bart ist gar nicht so stimmig, sondern es könnte auch eine 60-jährige Frau sein?
Genau. Die Frage nach dem Geschlecht ist dabei auch interessant: Wir haben in einer Studie Menschen gebeten, andere zu nominieren, die sie für weise halten. Und da wurden genau gleich viel Männer wie Frauen genannt, was uns sehr gefreut hat.
Es gibt dieses Ungleichgewicht in Umfragen: Wenn Menschen öffentliche Figuren benennen sollen, die sie für weise halten, werden viel mehr Männer genannt. Aber das liegt wohl eher daran, dass Männer lange Zeit in der Öffentlichkeit einfach sichtbarer waren, und nicht daran, dass sie generell als weiser wahrgenommen werden.
Wenn Sie jetzt versuchen würden herauszufinden, ob ich ein gewisses Maß an Weisheit besitzen, worauf würden Sie in unserem Gespräch achten?
Dafür ist dieses Gespräch natürlich nicht ganz das Richtige, weil Sie mir Fragen stellen und ich antworte. Aber interessant ist, dass unsere Mitarbeiterinnen, die Menschen für Weisheitsstudien interviewen, erzählen, dass hohe Weisheit relativ schnell sichtbar wird. Es gibt so eine Art von Offenheit und Interesse an anderen Menschen, ein bescheidenes Auftreten, das trotzdem in sich selbst ruht und im Frieden mit sich ist – das hat einen starken Ausstrahlungscharakter.
Aber wie eruieren Sie Weisheit in Ihren Studien?
Wir befragen Menschen unter anderem zu schwierigen Ereignissen und Konflikten in ihrem Leben. Daran kann man vieles ablesen, zum Beispiel ob die Person auch in schmerzlichen oder herausfordernden Situationen selbstreflektiert ist. Ob sie anerkennt, dass sie selbst nicht alles optimal gemacht hat, ob sie ihre Urteile über die Zeit verändert und ob sie über Emotionen – auch die anderer Beteiligter – in ihrer Komplexität sprechen kann. Das alles wären typische Anzeichen von einem weisen Nachdenken über vergangene Erfahrungen.
Sind weise Menschen glücklicher?
Das hängt davon ab, mit welchen Weisheits- und welchen Zufriedenheitsmaßen man in Studien arbeitet. Aber wenn man sich die Ergebnisse genauer anschaut, stellt man fest, dass unabhängig vom verwendeten Weisheitsmaß die hochweisen Menschen auch hochzufrieden und hochglücklich sind. Es gibt aber keine statistische Korrelation.
Da hat man wieder das gleiche Muster wie bei der Intelligenz: Sie finden keine hochweisen Menschen, die sehr unglücklich sind. Aber Sie finden viele hochglückliche, aber unweise Menschen. Deswegen ist es kein linearer Zusammenhang. Vielleicht ist es in mancher Hinsicht einfacher, glücklich zu sein, wenn man nicht ganz so weise ist.
Warum?
Weil man vieles verdrängen kann, wenn man nicht so weise ist. Weil die kritische Perspektive auf sich selbst wegfällt, und nicht über alles in seiner verwirrenden Vielfältigkeit nachgedacht werden muss. Wobei hochweise Menschen es schaffen, ihre eigenen Schwächen zu sehen und trotzdem im Großen und Ganzen mit sich selber im Frieden zu sein.
Sie haben untersucht, was es uns schwer macht, im Berufsalltag weise zu handeln. Was haben Sie herausgefunden?
Wir haben Lehrerinnen und Lehrer sowie Managerinnen und Manager untersucht. Ein Hindernis für weises Handeln ist die Rolle: Wenn man aufgrund des Kontextes recht haben muss, dann erschwert das weises Verhalten. Das ist bei Lehrerinnen und Lehrern so: Meine Rolle ist, dass ich diejenige bin, die alles weiß. Und wenn Schüler kommen und etwas besser wissen, dann ist das nicht spannend, sondern eher ein Problem.
Bei Managerinnen ist das ähnlich. Wenn es eine Krise gibt, können sie nicht sagen: Oh Gott, ich habe keine Ahnung, was wir jetzt machen sollen. Sondern sie machen eben irgendetwas, und das ist manchmal nicht so weise. Zeitdruck ist dabei natürlich ein weiterer Aspekt, der nicht weisheitsfördernd ist.
Wenn ich mir jetzt vornehme: Ich möchte zu denen gehören, die zwischen 50 und 70 sehr weise sind. Worauf sollte ich in den nächsten Jahren achten?
Sie sollten sich selbst fragen: Was ist mir eigentlich wichtig? Warum verhalte ich mich so, wie ich es tue? In welchen Situationen fühle ich mich unwohl oder handle anders, als ich es eigentlich für richtig halte – und woran liegt das? Gefühle, vor allem starke, enthalten wichtige Informationen für uns.
Man sollte sich von ihnen natürlich nicht unbedingt leiten lassen, sondern eher versuchen zu verstehen, woher sie kommen, was einen triggert. Sie sollten also über sich selber nachdenken, um auch eigene blinde Flecken und Schwächen zu erkennen. Wobei wichtig ist, sich diese auch zu verzeihen.
Und das andere ist: Die guten Dinge genießen. Das ist auch ein Ergebnis unserer Forschung: Weise Menschen wissen anscheinend recht genau, was ihnen guttut, und sie handeln auch danach. Für viele Menschen ist es die Natur oder das Zusammensein mit Freundinnen und Freunden, für andere sind es kulturelle Erlebnisse. Daraus ziehen weise Menschen die Kraft, um mit schwierigen Dingen des Lebens umgehen zu können.
Wenn weise Menschen gut genießen können, spricht das im Umkehrschluss vielleicht dafür, dass eine sehr hohe Gewissenhaftigkeit der Weisheit eher abträglich ist?
Dazu haben wir keine Korrelationen in Studien gefunden. Ich empfinde das Gewissenhaftigkeitskonzept ohnehin als ein bisschen schwierig. Ich würde jetzt mal ins Blaue hinein behaupten, dass weise Menschen anderen Menschen gegenüber sehr gewissenhaft sind. Aber vielleicht nicht den super aufgeräumten Schreibtisch haben.
Judith Glück ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Klagenfurt und renommierte Weisheitsforscherin. Letztes Jahr von ihr erschienen ist, zusammen mit Robert J. Sternberg Wisdom. The Psychology of Wise Thoughts, Words, and Deeds bei Cambridge University Press