Am 30. Januar 1948 um 17:17 Uhr fielen in Neu-Delhi drei Schüsse. Die tödlichen Kugeln durchdrangen die entblößte Brust von Mahatma Gandhi. Millionen Menschen weltweit trauerten um den Vorkämpfer für die Unabhängigkeit Indiens. Schon zu Lebzeiten wurde er zwölfmal für den Friedensnobelpreis nominiert. Und sein unerschütterlicher Einsatz für Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit beeindruckt über seinen Tod hinaus: Noch Jahrzehnte nach dem Attentat führt sein Name eine Rangliste weiser Menschen an, die auf Basis…
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führt sein Name eine Rangliste weiser Menschen an, die auf Basis einer Umfrage an der University of British Columbia erstellt wurde. Auf weitere Plätze wählten die Studenten so herausragende Persönlichkeiten wie Jesus Christus, Martin Luther King und den Dalai-Lama.
Gemeinsam ist Weisen wie ihnen ein großer Wissens- und Erfahrungsschatz, der sie kluge Ratschläge geben und schwierige Situationen überblicken lässt. Und ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, das sich auch in der Sorge um das Wohl anderer zeigt. Wenn Menschen wie jene auf dieser Liste befindlichen angegriffen werden, reagieren sie eher mit einem Lächeln auf den Lippen als mit einer Falte auf der Stirn.
„Weise Menschen bleiben unter widrigen Umständen gelassen“, sagt Monika Ardelt, Soziologin an der University of Florida. „Dadurch können sie das Leben auch eher genießen als andere.“ Ardelts Studien haben ergeben, dass relativ weise Menschen auch zufriedener sind als weniger weise, besonders im Alter und sogar im Angesicht von Krankheit und Tod. Offenbar können sie besser mit Verlusten umgehen und haben eher das Gefühl, einen Sinn im Leben gefunden zu haben.
„Weisheit bedeutet, im Großen und Ganzen so zu leben, wie es für einen wichtig ist – und sich auch die schönen Momente selbst zu schaffen“, sagt die österreichische Psychologin und Weisheitsforscherin Judith Glück (siehe auch Interview Seite 38). An der Universität Klagenfurt führt sie Interviews mit Menschen, die von anderen als weise bezeichnet werden. Bei der Auswertung der Gespräche fällt auf, dass vor allem die befragten Frauen häufig spontan von Gefühlen der Dankbarkeit sprachen: für das Leben an sich, aber besonders auch für ihre Partnerschaft. Vermutlich sind sie so sehr mit sich selbst im Reinen, dass ihnen die Bestätigung des anderen nicht (mehr) so wichtig ist „und sie den Partner genau so lieben können, wie er ist“, sagt Judith Glück. Für manche sei das vielleicht der Inbegriff der wahren Liebe.
Glücklich und verliebt durch Weisheit – das klingt gut. Nur: Echte Weisheit ist leider ziemlich selten, meinen Wissenschaftler. Trotzdem scheinen viele von uns zumindest den richtigen Ansatz in sich zu tragen. „Die meisten Menschen kennen jemanden, den sie als weise empfinden“, sagt Judith Glück. „Häufig sind das Personen, deren Rat uns eine ganz neue Perspektive auf ein Problem eröffnet hat.“ Schon Grundschulkinder haben eine Vorstellung von Weisheit. Für sie bedeutet „weise“ vor allem, „schlau“ und „nett“ zu sein – Eigenschaften, die sie oft mit ihren Großeltern oder Eltern in Verbindung bringen, ergab eine Befragung.
Doch obwohl Laien Weisheit leicht zu erkennen meinen, tut sich die Wissenschaft mit einer Definition schwer. Lange Zeit haftete dem Begriff etwas Esoterisches an. Psychologen und Soziologen waren unschlüssig, wie sie die Eigenschaft empirisch messen sollten. Erst in den 1980er Jahren kam die Forschung in Fahrt. Der renommierte Berliner Lebenslaufforscher Paul Baltes beschrieb Weisheit damals als „Expertenwissen über die fundamentalen Themen des Lebens“ und entwickelte eine Methode, mit der man dieses Wissen erfassen konnte: das Berliner Weisheitsparadigma.
Baltes’ Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, in der auch Judith Glück promoviert hat, führte mit diesem Paradigma eine Reihe von bahnbrechenden Studien durch. Ihre Probanden sollten dabei laut über kurze Beschreibungen von schwierigen Lebenssituationen nachdenken, wie zum Beispiel: „Ein guter Freund ruft an und sagt, dass er so nicht weiterleben kann und einen Suizid begehen will. Was sollte man selbst oder die andere Person in solch einer Situation beachten und tun?“ Die Wissenschaftler werteten die Antworten nach bestimmten Kriterien aus und schätzten so das Weisheitsniveau der Teilnehmer ein. Dabei fanden sie heraus, dass die Leistungen der Befragten zwischen dem 14. und dem 25. Lebensjahr steil ansteigen, sie also immer weiser zu werden scheinen. Überraschend war jedoch, dass die Forscher anschließend keinen Zusammenhang mehr zwischen Alter und Weisheit finden konnten – obwohl ältere Menschen wesentlich häufiger als weise bezeichnet werden als junge. Nicht nur deshalb bezweifelt die Soziologin Monika Ardelt, dass das Berliner Weisheitsparadigma von Paul Baltes und seinem Team tatsächlich die Weisheit der Teilnehmer misst.
„Wer weise Ratschläge in hypothetischen Situationen gibt, muss sich nicht unbedingt auch im echten Leben weise verhalten“, sagt sie. Hilfestellungen seien immer auch abhängig von dem Gegenüber, dem der Rat gilt, und den konkreten Umständen. Die Wissenschaftlerin stimmt den Berliner Forschern zwar zu, dass weise Menschen viel über das Leben und den Umgang mit Schwierigkeiten wissen und die Graustufen zwischen Schwarz und Weiß wahrnehmen. Sie betont jedoch auch: „Weise Menschen können sich besser in andere hineindenken und Mitgefühl für sie und für sich selbst entwickeln.“ Für ihre Studien hat Monika Ardelt einen eigenen Fragebogen entwickelt, mit dem die Teilnehmer ihr Weisheitsniveau selbst einschätzen können – auf Grundlage ihres tatsächlichen Verhaltens und ihrer Eigenschaften (siehe den Kasten rechts).
Einig sind sich viele Forscher darin, dass Lebenserfahrungen inneres Wachstum fördern können – besonders wenn sie negativ sind. Denn Erlebnisse wie Krankheit, ein Unfall oder der Tod eines vertrauten Menschen führen häufig dazu, sich mit bis dahin unbekannten Gefühlen, Problemen und Lösungswegen auseinanderzusetzen. „Jemand, dessen Leben immer gradlinig verläuft, kann wahrscheinlich gar nicht weise werden“, sagt Judith Glück. Doch woran liegt es, dass manche Menschen an schwierigen Erfahrungen wachsen, während andere daran verzweifeln?
Judith Glück glaubt, dass bestimmte Ressourcen uns dabei helfen können, weise zu werden. Darauf deutete bereits ihre erste Studie zum Thema hin. Die Wissenschaftlerin wollte darin untersuchen, ob ihre Versuchsteilnehmer weisere Antworten auf die kurzen Geschichten des Berliner Weisheitsparadigmas gaben, wenn sie vorher darüber nachgedacht hatten, was Weisheit eigentlich ist. Tatsächlich erbrachten einige Probanden dadurch bessere Leistungen – allerdings nur diejenigen, die über Lebenserfahrung, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und Intelligenz verfügten.
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Susan Bluck, die wie Monika Ardelt an der University of Florida forscht, hat Judith Glück ein Modell aufgestellt, das erklärt, wie Weisheit entsteht. Demzufolge werden vor allem offene Menschen weise, weil sie eher bereit sind, aus Erfahrungen zu lernen und ihre Meinung daraufhin zu verändern. Zudem sei es hilfreich, sich mit den eigenen Gefühlen zu beschäftigen, die Emotionen wahrzunehmen, sie zuzulassen, aber sie auch der Situation entsprechend zu regulieren.
Weise Menschen lassen sich nicht so leicht von unwichtigen Ereignissen aus der Ruhe bringen. Und sie können sich besonders gut in andere einfühlen. Das hilft ihnen zu verstehen, warum sich jemand auf eine bestimmte Weise verhält und welcher Ratschlag dem Gegenüber helfen könnte. Außerdem können sie das Erlebte kritisch reflektieren, um daraus zu lernen, Lösungen zu finden und unterschiedliche Interessen auszubalancieren. Dafür ist auch ein gewisses Maß an Intelligenz nötig. Ebenso wichtig ist es aber, die Grenzen der eigenen Kontrolle zu kennen. Denn im Leben passiert viel, ohne dass wir es beeinflussen können. Weise Menschen wissen das und blicken entspannter in die Zukunft. Gerade weil sie bereits negative Erfahrungen gemacht haben, sind sie dankbar für die schönen Momente.
All diese Ressourcen, die – immer gepaart mit Lebenserfahrungen – zur Weisheit führen, tragen wir bereits in uns und können sie entsprechend auch fördern. Judith Glück schlägt dafür kleine Übungen im Alltag vor wie etwa Gespräche mit einer bisher unbekannten Kollegin.
Dass das eigene Weisheitsniveau relativ leicht beeinflussbar ist, konnte kürzlich eine weitere Studie zeigen. Die Teilnehmer sollten neun Tage lang negative Erlebnisse in ihrem Alltag und ihre Reaktionen in einem Tagebuch festhalten. In den Berichten suchten Psychologen dann nach Anzeichen von Weisheit, also zum Beispiel nach Hinweisen darauf, dass jemand ein Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet hatte oder dass ihm bewusst war, wie wenig er das Leben kontrollieren kann. Die Wissenschaftler waren erstaunt, wie stark das Ausmaß an Weisheit zwischen den Situationen schwankte. Insgesamt schienen die Teilnehmer im Verlauf der neun Tage aber immer weiser zu werden – vermutlich weil das Tagebuch ihre Fähigkeit förderte, Vergangenes und das eigene Verhalten zu reflektieren.
Allerdings ist die Auseinandersetzung mit schwierigen Lebenserfahrungen keineswegs angenehm. Sie beinhaltet zum Beispiel auch, sich mit den eigenen Schwächen kritisch auseinanderzusetzen und womöglich Schuld für vergangene Ereignisse auf sich zu nehmen. Dadurch könnten Menschen zwischenzeitlich weniger glücklich mit sich und ihrem Leben sein, auch wenn sie langfristig zufriedener würden, meint Judith Glück. „Vielen ist der Weg zur Weisheit daher zu schmerzhaft.“ Schließlich ist es viel leichter, Verantwortung und Probleme von sich zu schieben. Und auch auf diese Weise kann man glücklich werden – nur eben nicht weise.
Vielleicht aber gibt es noch einen anderen Weg zur Weisheit, der ohne negative Erfahrungen auskommt: Meditation. „Die mentalen Übungen können helfen, die eigenen Gefühle zu regulieren“, sagt Monika Ardelt. Langfristig sollen sie, wie man es schon seit Jahrhunderten im Buddhismus und Taoismus glaubt, Weitblick und Empathie fördern. Bisher wurde erst eine empirische Studie zu Meditation und Weisheit veröffentlicht. Darin erzielten die Teilnehmer, die regelmäßig meditierten, aber tatsächlich wesentlich höhere Werte in einem Weisheitsfragebogen als Vergleichsgruppen, die Ballett tanzten oder Methoden zur besseren Selbstwahrnehmung beherrschten wie Feldenkrais oder die Alexander-Technik. Und: Je mehr Erfahrungen die Teilnehmer mit Meditation hatten, desto weiser waren sie, unabhängig von ihrem Alter.
Bei allen Übungen für mehr Weisheit, ob es sich um Meditation handelt oder eine Stärkung der inneren Ressourcen, ist eines jedoch ganz wichtig: nicht verbissen zu „trainieren“. Weisheit ist kein Punkt auf einer To-do-Liste. Und auch inneres Wachstum kann man nur begrenzt kontrollieren. Wirklich weise Menschen wissen das.
Fünf Tipps für mehr Weisheit
Durch einen guten Umgang mit kritischen Lebensereignissen können wir innerlich wachsen. Dabei helfen uns Offenheit, Zugang zu den eigenen Gefühlen, Einfühlungsvermögen, Reflexivität und eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Wer die folgenden Tipps befolgt, soll diese Ressourcen damit fördern.
Fragen Sie eine Person, die Ihnen eher fremd ist (zum Beispiel eine Kollegin), nach ihrem Leben oder warum sie sich auf eine bestimmte Art verhält. So lassen Sie die Möglichkeit zu, dass Ihre fixe Vorstellung von jemandem aufgelockert wird – und Sie offener werden.
Spüren Sie in Ihren Körper hinein, wenn Sie in einer emotionalen Situation sind, zum Beispiel aufgeregt oder enttäuscht. Zittern die Hände, krampft sich der Magen zusammen? Wer die Signale seines Körpers verstehen lernt, wird auch für seine Gefühle sensibler.
Um das Mitgefühl gegenüber Fremden zu stärken, können Sie sich vorstellen, wie der andere aufgewachsen ist und wie sich sein Leben anfühlt, zum Beispiel in einem Land, dessen Sprache man nicht versteht.
Eine breitere Perspektive auf Konflikte einzunehmen kann gelingen, indem man sich klarmacht: Wie würde das Gegenüber das Problem einem anderen schildern? Was würden Sie jemandem in einer ähnlichen Situation raten?
Fragen Sie sich öfter mal, ob Sie vielleicht gegen etwas ankämpfen, was Sie realistischerweise gar nicht ändern können – gerade in Bereichen, die Ihnen sehr wichtig sind, wie etwa der Partnerschaft. Wenn wir unsere Grenzen erkennen, verschwinden die Probleme oft von selbst.
Judith Glück: Weisheit. Die 5 Prinzipien des gelingenden Lebens. Kösel, München 2016
Wie weise bin ich?
Um das Weisheitsniveau ihrer Studienteilnehmer einzuschätzen, legen Wissenschaftler wie die Soziologin Monika Ardelt ihnen Fragebögen vor.
Besonders weise Menschen würden folgende Sätze zum Beispiel eher bestätigen:
„Wenn ich mich über jemanden aufrege, versuche ich, mich für eine Zeit in dessen Lage zu versetzen.“
„Ich versuche immer, alle Seiten eines Problems zu betrachten.“
„Ich komme gut mit allen Typen von Menschen aus.“
Diese Sätze würden sie dagegen eher ablehnen:
„Menschen sind entweder gut oder schlecht.“
„Ich zögere, wichtige Entscheidungen zu treffen, nachdem ich über sie nachgedacht habe.“
Um verzerrende Effekte zu vermeiden, teilt Monika Ardelt ihren Probanden nicht mit, was der Fragebogen tatsächlich misst. Einige Wissenschaftler bezweifeln trotzdem, dass Menschen ihr Weisheitsniveau ehrlich einschätzen können. Eventuell sehen sich weise Menschen sogar besonders kritisch, weil sie auch ihre eigenen Schwächen kennen.
Monika Ardelt: Wisdom as expert knowledge system: A critical review of a contemporary operationalization of an ancient concept. Human Development, 47, 2004, 257–285. DOI: 10.1159/000079154
„Eltern können Kindern in dieser Hinsicht viel vorleben“
Die österreichische Psychologin Judith Glück über weises Verhalten in Erziehung und Politik
Frau Professor Glück, kann jeder weise werden?
Jeder kann zumindest weiser werden. Aber jeder stößt irgendwann auch an seine Grenzen. In den Studien meiner Arbeitsgruppe haben wir Menschen gefragt, ob sie in ihrem Leben schon mal weise waren. Die meisten können tatsächlich so eine Situation beschreiben. Vor allem wenn sie jemand anderem etwas raten sollten und nicht direkt selbst betroffen waren. Andererseits kennen wir alle auch Situationen, in denen wir völlig unweise, also zum Beispiel sehr emotional reagiert haben. Da können sich viele sicher noch weiterentwickeln.
Sie glauben, dass wir lernen können, weise zu denken und zu handeln. Lässt sich das schon Kindern beibringen?
Nicht so gezielt wie Erwachsenen. Aber Eltern können Kindern in dieser Hinsicht viel vorleben und mitgeben. Zum Beispiel indem sie sie als Menschen ernst nehmen. Eltern glauben oft zu wissen, was ihre Kinder denken und möchten. So stecken sie sie in eine Schublade, die nicht unbedingt die richtige sein muss. Wenn die Eltern ihnen aber zuhören und offen gegenüberstehen, lernen die Kinder, selbst reflektiert mit anderen umzugehen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass einen das Elternsein auch viel über sich selbst lehrt.
Eltern können also auch durch ihre Kinder weiser werden?
Ein Stück weit bestimmt. Denn wenn man ein Kind bekommt, ist plötzlich alles anders, als man es gewohnt war. Das Kind wacht zum Beispiel auf, wenn es nicht aufwachen soll. Sich aus dieser Unkontrollierbarkeit heraus weiterzuentwickeln, gelingt vielen Menschen sehr gut.
Kann man auch weise sein, aber sich nicht so verhalten?
Die Frage ist, ob das dann noch Weisheit ist. Aber sicher kann nicht jeder die Weisheitsressourcen, die er in sich trägt, auch fördern und realisieren. Denn dem stehen vielfach die Umstände und Gewohnheiten in unserem Leben entgegen. Wir hätten zum Beispiel alle gerne mehr weise Politiker. Aber für wirklich weise Menschen ist dieser Beruf oft nicht attraktiv, weil sie dann auch Kompromisse machen und gegen die eigenen Überzeugungen handeln müssten. Wir könnten uns daher fragen, wie wir das System verändern sollten, damit mehr Weisheit in der Politik möglich ist.
Interview: Nele Langosch