Die Verunsicherung kann man sich wie ein zweistöckiges Haus vorstellen. Wenn wir spät abends zum zehnten Mal den Vortrag für den nächsten Tag durchgehen, weil wir uns vergewissern wollen, dass alles perfekt ist, ist die Unsicherheit anlässlich der Präsentation nur das obere Stockwerk. In der unteren, schwer zugänglichen Etage tummeln sich indes die Themen, die uns dauerhaft verstören: Unser Unbewusstes mit seinen still arbeitenden, ungelösten seelischen Konflikten sowie die existenziellen Themen, der Tod…
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von dem Ingolstädter Psychoanalytiker Ralf T. Vogel. Es zeigt uns, dass wir langfristig am besten mit dem Gefühl der Verunsicherung zurechtkommen, wenn wir bei beidem ansetzen: der konkreten Situation in der oberen Etage – und dem unklaren Durcheinander darunter.
Ungewissheit, also das Nichtwissen darüber, wie es in Zukunft weitergeht, ist für die meisten Menschen sehr belastend. Sie führt sie zu einem Gefühl der Verunsicherung und zu Stress. Als London im Zweiten Weltkrieg bombardiert wurde, häuften sich unter den Menschen in den Vororten stressbedingte Magengeschwüre – nicht aber unter den Bewohnerinnen und Bewohnern der Innenstadt. Sie rechneten bereits mit Angriffen und gingen Nacht für Nacht in den Luftschutzkeller. Die Menschen in den Außenbezirken hatten jedoch zu der Gefahr der Bomben noch die Belastung, dass solche Angriffe unvorhersehbar waren.
Dieses Beispiel skizziert der Wissenschaftsautor Stefan Klein in seinem Buch Alles Zufall. Die Kraft, die unser Leben bestimmt. „Wir schätzen stabile Verhältnisse, selbst wenn wir darunter zu leiden haben“, schreibt er. Das zeige sich zum Beispiel täglich im Büro: Statt sich Machtkämpfen mit ungewissem Ausgang zu stellen, bevorzugten es die meisten Menschen, sich in Hierarchien einzuordnen. Selbst wenn die Chefin unangenehm ist – man weiß unter ihr zumindest, woran man ist.
Existentielles Potential der Coronakrise
In anderen Situationen können wir der Ungewissheit nicht so leicht entkommen: in Beziehungskrisen, in denen wir in einem orientierungslosen Spannungszustand festhängen, wenn wir arbeitslos sind oder wenn wir auf die Ergebnisse einer medizinischen Untersuchung warten.
Menschen, die eine Krebserkrankung überstanden haben, beschreiben oft eine schwer zu ertragende Unsicherheit, ob der Tumor wiederkommt. Die Sorge werde mit den Jahren geringer, gehe aber nie ganz weg, sagen viele von ihnen. Manche Ungewissheiten betreffen unsere eigenen Fähigkeiten: Wenn wir etwa nicht wissen, ob wir uns bei dem Vortrag auf unser Gedächtnis verlassen können. Andere beziehen sich auf die Umwelt: Wie bald wird der Klimawandel Menschen zur Flucht treiben? Wann wird er uns hierzulande auch direkt treffen – und wie hart? Wie wird sich die Pandemie entwickeln? Welche Folgen wird das für unseren Arbeitsplatz haben?
Dem Therapeuten Ralf T. Vogel zufolge traf uns die Coronakrise noch tiefer, als uns bewusst ist. Durch „ihr existenzielles Potenzial“, also indem sie uns unsere Schwäche und Sterblichkeit vor Augen geführt hat, habe sie zu einer allgemeinen Verunsicherung geführt. An konkrete Anlässe wie Lockdowns oder Fernsehbilder von Särgen hätten sich „sozusagen wie Post-its“ die existenziellen Themen angeheftet, erläuterte er im Frühjahr bei den Lindauer Psychotherapiewochen.
Unter existenziellen Themen versteht Vogel, dem Psychotherapeuten Irvin Yalom folgend, Einsamkeit, Sinn, Freiheit und Tod. Manche Philosophinnen und Philosophen zählen auch noch andere große Probleme dazu, etwa Leid. Diese existenziellen Themen verbindet, dass sie „aporetisch“ – also letztlich unlösbar – und „opak“, undurchsichtig sind. Daher verunsichern sie. Und momentan, inmitten all der Krisen machen sie sich bei vielen stärker als sonst bemerkbar: Im unteren Geschoss kollert es.
Psychische Spannungen
Ein paar Monate nach dem Kongress präzisiert Vogel am Telefon das Bild der beiden Etagen: „Die aktuelle Situation im Hier und Jetzt schlägt eine emotionale Brücke zu dem existenziellen Stockwerk.“ Er nennt ein Beispiel: Man darf aufgrund einer Ausgangssperre die Wohnung nicht verlassen und ist tagelang allein zu Hause. An sich ist das ja nicht so dramatisch – aber es kann uns an ein durchaus grundlegenderes Problem erinnern: Einsamkeit. Und dieses Element aus dem unteren Geschoss wiederum könne der konkreten Situation eine „existenzielle Energie“ hinzufügen, so Vogel.
Dann nehmen wir die überschaubare Zeit des Eingesperrtseins viel schlimmer wahr, als es der Situation entspricht. Wir fühlen uns einsam. Die beschwichtigende Phrase „Es geht ja nicht um Leben und Tod“ hilft dann wohl kaum weiter – aber sie illustriert das Problem: Das Gefühl des Alleinseins wird aufgeladen von einer tieferliegenden Not. Trennt man die beiden Etagen voneinander, verliert die konkrete Situation ihre Drastik. Dann ist man wieder nur allein, anstatt sich gleich einsam zu fühlen. Vogels These könnte erklären, weshalb manche Menschen in der Zeit der Pandemie verunsicherter waren als sonst, und zwar auch bei Themen, die mit Corona wenig zu tun hatten.
Unsichere, ungewisse Situationen erzeugen eine unangenehme psychische Spannung – aber nicht bei allen Menschen im gleichen Maße. Sie unterscheiden sich je nach Persönlichkeit in ihrer inneren „Toleranz“ gegenüber dem Ungewissen. Manche kommen damit besser, andere schlechter klar.
Keine Scheu vor Unsicherheit
Dies ist das Thema von Nils Spitzer. Der in Berlin praktizierende Verhaltenstherapeut hat 2019 das bis dahin erste deutschsprachige Fachbuch zum Thema veröffentlicht: Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen, danach den Ratgeber Schritte ins Ungewisse. Womöglich war dieses Gebiet hierzulande deshalb so unterbelichtet, „weil man das Unklare einfach nie so attraktiv findet wie das Klare“. Dabei liege vielen Symptomen seiner Patienten das Problem zugrunde, mit Unsicherheit nicht gut zurechtzukommen, so Spitzers Beobachtung.
Anders als der Psychoanalytiker Vogel, der sich besonders für das Unbewusste interessiert, arbeitet Spitzer als Verhaltenstherapeut vor allem an den Beschwerden in der Gegenwart – im Bild der zwei Stockwerke liegen sie im oberen. In seinen Therapiestunden geht es häufig um die Fähigkeit, Unsicherheit zu ertragen. Wer über eine hohe Unsicherheitstoleranz verfügt, mag es zwar nicht unbedingt gerne, wenn er zum Beispiel nicht weiß, was aus den ewig studierenden Kindern einmal wird – aber kann es ertragen. Die individuelle Ungewissheitstoleranz lässt sich mit Fragebögen messen.
Ihr Gegenteil ist die Ungewissheitsintoleranz. Sie kann verschiedene Gedanken beinhalten (siehe Kasten unten), zum Beispiel dass Ungewissheit gefährlich ist. Über die Ursachen dieser starken Scheu vor Unsicherheit ist bislang wenig bekannt. Dass man mit sehr starren Regeln erzogen wurde, könnte dazu beitragen.
Besonders oft tritt sie bei Menschen mit einer generalisierten Angststörung auf (siehe Definition unten) oder bei Menschen mit Zwängen, die etwa fünfmal prüfen, ob sie den Ofen wirklich ausgeschaltet haben. Aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen oder Autismus lauert im Hintergrund häufig eine Intoleranz gegenüber Ungewissheit. Sie gilt daher als „transdiagnostischer Faktor“, also als Risiko für verschiedene psychische Störungen.
Ständige Sorgen
Oft sei Betroffenen dieser Hintergrund nicht klar, sagt Spitzer. Sie kommen nicht in seine Praxis und sagen: „Ich leide an Ungewissheitsintoleranz, was kann man da machen?“ Spitzer fragt gezielt nach, wenn etwa ein Patient ein aufreibendes Kontroll- oder Vergewisserungsverhalten zeigt oder eine Patientin über ständige Sorgen klagt. So wie die Verwaltungsangestellte, die bei ihm Unterstützung suchte.
Sie war Mitte zwanzig, Mutter zweier Kinder und durch die Unsicherheiten in ihrem Alltag sehr belastet. „Sie hatte ständig wechselnde Alltagssorgen über ungewisse Situationen, wie die, dass sie in einen Stau geraten und ein Kind zu schreien anfangen könnte. Auch ließ sie der Gedanke nicht los, dass sie eine neurologische Krankheit haben könnte.“ Besonders die sozialen Ängste dieser Patientin zeigten, warum der Therapeut am Umgang mit Unsicherheiten ansetzte: „Sie war etwas übergewichtig und dachte, dass die anderen sie hässlich finden und nicht mögen könnten.“
Sehr eng verbunden mit der Fähigkeit, Ungewissheit auszuhalten, ist die Ambiguitätstoleranz, das Ertragen von Mehrdeutigem und Widersprüchlichem. Vereinfacht gesagt ist sie das Gegenteil von Schwarz-Weiß-Denken. Wer ambiguitätstolerant ist, geht davon aus, dass seine Freundin ihn liebt, auch wenn sie den Abend mit jemand anderem verbringen will, und er hält aus, dass er nicht ganz sicher ist, ob der neue Kollege mit ihm flirtet oder sich über ihn lustig macht. Im Gegensatz zur Ungewissheitstoleranz geht es bei der Ambiguitätstoleranz weniger um die Unklarheit der Zukunft, sondern mehr um die des Moments. Doch ganz scharf lassen sich die beiden Konzepte nicht voneinander trennen.
Kunst lehrt Vieldeutigkeit
Wenn die Ambiguitätstoleranz nicht gelingt, äußert sich dies „in einem Drang zur Vereindeutigung“, meint Ralf T. Vogel. Wer Vieldeutigkeit nicht ertrage, sei in seinem Urteil oft übertrieben sicher, dulde keinen Widerspruch und bleibe bei seiner Meinung, selbst wenn er Erfahrungen macht, die ihn eines Besseren belehren sollten.
Auf diese Weise lassen sich viele politische Phänomene erklären: dass Menschen die geschlossenen Weltbilder von Verschwörungstheorien mögen und die unterkomplexen Erklärungen von Populisten, dass sich die Gräben in unserer Gesellschaft vertiefen, weil man sich nicht vorstellen kann, dass eine andere Meinung ebenfalls gute Aspekte beinhaltet. In seinem vielbeachteten Essay Die Vereindeutigung der Welt schrieb der Islamwissenschaftler Thomas Bauer, dass in verschiedenen Kulturen ein unterschiedliches Maß an Ambiguitäten toleriert werde und wir in einer ambiguitätsarmen Gesellschaft lebten.
Vogel greift diesen Gedanken auf und warnt: Innerpsychisch verlieren wir, wenn wir zu stark auf Eindeutigkeit ausgerichtet sind, an Offenheit, werden geistig und emotional ärmer. Ein Gegenmittel besteht aus gedanklicher und sinnlicher Inspiration: Kunst und Kultur. Sie lehren uns Vieldeutigkeit. Literatur, Malerei oder Musik sind nie eindeutig; im Gespräch darüber oder wenn man etwas ein paar Jahre später erneut auf sich wirken lässt, erfährt man immer, wie anders man dieses Stück, dieses Werk ebenfalls empfinden und deuten kann.
Vergewisserung: ein Zeitfresser
Wenn Spitzer von seiner Patientin berichtet, versteht man, wie das Sicherheitsstreben die Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Gedanken oder Menschen reduzieren kann – allein dadurch, dass man keine Kapazität für sie hat, weil man immer damit beschäftigt ist, sich gegen seine Unsicherheit zu vergewissern. Wenn die junge Frau Gäste hat, könne sie sich oft nicht richtig auf sie einlassen.
„Sie ist so eine Gastgeberin, die nie an den Konversationen teilhat, sie ist immer beschäftigt“, sagt ihr Therapeut. Ist sie selbst bei jemandem eingeladen, bringe sie immer etwas mit, viel mehr als in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis üblich – und das obwohl es sie stresse. Sie versuche dadurch, ihre Angst, nicht gemocht zu werden, zu kontrollieren; Therapeuten nennen das Vergewisserungsverhalten.
Spitzer unterscheidet dabei zwischen annäherndem und vermeidendem Vergewisserungsverhalten. Die erste Form zeigt sich oft in übertriebener Informationssuche. Man schaut eine Coronatalkshow nach der nächsten, immer auf der vergeblichen Suche nach umfassender Gewissheit. Oder man verbringt ganze Stunden mit Recherchen und Preisvergleichen, bevor man ein Fahrradschloss kauft. Eine Folge davon, so Spitzer, kann das information fatigue syndrome sein, das auf den britischen Psychologen David Lewis zurückgeht.
Kurzfristige Entlastung
Es beschreibt Probleme, die dadurch entstehen, dass man mehr Informationen hat, als man verarbeiten kann. Folgen sind zum Beispiel Aufmerksamkeitsstörungen, allgemeine Unruhe oder die Unfähigkeit, Verantwortung zu tragen. Subtiler, aber ebenfalls kraftzehrend ist das vermeidende Vergewisserungsverhalten. Dabei weicht man dem Ungewissen aus. Man bleibt zu Hause – weil man nicht weiß, wer auf einer Geburtstagsfeier alles da sein wird. Oder man zögert die Begegnung mit Unklarem möglichst weit hinaus, wie beim Prokrastinieren.
Auf eine interessante Art verbogen ist die Vergewisserung hinter manch impulsiver Entscheidung: Die Suche eines Urlaubsziels oder Hotels wird zunächst lange aufgeschoben, um dann das nächstbeste Angebot zu buchen. Man entscheidet sich schnell und ohne viele Überlegungen, damit man später, wenn etwas schiefgeht, nicht die volle Verantwortung dafür trägt. Auch wer sich in Routinen einrichtet, entzieht sich Unsicherheiten.
Langfristig schafft das Vergewissern also Probleme. Dass wir es trotzdem oft tun, liegt daran, dass es kurz entlastet.
Irrglaube, dass Grübeln hilft
Auch die für die Unsicherheit typischen Sorgen sind zwar belastend, erzeugen aber zugleich im Hintergrund ein gutes Gefühl. Um zu verstehen, warum viele Menschen nicht vom Sorgenmachen loskommen, selbst wenn sie sagen, dass sie es möchten, hilft es, auf ihre Metakognitionen zu achten – die Gedanken über ihre Gedanken.
Leute mit einer hohen Ungewissheitsintoleranz, schreibt Spitzer, hätten überdurchschnittlich viele positive Metakognitionen, also vorteilhafte Meinungen über ihre Sorgen. Sie denken zum Beispiel, dass es eine gute Eigenschaft sei, wenn man sich sorge, oder dass es helfe. Doch natürlich hat es auch viele Nachteile. Grübeln bleibt oft ergebnislos, strengt sehr an und lässt anderen Lebensbereichen wenig Raum.
Männern und Frauen mit einer generalisierten Angststörung, also Menschen, die sich besonders viel sorgten, half bereits eine Sitzung gezielt ausgerichteter kognitiver Verhaltenstherapie, um ihre Ungewissheitstoleranz zu stärken. Das ist das Ergebnis einer Studie der Psychologinnen Lindsey Torbit und Judith M. Laposa. Andere Untersuchungen wiesen in eine ähnliche Richtung, schreibt Spitzer. Das ist eine gute Nachricht. Denn es ist ein Indiz dafür, dass man die Ungewissheitstoleranz lernen kann.
Gedanken verschieben
Sie scheint eher eine Neigung oder Gewohnheit zu sein, die sich beeinflussen lässt, keine unveränderliche Persönlichkeitseigenschaft (und selbst manche Aspekte der Persönlichkeit sind möglicherweise trainierbar). Spitzer hat mit seinen Patientinnen und Patienten jedenfalls positive Erfahrungen gemacht: Sie wurden toleranter gegenüber den Unsicherheiten des Alltags. Er empfiehlt, Schritt für Schritt an den Überzeugungen anzusetzen, die bei der jeweiligen Person ausgeprägt sind. Praktische Übungen unterstützen den Veränderungsprozess zu einem gelasseneren Umgang mit Unsicherheit.
Doch für alles gibt es Grenzen, und auch die Ressource „Unsicherheitstoleranz“ ist nicht unerschöpflich. „Wenn man gleichzeitig finanzielle Sorgen hat, darum bangt, ob der Arbeitsvertrag verlängert wird, und es in der Ehe kriselt, kann es sein, dass man das nicht mehr stemmen kann“, meint Spitzer. Wenn wir ausgelaugt sind, halten wir selbst kleine und konkrete Unsicherheiten nur noch schwer aus. Dann gehe es darum, dass wir uns nicht noch weiter fordern, indem wir von uns verlangen, dass wir nun aber doch einmal an der Fähigkeit zur Ungewissheitstoleranz arbeiten sollten.
Vielmehr ist es sinnvoll, in solchen Situationen zu schauen, ob es möglich ist, die Gedanken an manche Unsicherheiten zu verschieben. Vielleicht können wir eine Zeitlang in sicheren Gewohnheiten leben, bis wir wieder die Kraft haben, unsere Aufmerksamkeit auf das Ungewisse zu richten. Langfristig, besonders bei wiederkehrenden Sorgen, hilft jedoch eher das Gegenteil: genauer hinzuschauen, die Unsicherheit gewissermaßen zu befragen: Was willst du mir sagen?
Wenn man sie ernst nimmt und danach handelt, wird sie ruhiger. Im Fall der kriselnden Beziehung könnte man sich von einem Paartherapeuten unterstützen lassen, angesichts des Klimawandels auf Demonstrationen gehen oder in der Firma Unterschriften sammeln, um dem Chef den Umstieg auf Ökostrom nahezulegen.
Vertrauen als Mittel gegen Verunsicherung
Manchmal jedoch kann man die unsicheren Spannungszustände weder zur Seite schieben noch besonnen betrachten, man hält sie schlicht nicht aus. Dann empfiehlt Vogel, mit jemandem darüber zu sprechen. Wenn das Gegenüber besänftigende Sätze sagt, dann mag das vielleicht wie ein gut gemeinter Tröstungsversuch wirken, der an der Situation nichts ändert; trotzdem rät Vogel dazu, die beschwichtigenden Worte in sich aufzunehmen und in sich wirken zu lassen.
So könne man mit der Zeit eine „beruhigende innere Stimme erwerben“. Sich jemandem zu offenbaren benötigt allerdings Vertrauen. Ungünstigerweise bedingen sich Vertrauen und ein Gefühl der Sicherheit bis zu einem bestimmten Grad. „Vertrauen setzt eine gewisse Ungewissheitstoleranz voraus“, so Vogel. Doch wenn man Vertrauen wage, wachse wiederum die Toleranz dafür, Ungewissheit zu ertragen; Vertrauen ist ein gutes Mittel gegen das Gefühl der Verunsicherung.
Mechanisch einstudieren lässt sich Vertrauen zwar nicht, aber mit einer achtsamen Haltung kann man es kultivieren. „Vertrauen ist ja erst mal ein Gefühl. Und Gefühle kann man nicht trainieren, eigentlich geht es eher darum, sie zuzulassen“, sagt Vogel. Dem Eindruck: „Ach, da ist jemand, dem würde ich vertrauen“, könne man folgen. „Dafür ist ganz wichtig, andere nicht zu idealisieren. Viele Menschen haben die Idee, dass sie nur Unfehlbaren trauen können. Aber wir bräuchten mehr Toleranz gegenüber Fehlbarkeiten.“
Erzählung über sich selbst kreieren
Menschen, die sich mit dem Vertrauen schwertun, empfiehlt der Analytiker eine Art Checkliste. Man könne sich fragen: Woran merke ich persönlich, dass ich jemandem vertrauen kann, warum der einen und dem anderen nicht? Die Voraussetzung ist Selbstvertrauen: „Vertrauen in meine Wahrnehmung, meine Urteile, mich selbst und die Überzeugung: Das wird schon irgendwie passen.“
„Ich bin Audi-Mitarbeiterin“ oder „Ich bin Vater zweier Kinder“ – wenn Vogel seine Patientinnen und Patienten nach ihrer Identität fragt, bekommt er oft nur solche unpersönlichen Rollen als Antwort. Er erarbeitet dann zusammen mit den Klientinnen ein differenzierteres Selbstbild, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Es geht darum, eine Erzählung über sich selbst zu kreieren. Der erste Schritt besteht in einer Bewusstwerdung und Selbsterkenntnis.
„Wenn ich tief genug schaue, finde ich immer auch Dinge, die mir nicht gefallen, wir Jungianer nennen diese Schattenseiten.“ Analytische Psychotherapeuten, die sich wie Vogel auf Carl Gustav Jung beziehen, verstehen darunter unter anderem verdrängte, unbewusste Aspekte. Diese Schattenseiten gilt es in ein Gesamtbild zu integrieren, statt „in sich selbst aufgesplittert zu sein“.
Ambiguitätstoleranz beginnt beim Selbst
Im Bild der zwei Etagen sind diese verdrängten Persönlichkeitsanteile neben den existenziellen Themen im unteren Stockwerk. Solch ein verdrängter Anteil kann zum Beispiel sein: „Ich trete oft unabhängig auf, dabei fühle ich mich eigentlich sehr bedürftig.“ Oder: „Manchmal bin ich ungerecht.“ „Ich bin oft egozentrisch.“
Wer diese Aspekte sehen und als Teil von sich akzeptieren kann, erhält ein präziseres, wirklichkeitsgetreueres Bild von sich selbst, das gleichzeitig wesentlich stabiler ist. Und er erfährt auf eine sehr unmittelbare und eindrückliche Art, dass Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeiten unvermeidbar sind. „Ambiguitätstoleranz beginnt damit, eine intrapsychische Ambiguität auszuhalten“, sagt Vogel. „Dass ich alle meine Seiten unter ein Dach bringe, ist die Voraussetzung dafür, verschiedene Positionen in der Außenwelt auszuhalten.“
Auf dem oberen Stockwerk entlastet uns oft bereits die Erinnerung: Die Perfektionistin, die fürchtet, dass ihr morgiger Vortrag unausgereift ist, kann sich entsinnen, dass sie Ähnliches fast jeden Abend denkt. Sie kann eine Außenperspektive auf sich einnehmen und erkennen, dass sie in diesem Thema eine dauerhafte Verunsicherung mit sich herumträgt, dass Sie aber nicht gezwungen ist, dieser zu folgen, sondern sich entscheiden kann, statt ein weiteres Buch zu studieren, ein Glas Wein mit ihrem Mann zu trinken. Sie kann also die konkrete Verunsicherung entschärfen, indem sie die allgemeinere darin erkennt.
Beim Kaffee mit Fremden über den Tod sprechen
Manche Unsicherheiten jedoch bleiben, zum Beispiel die existenziellen aus dem Untergeschoss. Etwa die, dass man jederzeit sterben kann. Viele Philosophen sehen die Auseinandersetzung mit den existenziellen Themen als erkenntnisfördernd. In Anbetracht von Tod oder Freiheit spüren wir deutlich, was für uns wesentlich ist. Wer lebt, als gebe es diese Begrenzungen nicht, befindet sich in permanenter Zerstreuung. Wer sie wahrnimmt, gestaltet sein Dasein bewusster und nimmt es intensiver wahr. Die Beschäftigung mit den existenziellen Fragen hat daher eine lange Tradition.
Von dem antiken Philosophen Demokrit heißt es, er habe regelmäßig Gräber aufgesucht; in den vergangenen Jahren wurden – in Deutschland eher vereinzelt, in anderen Ländern mehr – sogenannte Death Cafés populär: Kaffeerunden, bei denen man mit Fremden über den Tod spricht. Ein Arzt, der anonym bleiben möchte und immer wieder auch in Flüchtlingslagern arbeitet, sagt: „Ich glaube, ich suche Situationen auf, in denen ich den existenziellen Fragen nicht entkommen kann“; früher habe er sie oft in der Liebe gefunden, im Moment im Leid. „Ich merke, dass mich diese existenziellen Themen beruhigen, irgendwie erden – vielleicht weil sie so universell sind und so real.“
Offenheit für Verunsicherung
Diese Erleichterung beschreibt auch Vogel. „Wenn man diese Themen gut erarbeitet, kommt man nicht zu einer Lösung, sie sind nie ganz abgehakt. Aber man kommt zu einer Beruhigung.“ Es löst sich der Stress, etwas zu ignorieren, was immer da ist. Auch meint Vogel, es gebe keine lineare, direkte Antwort auf diese Fragen. Vielmehr umkreise man sie. Das erinnert ihn an Carl Gustav Jungs Begriff der Circumambulation, der beschreibt, wie man zu sich selbst findet: Nicht durch eine geradlinige Entwicklung, sondern indem man sich immer wieder um seinen Kern dreht.
Auch für die existenziellen Themen gilt: Man versteht Schritt für Schritt mehr davon, wenn man sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, beispielsweise wenn man mit verschiedenen Freunden darüber spricht. Dafür brauche es die Bereitschaft, sich immer wieder verunsichern zu lassen. Am Anfang ist das unangenehm. Doch auf diese gemächliche Art der Annäherung lerne man sie kennen und gewöhne sich daran. „Wir integrieren diese Themen in unsere Existenz hinein und erkennen: Das ist nichts, was man bekämpfen muss.“ Und wenn sie uns von Zeit zu Zeit wieder einmal erschrecken, ob in ihrer reinen Erscheinung oder versteckt unter einer alltäglichen Sorge, können wir uns denken: „Ah, jetzt kommt das wieder. Das kenne ich. Das ist nicht lösbar.“ Und das, ganz im Ernst, ist ganz schön beruhigend.
Generalisierte Angststörung
Bei der generalisierten Angststörung machen sich Erkrankte ständig Sorgen über ungewisse Situationen. Die Art dieser Sorgen kann unterschiedlich sein und wechseln: Mal hat man Angst, auf der Party am Vorabend negativ aufgefallen zu sein, mal vor Krankheiten. Indem Betroffene gedanklich viele verschiedene Szenarien durchspielen, wollen sie Sicherheit gewinnen. Rund fünf Prozent der Allgemeinbevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens einmal an einer generalisierten Angststörung
Peinlich – aber keine Katastrophe
Die Intoleranz gegenüber Unsicherheit kann sich in verschiedenen Gedanken zeigen. Nicht alle treffen bei jedem zu. Therapeut Nils Spitzer beschreibt die folgenden sechs Überzeugungen und wie wir sie verändern können
1. „Gewissheit ist absolut notwendig“
Das Ziel wäre, anzuerkennen, dass Gewissheit wünschenswert ist, aber nicht immer geht – auch weil sie einen hohen Preis hat. Dabei hilft es, sich jeweils zu fragen: Ist in dieser Sache überhaupt Gewissheit möglich? Es lohnt sich, die Vor- und Nachteile des Gewissheitsverlangens aufzuschreiben. Zum Beispiel dass man durch das viele Vergewisserungsverhalten weniger Zeit hat, andere Aufgaben zu erledigen und den Alltag zu genießen. Oder dass man damit die anderen nervt.
2. „Ungewissheit ist gefährlich“
Ungewissheitsintolerante Menschen sehen Unbestimmtes oft als Bedrohung, dabei ist weder gesagt, dass der Ausgang einer unbestimmten Situation negativ ist, noch dass er extrem schlimm ist. Er ist lediglich unklar. Es kann entlasten, realistisch zu betrachten, wie unangenehm selbst ein ungewünschter Ausgang wirklich wäre. Zum Beispiel: „Ja, ich könnte den Arzttermin verpassen, es wäre peinlich, aber – wenn man es nüchtern betrachtet – auch keine Katastrophe.“
3. „Ungewissheit ist belastend“
Wenn man das denkt, hilft es, sich zu fragen, ob die Ungewissheit belastend ist oder nur das Grübeln und Sichvergewissern. Gibt es nicht auch Ungewissheiten, die schön sein können? Zum Beispiel den Ausgang eines Romans, eines Films oder einer Reise? Hierbei hilft auch eine Einstellung von Frustrationstoleranz: „Die Ungewissheit ist hart, aber auf jeden Fall aushaltbar.“ Oder: „Oft lohnt sie sich, weil man dafür längerfristig etwas Bestimmtes bekommt.“
4. „Ungewissheit macht mich handlungsunfähig“
Dahinter steckt die furchtbesetzte Idee, in unklaren Situationen nicht funktionieren zu können und wie gelähmt zu sein. Doch Ungewissheit heißt nicht, dass es unendlich viele mögliche Ausgänge gibt. Vielmehr sind oft nur wenige der denkbaren Szenarien realistisch; es beruhigt, sich für diese jeweils vorab eine mögliche Reaktion zu überlegen.
5. „In ungewisse Lebens-situationen zu geraten wirft ein schlechtes Licht auf mich“
Wenn es ihnen nicht gelingt, ein absehbares und sicheres Dasein zu führen, stellen manche Menschen den Wert ihrer ganzen Person infrage. Sie werten sich ab, glauben, dass sie zu dumm oder unsicher sind, um ihr Leben zu regeln. Vielleicht gelingt es, den Selbstwert unabhängiger davon zu machen, wie ihr Leben verläuft? Bisweilen hilft dabei die humanistische Idee, dass der Wert eines Menschen von keiner Leistung oder Fähigkeit abhängt.
6. „Ungewissheit ist unfair“
Manche Menschen empfinden es als ungerecht, wenn sie von unbestimmten Ereignissen heimgesucht werden, und gehen davon aus, dass sie ein Recht auf Gewissheit haben. Sie meinen, dass die Welt gerecht ist und ihnen nichts zustößt, wenn sie sich gut verhalten. Eine wahrheitsgetreuere Überzeugung wäre, dass es in der Welt manchmal gerecht und manchmal ungerecht zugeht.
Was tun gegen Verunsicherungen?
Am Beispiel einer Patientin erklärt Verhaltenstherapeut Nils Spitzer Strategien, um kurzfristig Unsicherheiten zu reduzieren – und langfristig die Einstellung zu verändern
Ein positives Szenario ausdenken
„Man ist gedanklich oft ausschließlich auf die negativen Szenarien unsicherer Situationen fixiert, dabei kann es auch positive geben – und die können uns beruhigen.“ Spitzer meint, in Momenten mit einem ungewissen Ausgang helfe diese Methode oft sehr schnell, um sich zu beruhigen. Dafür stellt man sich bewusst auch eine neutrale und eine sehr positive Wendung der Situation vor. „Meine Patientin, die ständig wechselnde Sorgen hat, könnte zum Beispiel Angst haben, dass auf der U-Bahn-Strecke ein Unfall ist und sie zu spät zu einem Arzttermin kommt. Ein neutraler Ausgang wäre, dass sie doch noch pünktlich kommt. Ein positiver, dass sie beim Arzt anruft und erfährt, dass der Termin ohnehin ausgefallen wäre. So hätte sie Zeit gespart.“
Imaginationsübungen
Hinter diesem Ansatz steckt die Idee der Exposition: Indem wir etwas erleben, vor dem wir Angst haben, verlieren wir diese Angst allmählich. Nicht immer aber erfahren wir solche Situationen real. Dann kann es helfen, wenn wir sie uns vorstellen. Spitzers Patientin hat Angst, eine neurologische Erkrankung zu haben. Als Therapieübung stellt sie sich jeden Tag für fünf Minuten eine Phase maximaler Ungewissheit vor: Sie lässt vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen, wie sie bei einer Fachärztin ist, die sagt: „Nun, wir haben das untersucht. Jetzt warten wir auf die Ergebnisse.“ Und dann geht sie nach Hause. Die Unsicherheit, die sie dabei empfindet, soll sie intensiv wahrnehmen. „Und dann setzt sie ihr neue Gedanken entgegen und beruhigt sich dadurch“, erklärt Spitzer. Sie könne sich sagen: „Nur weil ich nicht weiß, was rauskommt, ist es ja noch nicht gefährlich.“ Oder wenn sie denkt, dass sie die Ungewissheit nicht aushält: „Ja, aber das tue ich nur, weil ich mich verrückt mache. Und weil ich denke, ich halte das nicht aus.“
Risikoübungen
Auch hinter diesem Ansatz steckt eine Expositionsübung: Man setzt sich Situationen aus, die ein kleines Risiko beinhalten – aber keine allzu schlimmen Konsequenzen mit sich bringen. Für Betroffene kann dies zu einer heilsamen Erfahrung werden. Eines der Probleme von Spitzers Patientin war ihre soziale Unsicherheit und die Befürchtung, nicht gemocht zu werden. „Das hat sie überkompensiert und kontrolliert, indem sie bei Besuchen immer etwas mitgebracht hat.“ Wie in der Therapie vereinbart, hat sie einmal Gäste eingeladen und dann angekündigt, dass sie nichts gekocht habe und jetzt Pizza bestellen werde. Es wurde ein schöner Abend.
Wie Wahrscheinlichkeiten helfen
In viele Situationen, die wir als unsicher wahrnehmen, können wir mehr Klarheit bringen
In der Entscheidungspsychologie wird unterschieden zwischen Entscheidungen unter Risiko – in diesen Fällen hat man Wissen über die Wahrscheinlichkeiten, mit denen eine oder verschiedene Optionen eintreten – und solchen unter Unsicherheit: Dann hat man zu wenig Informationen, um etwas über die Wahrscheinlichkeit zu sagen.
Im Alltag müssen wir permanent mit Risiken umgehen. Der für seine Forschung zu Entscheidungen bekannte Psychologe Gerd Gigerenzer plädiert daher dafür, dass wir lernen, besser damit umzugehen. Er kritisiert beispielsweise, dass man im Mathematikunterricht bevorzugt exakte Ansätze wie Algebra statt Statistik lehre, die uns den Umgang mit den Wahrscheinlichkeiten näherbringe.
Wenn wir die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Ereignis betrachten, bekommen wir mehr Sicherheit. Das hilft also auch gegen konkrete Verunsicherung, weiß der Verhaltenstherapeut Nils Spitzer: „Manche Situationen erlebt man als ungewiss, aber sie sind es gar nicht.“
Die auf diesen Seiten vorgestellte Patientin von Nils Spitzer befürchtete beispielsweise, an einer seltenen neurologischen Krankheit zu leiden. „Für sie war das so, dass sie diese neurologische Erkrankung entweder haben kann oder nicht“, erzählt ihr Therapeut. Gefühlt lag die Wahrscheinlichkeit also bei 50 Prozent. „Tatsächlich liegt sie aber wohl eher bei 0,01 Prozent“, meint er. Dieses Wissen konnte sie ein bisschen beruhigen.
Literatur
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Reclam, Stuttgart 2018
Stefan Klein: Zufall – die Kraft, die unser Leben bestimmt. Fischer, Frankfurt am Main, 2015
Nils Spitzer: Schritte ins Ungewisse – wie sich Ungewissheit im Leben besser aushalten lässt. Springer, Berlin 2020
Nils Spitzer: Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen. Springer, Berlin 2019
Lindsey Torbit, Judith M. Laposa: Group CBT for GAD: The role of change in intolerance of uncertainty in treatment outcomes. International Journal of Cognitive Therapy, 9/4 ,2016, 356-368.
Ralf T. Vogel: Psychotherapie in Zeiten kollektiver Verunsicherung. Springer, Berlin 2020