Ein kleines Stressexperiment

Wie fühlen wir uns, wenn wir S-Bahn fahren, und warum? Was macht die Fahrt angenehm? Stressforscher Mazda Adli über die Psychologie der S-Bahn.

Eine rote Bank in einer S-Bahn mit Aussicht aus dem Fenster
© plainpicture/Daniel K. Schweitzer

Die typische Situation, die den meisten Menschen in den Sinn kommt, wenn sie an Stress, Dichte und Drängelei in der Stadt denken, sind Fahrten mit „den Öffentlichen“ zur Hauptverkehrszeit. Dicht in S- oder U-Bahn gedrängt, erleben wir dann für einen begrenzten Zeitraum etwas, das sozialem Stadtstress schon sehr nahekommt: Enge gepaart mit Anonymität, soziale Dichte und gleichzeitig Isolation. Sozialer Stadtstress – das ist der Stress, der auf Dauer psychisch besonders belasten kann. Glücklicherweise sind…

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Stress, der auf Dauer psychisch besonders belasten kann. Glücklicherweise sind wir in öffentlichen Verkehrsmitteln diesen Bedingungen nicht hilflos ausgeliefert. Die Fahrzeit ist begrenzt. Und wenn es gar nicht mehr geht, dann steigt man eben aus. Ein kleines psychologisches Stressexperiment, an dem wir gut ablesen können, wie unsere individuelle Stresskurve verläuft und welche Emotionen dabei auftauchen.

Die meisten Großstädte der Welt eint ein überfülltes öffentliches Verkehrssystem. Berlins U- und S-Bahn-Netz umfasst 480 Kilometer. Es ist damit exakt so lang wie das Streckennetz der Londoner Tube. Die Subway in New York erstreckt sich über 370 Kilometer. 60 Prozent der täglichen Berufspendelwege werden dort mit dem öffentlichen Nahverkehr zurückgelegt. In Berlin sind es immerhin 40 Prozent. Genug Möglichkeit also für Selbstexperimente – aber auch, um sich aus der Fahrt ein angenehmes Erlebnis zu machen.

Übungen helfen

Gerade diese Transitzeiten, die in einer Stadt wie Berlin durchaus dauern können, lassen sich gut zur Selbstfürsorge nutzen. Zeit, in der man bewusst die eigenen Gedanken ordnet: Wie geht es dir gerade? Was möchtest du heute erleben? Was könntest du tun, damit du am Abend den Tag als gelungen empfindest? Das sind Fragen, in die man sich morgens auf dem Weg zur Arbeit vertiefen kann. Aber wie soll das gehen im Gedränge, ohne Sitzplatz und wenn man an jeder Haltestelle auf den Bahnsteig treten muss, um Aussteigende herauszulassen? Genau da können Achtsamkeitsübungen helfen.

Sie stammen ursprünglich aus der buddhistischen Meditation und werden heute in der modernen Psychotherapie breit angewandt. Ziel ist, die Konzentration auf einen einzelnen Aspekt des eigenen Erlebens zu fokussieren und die Wahrnehmung zu hundert Prozent auf das zu lenken, was gerade passiert. Die winzigen Details um einen herum aufmerksam wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. Dazu kann man sich auf einen oder mehrere Sinneseindrücke konzentrieren, mit geschlossenen Augen beispielsweise nachspüren: Wie liegt der Rücken an der Lehne an? Stehen die Füße stabil auf dem Waggonboden? Oder man konzentriert sich auf Geräusche, etwa wie die S-Bahn klingt, wenn sie geradeaus fährt, und wie sich das ändert, wenn sie sich langsam in eine Kurve lehnt. Solche Übungen machen den Kopf frei von Grübeleien über das, was war, und von Sorgen über das, was kommt.

Rituale und Unerwartetes

Um das Bewusstsein der Fahrgäste für den Moment zu schärfen, lassen sich auch die städtischen Verkehrsbetriebe manchmal etwas einfallen. So kam den Berliner Verkehrsbetrieben Anfang 2015 die Idee, jede Station auf der Linie U2 von einer prominenten Person ansagen zu lassen. Marius Müller-Westernhagen sagte den Theodor-Heuss-Platz an, Veronika Ferres den Ernst-Reuter-Platz. Es wäre nicht Berlin, hätte die Aktion nicht viel Häme geerntet. Schließlich gab es sogar eine Petition, sie zu beenden. Wenig später wurden die Stimmen ausgetauscht, und „normale Berliner Bürger“ wie Ray aus dem Wedding oder Karin aus Charlottenburg übernahmen die Aufgabe.

Die wichtigste Beobachtung dabei war: Die Ansagen rissen die Pendler aus ihrem Dämmerschlaf. Die Leute hörten plötzlich hin, kamen miteinander ins Gespräch, und vor allem entstand jedes Mal ein Gefühl von Gemeinsamkeit unter Unbekannten. Man erlebte zusammen etwas völlig Unerwartetes, was das täglich wiederkehrende Ritual durchbrach. Mancher empfand gleichzeitig aber auch ein peinliches Gefühl. Das kommt daher, dass man sich plötzlich bewusstwird, gemeinsam mit vielen anderen den engen Raum zu teilen. Plötzlich stehen wir vor diesen Menschen und müssen mit ihnen interagieren. So, als wäre man auf einer Bühne, und auf einmal geht das Licht an. Auch das: ein soziales Stressexperiment.

Die Fahrt mit U- und S-Bahn steht aber nicht nur für den Stress in unseren Städten, sondern auch für das, was unsere Städte auszeichnet: ihre Vielfältigkeit. Sie verbindet unterschiedlichste Welten und macht sie gleichzeitig erlebbar. Ur-Berlinerinnen, Zugezogene und Touristen, Politikerinnen, Lehrer und Friseure, Jung und Alt, Arm und Reich. Menschen auf dem Weg in die Schule, nach Hause, zum Sport, ins Theater. Auf dem Arbeitsweg trifft man morgens nicht selten Nachtschwärmer, die sich müde nach Hause schleppen.

Epidemiologen haben vor einigen Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung um Londoner U-Bahn-Stationen herum ausgewertet und berechnet, dass diese sich alle zwei Stationen um ein Jahr verringert, wenn man von Westminster aus in Richtung Osten fährt. Nach bereits 20 Minuten Fahrt kommt eine erhebliche Differenz zusammen. Diese erklärt sich durch das soziale Gefälle, das man durchreist. Gesundheit und Armut korrelieren auf vielfache Weise miteinander. Das ist bekannt. Die U-Bahn überwindet die sozialen Grenzen. Sie hält sie offen und sorgt so für eine Permeabilität, also Durchläs­sigkeit, ohne die die soziale Ungleichheit einer Stadtgesellschaft noch sehr viel größer und die Unterschiede sehr viel schwerer kompensierbar wären.

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Prof. Dr. Mazda Adli ist Psychiater, Psychotherapeut und Stressforscher. Er ist Chefarzt der Fliedner-Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité–Universitätsmedizin Berlin

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2021: Frauen und ihre Väter