„Bei Freud waren die Väter dominant und wichtig“

Psychoanalytikerin Inge Seiffge-Krenke sagt, warum Väter kaum erforscht sind – und wie sie die Entwicklung ihrer Töchter beeinflussen.

Vater-Tochter-Beziehungen – zwischen Abwesenheit und Anerkennung. © Westend61 // Getty Images

Frau Professor Seiffge-Krenke, woran liegt es, dass Väter in der Psychoanalyse wenig beachtet wurden?

Also erstmal wurden sie ja schon beachtet. Die frühen Schriften von Freud haben den Vater sehr in den Mittelpunkt gestellt: Die ödipale Phase, der Sohn, der die Mutter begehrt, diese dann aufgibt und sich mit dem Vater identifiziert. Und die Tochter, die neidisch ist auf den Penis, sich von der Mutter ab- und dem Vater zuwendet, um mit ihm ein Kind zu zeugen und so den Penisneid zu kompensieren. Am Beginn der Psychoanalyse waren die Väter dominant und wichtig.

Dann jedoch setzte nach Freud eine Phase ein, in der viele Analytiker, aber auch Analytikerinnen – beispielsweise Melanie Klein oder Karen Horney – Freuds Sicht auf Mädchen zurecht kritisierten und die Mutter und das Baby in den Fokus rückten. In der Bindungsforschung ging es lange Zeit ausschließlich um das Verhältnis von Mutter und Kind, über 50 Jahre kamen die Väter in der Psychoanalyse, aber auch in der empirischen Forschung quasi nicht vor.

Wann änderte sich das?

Erst in den 80er Jahren tauchten Väter in der Forschung wieder auf, aber zunächst nur negativ: Der Vater misshandelt den Sohn und missbraucht die Tochter. Nur langsam, etwa zehn Jahre später, begann die Vaterforschung, sich mit den „ganz normalen Vätern“ zu beschäftigen. Ich habe zu diesem Zeitpunkt – ungefähr 1997 – zusammen mit einem israelischen Kollegen mein erstes Buch über Väter geschrieben. In dem haben wir die wenige Forschung zu Vätern, die es zu diesem Zeitpunkt gab, zusammengefasst. Und da sah man, dass Väter einen wirklich wichtigen Beitrag zur Kindesentwicklung leisten, der unabhängig von dem ist, was die Mutter mit dem Kind macht. Und dass sie eben auch andere Facetten haben als nur das Missbrauchs- und Misshandlungsthema.

Heute ist die Vaterforschung immer noch gering – wir haben etwa 10 Prozent Vaterforschung, das heißt 90 Prozent aller so genannten Familienstudien werden an Müttern gemacht. Aber als ich anfing, war es ein Prozent, wir sehen also schon eine gewisse Zunahme.

Sie schreiben: Wenn Männer erforscht werden, werden sie oft an den Kategorien gemessen, die weibliche sind. Können Sie mir dafür ein Beispiel geben?

Ja, im Zuge der starken Mutterorientierung, die durch die Bindungsforschung und Objektbeziehungstheorien entstand, wurde die Mutter-Kind-Beziehung detailliert untersucht. Und die Konzepte, die sich daraus ergaben – das Caring, sich kümmern, das Füttern – wurden auf Studien mit Vätern übertragen. Man hat quasi die gleichen Instrumente genommen, die man für die Mütter nimmt, und hat sie den Vätern vorgelegt. Aber selbst wenn Väter ein Baby füttern, machen sie das immer noch ein bisschen anders als Mütter. Sie machen das spielerischer oder mit ganz viel Akustik und Mimik, so dass das Kind doppelt gefordert ist: Zum einen muss es den Mund aufmachen, und zum anderen beobachtet es den Vater, was der gerade für Scherze macht.

Gilt der Vorwurf noch, dass die Psychoanalyse steckengeblieben ist in einer Sichtweise, die besagt: Ich als Mädchen darf dem Vater nicht missfallen? Oder hat sich in der Theoriebildung etwas verändert?

Also neben Transgenderfragen, die heute viel diskutiert werden, hat sich die Theoriebildung auch im binären System weiterentwickelt, das von eindeutigen, heterosexuellen Geschlechterrollen ausgeht. Freud hatte ja ursprünglich Folgendes angedacht: Der Junge gibt die Mutter auf und identifiziert sich mit dem Vater, dann wird er ein richtiger Mann. Und das Mädchen gibt den Vater auf und identifiziert sich mit der Mutter, um eine richtige Frau zu werden. Heute sehen wir das anders, heute haben wir die These, dass eine doppelte Identifizierung notwendig ist. Das Mädchen muss Anteile vom Vater und von der Mutter integrieren, um ein kompletter Mensch zu werden, sich also nicht mehr nur einseitig mit der Mutter identifizieren, sondern mit beiden Eltern.

Und das Mädchen wird auch von Beginn an als eigenständiges sexuelles Wesen gesehen und nicht auf den Penisneid reduziert?

Ganz genau. Bei Freud gab es ja die Kastrationsangst, die angeblich die Jungen haben. Später haben dann Psychoanalytikerinnen wie Melanie Klein, Karen Horney und andere darauf hingewiesen, dass das Mädchen auch Ängste hat, nur eben andere als der Junge, und zwar vor Beschädigung des Körper-Inneren, vor Verletzungen. Man hat mehr Eigenständigkeit bei den Mädchen gesehen, nicht nur das angebliche Defizit, dass es keinen Penis hat. Und man traut dem Mädchen auch zu, dass es seine Weiblichkeit aktiv voranbringt.

In der Psychoanalyse spricht man von „Triangulierung“ und meint damit, dass in die anfängliche Symbiose zwischen Mutter und Kind ein Dritter, der Vater, hinzutritt, der sozusagen zur „zweiten Liebe“ des Kindes wird. Damit sich ein Kind vollständig entwickeln kann, müssen Vater und Mutter aber selbst eine Liebesbeziehung zueinander haben. Bedeutet das nicht auch, dass in der Psychotherapie stärker das Verhältnis zwischen den Eltern thematisiert werden müsste, als nur die jeweilige Beziehung zum Vater oder zur Mutter zu betrachten?

Ja, das finde ich unbedingt. Nehmen Sie die Eltern-Säuglings-Psychotherapie: In ihr gibt es keine festen Elemente für Väter – vielleicht gerade noch, dass sie einmal dazukommen. Und auch die Paarbeziehung zwischen dem Vater und der Mutter, die für die Entwicklung des Kindes so zentral ist, wird nicht beleuchtet. Der Gedanke: Wir müssen auch mal was für die Väter tun und vor allem müssen wir etwas für die Paar-Beziehung tun, hat sich nicht durchgesetzt. Aber ohne die Paarbeziehung haben wir in Kürze die Scheidung. Und dann ist das Kind alleine. Da fehlt noch vollständig die Perspektive. Leider. Immer noch.

Es passiert tatsächlich häufig, dass die Väter im Leben ihrer Töchter abwesend sind: Bei älteren Generationen waren es vielleicht die schweigenden, vom Krieg gezeichneten Väter. Später waren es Männer, die sehr viel gearbeitet haben und wenig zuhause waren. Und heute wiederum kommen Väter im Alltag vielleicht nicht vor, weil die Eltern sich haben scheiden lassen, wie Sie es beschreiben. Welche Folgen haben diese abwesenden Väter?

Das ist in der Tat ein häufiges Problem. Natürlich haben wir in der Psychotherapie wesentlich mehr Ein-Eltern-Familien, also alleinerziehende Mütter. Das hängt jetzt aber gar nicht mit der Mutter als solches zusammen – kann es natürlich auch mal. Aber in der Regel hängt es damit zusammen, dass alleinerziehende Mütter unter vielfältigen Belastungen zu leiden haben: ökonomische Einbußen, eine kleinere Wohnung, wenig Hilfen, wenig Entlastung, mehr Depressivität, schlechtere Gesundheit. Die alleinerziehenden Väter sind deutlich besser dran.

Es gibt aber auch das Phänomen des „maternal gatekeeping“. Übersetzt heißt das ja so etwas wie „mütterliches Türstehen“, und wir meinen damit, dass Mütter verhindern, dass Väter sich in die Erziehung einbringen. In Scheidungsfamilien kann das bedeuten, dass die vereinbarten Besuche beim Vater nicht regelmäßig stattfinden, mit Begründungen wie „Der Lisa geht es heute nicht so gut“ oder „Der Ben hat eine Klassenarbeit“. Die Reduzierung des Kontakts zum Vater ist ganz dramatisch.

Viele Töchter aus Scheidungsfamilien, die ich in der Psychotherapie erlebe, haben auch die Lesart ihrer Mutter übernommen. Das heißt, der Vater wird von der Tochter so verteufelt oder gehasst, wie die Mutter es wohl gefühlt hat.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ja, ich erinnere mich an einen Fall, der besonders eindrucksvoll war: Vier Mädchen, in schneller Folge geboren, der Vater fing Verhältnisse mit anderen Frauen an, die Mutter hat selbst auch Verhältnisse mit anderen Männern gehabt, hat sich vom Mann getrennt. Und hat dann die Töchter und vor allem das älteste Mädchen in die Gerichtsverfahren mit einbezogen und gegen den Vater aussagen lassen. Die Patientin war bis zu ihrem 25. Lebensjahr – da kam sie zu mir in die Analyse – der Meinung, ihr Vater sei ein triebhaftes Schwein, ein ganz furchtbarer Mensch.

Im Zuge der Analyse wollte ich mit der Patientin daran arbeiten, ob der Vater nicht auch ganz normale Seiten gehabt haben könnte. Und da merkte sie, dass sie gar nichts über den Vater wusste und alles verzerrt war, im Sinne dessen, was ihre Mutter ihr über ihn erzählt hatte. So entwickelte die Patientin die Idee, den Vater einzuladen. Und da kam sie eines Tages in die Analyse und legte sich auf die Couch, war völlig geschafft und sagte: Mein Vater kommt übermorgen und ich weiß gar nicht, was ich ihm vorsetzen soll: Trinkt er Kaffee oder Tee, trinkt er Wein oder Bier? Das heißt, sie wusste die normalsten Dinge nicht. Dann kam also der Vater zu ihr zu Besuch. Er lebte ganz einsam und zurückgezogen, und es hat sich wieder eine vorsichtige Beziehung zwischen den beiden angebahnt.

Würden Sie annehmen, dass Töchter heute, die in der Regel ja einen viel präsenteren Vater erleben als die Generationen zuvor, mit anderen Themen in die Psychotherapie kommen?

Es ist natürlich so, dass die Väter sich geändert haben. Es ist selbstverständlicher geworden, dass sie sich um ihre Kinder kümmern. Und Kinder haben auch generell einen höheren Wert für ihre Eltern. Aber dennoch gibt es immer noch eine große Zahl an Vätern, die uninvolviert sind. Das, was wir in den Medien sehen, diese so genannten „neuen Väter“, sind eine vergleichsweise kleine Gruppe, überwiegend aus gebildeten Schichten. Diese neuen Väter sind auch möglich geworden durch die Berufstätigkeit der Frauen, die zum Teil in anspruchsvollen Jobs arbeiten. Aber sobald die Frau deutlich weniger verdient als der Mann, setzt immer wieder diese Traditionalisierung ein, dass der Mann automatisch das Geld verdient und die Frau zuhause bleibt und Elternzeit nimmt. Es sind also sicher Veränderungen da, aber ich sehe sie vor allem für eine ganz bestimmte Schicht. Sonst hat sich das noch nicht so massiv verändert.

Sehr interessant fand ich, dass Sie sagen, dass in der Psychotherapie der Vater nicht nur nicht thematisiert wird, sondern lange Zeit die Therapeutinnen und Therapeuten auch eher die mütterliche Rolle eingenommen haben. Warum ist das so?

Ich hatte ja beschrieben, dass fünfzig Jahre lang nur Mutter und Kind in der Psychoanalyse eine Rolle spielten. Und im Zuge dessen standen auch die stärker den Müttern zugeschriebenen Konzeptionen im Vordergrund, also das Halten der Beziehung oder die emotionale Resonanz. In der Analyse sind das Techniken wie Containing und Spiegeln. Das hat natürlich seine Berechtigung bei bestimmten Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen oder bei Traumatisierten, da sind diese eher mütterlichen, therapeutischen Zugangsweisen durchaus richtig. Aber wir haben eben auch andere Patienten, und es wurde nicht gesehen, dass die väterlichen Elemente – zum Beispiel das Strukturgeben, Deuten, Konfrontieren, Klarifikation – auch wichtig sind.

Wenn wir davon ausgehen, dass ein Mädchen mütterliche und väterliche Teile integriert, dann muss auch ein Therapeut väterliche und mütterliche Anteile integriert haben. Wenn Patienten sagen: „Ich will unbedingt zu einem Mann“ oder „Ich will unbedingt zu einer Frau“, erklären wir deswegen auch, dass das im Grunde egal ist. Weil ein guter Therapeut eben mütterliche und väterliche Anteile wirklich integriert haben muss. Er muss wissen, wann er stützt und Dinge bewahrt. Und wann er Klartext redet, auf die immer gleichen Muster hinweist, strukturierend wirkt.

Die Forschung zeigt, dass Väter für Fähigkeiten wie Stresskompetenz, Autonomie-Entwicklung oder Abgrenzung in der Entwicklung des Mädchens eine große Rolle spielen. Müsste man im Umkehrschluss sagen, dass diese Generation Burnout, die wir jetzt sehen, zu wenig von ihren Vätern gelernt hat?

Das könnte sein. Wir haben ja tatsächlich sehr viel das Problem des Burnouts und des niedrigen Selbstwerts und des Schnell-Überfordert-Werdens. Und wenn es eine stark mütterlich dominierte Erziehung ist, könnte das sein.

Ich will noch ein anderes Beispiel geben: Wir hatten in einer Längsschnittstudie Familien untersucht mit Jugendlichen, die etwa 14 Jahre alt waren, und haben sie begleitet, bis die Kinder 30 waren. Wir haben uns unter anderem angeschaut, wie sich das Körperkonzept der Jungen und Mädchen über die Jahre entwickelt und in welcher Weise Väter und Mütter dieses unterstützen. Und da fand ich zu meiner großen Verblüffung, dass die positive Unterstützung des Körperkonzepts durch den Vater beim Mädchen noch sieben Jahre später einen unglaublich positiven Effekt hatte auf die Paarbeziehung der jungen Frau. Die haben dann offenbar einen sehr stabilen und positiven Bezug zu ihrem Körper. Dass sich das so lange noch auswirkt, fand ich schon erstaunlich.

Was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten offenen Fragen zur Rolle des Vaters, die erforscht werden müssten?

Da fallen mir viele Fragen ein. Was ich ganz bedeutsam finde: Wir haben fast keine Längsschnittstudien, also Väter von Kleinkindern im Vergleich zu Vätern von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Wie verändert sich die väterliche Rolle, das Verhalten über die Zeit? Dann wäre eine wichtige Frage, wie sich das physische Verhalten des Vaters verändert, wenn die Kinder in die Pubertät kommen. Wie gehen Väter mit der schwierigen Rolle um, dass sie die Weiblichkeit ihrer Tochter bestätigen sollen und dass die Tochter sich das auch ein Stückweit vom Vater wünscht.

Aber er keinesfalls übergriffig werden darf, also Distanz wahren muss? Ein anderer wichtiger Punkt: Wie gehen Väter aus einem anderen kulturellen Kontext mit ihren Kindern um? Ich bin ja sowohl Erwachsenenanalytikerin, als auch Kinder- und Jugendlichentherapeutin und weiß aus meiner Praxis, dass in manchen Kulturen Väter und Mütter gar nicht mit den Kindern spielen – das ist gar nicht vorgesehen, weil im Herkunftsland immer genug andere Kinder oder Verwandte da waren, die mit den Kindern etwas unternommen haben.

Und in Deutschland haben wir dann die veränderte Situation, dass die Kinder ihre Väter auffordern, mit ihnen zu spielen, so wie sie es bei den deutschen Vätern ohne Migrationshintergrund erleben. In diesem Bereich wissen wir noch ganz wenig. Und schließlich interessiert mich der Vater im Kontext der Familie: Welchen Einfluss hat das Vatersein auf die Paarbeziehung, wie geht es Vätern in Scheidungsfamilien, wie homosexuellen Vätern? Sie sehen, es ist noch jede Menge zu tun!

Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke ist Professorin für Entwicklungspsychologie und Autorin zahlreichre Bücher über Väter. Von ihr stammen unter anderem Väter, Männer und kindliche Entwicklung: Ein Lehrbuch für Psychotherapie und Beratung (Springer) sowie Die Psychoanalyse des Mädchens (Klett-Cotta)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2021: Frauen und ihre Väter
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