Christa Rohde-Dachser über ihr Leben für die Psychoanalyse

Christa Rohde-Dachser hat ihr Leben der Psychoanalyse gewidmet. Ein Gespräch über ihre Forschung zur Borderlinestörung, Trauma und Krieg, Gut und Böse.

Die emeritierte Universitätsprofessorin für Psychotherapie und Psychoanalyse der Goethe-Universität Frankfurt, Professor Dr. Christa Rohde-Dachser
Christa Rohde-Dachser ist emeritierte Universitätsprofessorin für Psychotherapie und Psychoanalyse der Goethe-Universität Frankfurt. Sie wurde mehrfach für ihre Erforschung der Borderlinestörung sowie der Psychoanalyse der Weiblichkeit ausgezeichnet. © Leona Ohsiek für Psychologie Heute

Frau Rohde-Dachser, wir wollen über Ihr Leben, Ihr Werk und über Ihre Karriere als Psychoanalytikerin sprechen. Gerade herrscht Krieg in der Ukraine. Sie selbst sind knapp vor dem Zweiten Weltkrieg geboren. Werden da Erinnerungen wach?

Ich weiß noch gut, wie unsere Familie über Monate im Zimmer saß, Karten spielte und im Radio hörte, wie „der Feind“ näherkam. Es ist schwer, das so offen zu sagen, aber für uns Kinder war das auch unheimlich aufregend. Das hat sicherlich damit zu tun, dass man in Kempten,…

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Kinder war das auch unheimlich aufregend. Das hat sicherlich damit zu tun, dass man in Kempten, einer kleinen Stadt im Allgäu, wo ich aufgewachsen bin, kaum etwas von den unmittelbaren Kriegshandlungen mitbekam.

Ich erinnere mich, dass wir einmal in ein nahegelegenes Dorf in den Urlaub fuhren. Auf der Fahrt durch die Felder sah ich einen Toten liegen, einen abgeschossenen Fallschirmspringer. Ich wollte hinlaufen und sehen, wie Tote ausschauen. Meine Mutter hat das aber verhindert. Wir seien dazu einfach noch zu klein, sagte sie und tat auch sonst alles, um das, was nicht ihrer katholischen Weltauffassung entsprach, von uns fernzuhalten.

Die Folge war, dass ich mit acht Jahren nicht nur die Geschichten der Heiligenlegende auswendig konnte, sondern auch große Teile der katholischen Liturgie, die bei jedem Gottesdienst wechselte. Wie die Welt draußen funktionierte, blieb dabei im Dunkeln.

Sie sind streng katholisch aufgewachsen. Hat Sie die Psychoanalyse davon befreit?

Vielleicht hat sie mich insofern befreit, als ich mit ihrer Hilfe entdeckt habe, wie viele Perspektiven es für einen Sachverhalt gibt, von denen man vorher keine Ahnung hatte. Das habe ich allerdings auch schon durch die Soziologie erfahren, mit deren Hilfe ich auch die katholische Sexualerziehung infrage stellen konnte sowie die damalige Auffassung des Geschlechterverhältnisses, die nicht die meine war.

Wie war das in jener Zeit?

Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie klar die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau war – was eine Frau tun und lassen durfte und was der Mann. Ich erinnere mich noch heute, wie ich mit etwa fünf Jahren zu pfeifen versuchte und meine Kinderfrau mir erklärte, dass Mädchen nicht pfeifen. Vielleicht liegt es daran, dass ich diese Kunst tatsächlich bis heute nicht richtig erlernt habe.

Wie haben Sie diese Rollenverteilung in Ihrer Familie erlebt?

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Frauen vor allem Hausfrauen waren. Bei meiner Mutter war das nicht immer so. Sie hatte bereits mit 20 Jahren die insolvente Tiermittel-Großhandlung ihres verstorbenen Vaters übernommen und in wenigen Jahren finanziell auf Vordermann gebracht. In dieser Zeit lernte sie auch meinen Vater kennen, der – selbst vom Lande stammend – gerade seine Speditionslehre beendet hatte und nun einen eigenen Betrieb aufzubauen versuchte. Meine Mutter hatte ihm dazu einen Schreibtisch in ihrem Büro vermietet. Wenig später wurde sie auch seine erste Angestellte, die vor allem für die Buchhaltung der Firma verantwortlich war.

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich als kleines Kind auf ihrem Schreibtisch saß und ihr mit Bewunderung bei der Arbeit zusah. Irgendwann ging meine Mutter dann aber aus unersichtlichen Gründen von heute auf morgen nicht mehr ins Büro. Erst viel später erfuhr ich von ihr, dass mein Vater damals eine Affäre mit dem Lehrmädchen angefangen hatte und diese aus schlechtem Gewissen meiner Mutter schließlich davon erzählte. Leider sollte es nicht bei der einen bleiben.

Meine Mutter hängte ihre Büroarbeit daraufhin an den Nagel. Die Rollen zu Hause waren aber bereits vergeben: Meine Großmutter führte sehr sachkundig den Haushalt, und für unsere Erziehung war eine Kinderfrau eingestellt. Meiner Mutter blieb nichts anderes übrig, als sich noch stärker der katholischen Religion zuzuwenden. Eine berufliche Aufgabe konnte oder wollte sie offenbar nicht mehr übernehmen. Wirklich glücklich war sie damit aber nicht. Je älter ich wurde, desto mehr verfestigte sich in mir der Vorsatz, dass ich es auf jeden Fall anders machen wollte als sie.

Was hat sich die zwölfjährige Christa gedacht?

Ich wollte meine Lebensgestaltung nie vom Verhalten eines anderen Menschen abhängig machen und schon gar nicht von dem eines Mannes. Das war damals aber noch alles andere als einfach. In unserer Familie gab es nur zwei Kinder, meine jüngere Schwester und mich. Von daher war von vornherein klar, dass es später die Schwiegersöhne waren, die unseren Betrieb übernehmen würden. Ich sah das nicht wirklich ein. Man brauchte aus meiner Sicht dazu nicht unbedingt einen Schwanz, sagte ich mir und habe das einmal zum Erstaunen unserer Gäste vor allen sehr klar zum Ausdruck gebracht.

Später habe ich deshalb den Führerschein Klasse II gemacht – heimlich, um meinen Vater zu überraschen. Seine Reaktion war nur: „Ich lasse mir doch von dir nicht meine Lastwagen kaputtfahren.“ Dass er doch auch ein bisschen stolz auf mich war, war aber nicht zu übersehen.

Sie haben dann in München Betriebswirtschaft studiert.

Ich fand, das sei meine Aufgabe – obwohl ich eine Frau war oder gerade deswegen. Irgendwann erwarb ich tatsächlich den Titel „Diplomkaufmann“ – die Kauffrau gab es noch nicht – und übernahm die Leitung der Finanzabteilung im väterlichen Betrieb. Die Zusammenarbeit klappte aber nicht so gut, wie ich mir vorgestellt hatte, und so ging ich nach zwei Jahren zurück an die Universität und promovierte in Soziologie – ein Fach, das ich während meines Studiums als Nebenfach gewählt und wo mir der dortige Professor gleich danach eine Doktorarbeit angeboten hatte.

Wann sind Sie auf die Psychoanalyse gestoßen?

Das war seltsamerweise erstmals gleich zu Beginn des Studiums der Fall. Damals habe ich mich ausgesprochen neugierig auch außerhalb der Betriebswirtschaft umgeschaut, was sonst noch alles gelehrt wurde. Dabei kam ich einmal, eher durch Zufall, auch in eine Vorlesung, in der es um Psychoanalyse, ganz konkret um Breuers und Freuds Patientin Anna O. ging.

Anna O. war bekanntlich die erste Patientin, mit der Freud versuchte, eine Gesprächskur zu entwickeln, die als Vorstufe der späteren Psychoanalyse gilt. Ich fand das Thema unheimlich interessant. Merkwürdigerweise konnte ich den Hörsaal aber nicht wiederfinden. Offensichtlich brauchte es noch einige Zeit, bis ich für die Psychoanalyse auch innerlich wirklich offen war.

Viele Jahre später haben Sie als erste Frau den Mitscherlich-Lehrstuhl für Psychoanalyse in Frankfurt übernommen. War es ein wiederkehrendes Motiv in Ihrem Leben, sich in Männerdomänen durchsetzen zu müssen?

Ja. Ich habe das selbst jedoch erst relativ spät bemerkt, vor allem nachdem ich den Lehrstuhl in Frankfurt übernommen hatte und den Gegenwind der dortigen männlichen Kollegen sehr deutlich spürte. Damals habe ich mir das Thema des Geschlechterverhältnisses auch zum Forschungsthema gemacht.

In Frankfurt gab es in den 1980er Jahren ohnehin gerade eine Hochzeit des Feminismus. Die weiblichen Studierenden kamen deshalb mit der Frage auf mich zu, wie ich als Psychoanalytikerin zu Freuds Weiblichkeitstheorie stehe. Aus dieser Auseinandersetzung entstand schließlich mein Buch Expedition in den dunklen Kontinent.

Was war den Studierenden aufgestoßen?

Freud sprach über die Frauen so, wie sie sich ihm im Kontext der damaligen patriarchalischen Gesellschaft unbewusst auch präsentierten: als das im wahrsten Sinn des Wortes „zu kurz gekommene“, das heißt ohne Penis geborene weibliche Geschlecht, das sich deshalb früher oder später enttäuscht von der Mutter ab- und dem Vater zuwandte, in der Hoffnung, von ihm genauso wie die Mutter ein – männliches – Kind zu bekommen und sich auf diesem Wege schließlich wieder vollkommen zu fühlen.

Die Vorstellung einer individuierten, sich selbst bestimmenden, unabhängigen Frau war damals einfach noch nicht denkbar. Selbst Freud konnte sich bei aller sonstigen aufklärerischen Einstellung offenbar keine Mann-Frau-Beziehung vorstellen, in der beide sich als gleichberechtigte Partner gegenüberstanden. Mein Buch war auch ein Versuch, dieses patriarchalische Denkmuster zu hinterfragen, und zwar mit den gleichen psychoanalytischen Denkmustern, mit denen Freud auch sonst das Unbewusste seiner Patienten und Patientinnen zu erkunden suchte.

In Ihrer Karriere haben Sie sich besonders mit der Diagnose der Borderlinestörung befasst, von der wir heute wissen, dass sie eher weiblich konnotiert ist. Zufall?

Als ich 1970 in der psychiatrischen Poliklinik der Medizinischen Hochschule in Hannover zu arbeiten begann, traf ich dort sehr bald auf Patientinnen, die sich diagnostisch nicht ohne weiteres einordnen ließen. Viele zeigten auf den ersten Blick Zeichen einer Psychose, wirkten dann aber auch wieder psychisch voll orientiert. Aus Verlegenheit heraus erhielten sie häufig die Diagnose „Borderlineschizophrenie“, aber so ganz passte das nicht ins Bild.

Auf meiner Suche nach einer überzeugenderen Lösung stieß ich auf einen Artikel von Otto Kernberg, einem damals schon sehr bekannten US-amerikanischen Psychoanalytiker, der mir mit der psychoanalytischen Beschreibung einer „Borderline-Persönlichkeitsorganisation“ eine neue Zugangsweise eröffnete. Manches blieb auch dann zunächst noch ungeklärt. Dazu gehörte die Frage, warum Borderlinepatienten in aller Regel weiblich waren. Irgendwann ließ sich auch dieses Problem aber nicht mehr übersehen.

Inwiefern?

Die Diagnose „Borderline“ beschreibt bei näherem Zusehen eine vor allem weibliche Konfliktlösung, bei der die eigene Aggression nach innen gekehrt wird. Die Patientinnen zeigen dann allenfalls in einem spontanen Wutanfall, wie es wirklich in ihnen aussieht. Ansonsten agieren sie ihre massiven Aggressionen vor allem gegen sich selbst aus.

Das ist, was die Außenwelt als Schneiden oder anderes autoaggressives Verhalten wahrnimmt, richtig?

Ja. Borderlinepatientinnen flüchten sich nach heutigen Erkenntnissen sogar oft lieber in eine psychotische Episode, als beispielsweise Autoreifen aufzustechen, so wie männliche Patienten dies in der gleichen Situation häufig tun. Zur Aggression haben Männer offenbar ein unmittelbareres Verhältnis. Männliche Patienten fragen in der Regel auch nicht: Wer kommt mir möglichst schnell zu Hilfe? Sie sagen eher: „Das oder jenes steht mir zu, und deshalb hole ich mir das jetzt, selbst wenn ich dazu über Leichen gehen müsste.“

Vor diesem Hintergrund lassen sich Persönlichkeitsstörungen auch noch weiter geschlechtlich differenzieren. „Borderline“ wäre dann ein typisch weibliches Konfliktlösungsmuster, während man mit der Diagnose „antisozial“ oder „narzisstisch“ in erster Linie männliche Patienten erreicht.

Bei Borderlinestörungen ist in den vergangenen Jahren immer stärker der Traumaaspekt in den Vordergrund gerückt. Was sagen Sie dazu?

Was ich in den 1980er Jahren über das Borderlinesyndrom geschrieben habe, war wie gesagt noch sehr stark an Kernberg angelehnt, und der sprach damals noch nicht von Trauma. Im Laufe der Zeit wurde aber immer deutlicher, dass bei Borderlinepatientinnen auch traumatische Erfahrungen, vor allem Gewalt und sexueller Missbrauch eine große Rolle spielten.

Manche Autoren waren sogar der Ansicht, dass traumatische Erfahrungen der Hauptgrund für die Entwicklung der Störung waren. Ich selbst möchte das so nicht unterschreiben. Ich glaube vielmehr, dass es im Leben eine Vielzahl traumatischer Erlebnisse gibt, die nicht die hier beschriebenen verheerenden Konsequenzen haben. Und es spielt auch eine Rolle, welche ressourcenorientierten Erfahrungen dem entgegenwirken.

Mir scheint, dass „Trauma“ in den vergangenen Jahren fast so etwas wie ein Modebegriff geworden ist. Was denken Sie?

Der Streit, was Trauma ist und was nicht, hat ja schon eine lange Geschichte. Geht es dabei um spezifische, hochgradig traumatische Ereignisse wie etwa Folter oder gehören dazu auch wiederkehrende Ereignisse insbesondere aus der frühen Kindheit, die nach außen hin kaum auffielen, das Kind aber in eine von niemand bemerkte Verlassenheit und Einsamkeit stießen?

Aus psychoanalytischer Sicht scheint mir wichtig, dass traumatische Erfahrungen welcher Art auch immer sich im Rahmen einer Beziehung ereignen, die das Kind dabei unweigerlich internalisiert. Kein Trauma findet in einem leeren Raum statt. Wenn eine Mutter oder ein Vater prügelt, speichert das Kind nicht nur die eigene schmerzhafte Erfahrung in seinem Gedächtnis, sondern auch das Bild des Erwachsenen, der prügelt. Bewusst wird es diese zweite innere Repräsentanz mit Sicherheit von sich weisen. Die Frage ist vielmehr, was das Kind tut, wenn es selbst erwachsen geworden ist und vielleicht selbst Kinder hat, auf die es manchmal wütend ist. Und plötzlich bemerkt es gerade noch rechtzeitig, wie es im Begriff ist, selbst die Hand zu erheben, um den frechen Sprössling zu bestrafen.

In der üblichen Form der Traumabehandlung kommt die Bedrohung demgegenüber meistens von außen. Die mögliche Umkehrung der Situation fällt dann unter den Tisch. Oft lässt sich diese innere Gefahr durch Selbstreflexion in den Griff bekommen, manchmal braucht es dazu aber auch eine längere Psychotherapie.

Zunehmende Polarisierung ist etwas, das wir seit geraumer Zeit auch verstärkt in unseren westlichen Demokratien erleben. Was hat die Psychoanalyse dazu zu sagen?

Sehr viel. Ein Beispiel dafür ist die psychoanalytische Theorie von Melanie Klein, die mir nach wie vor zielführend erscheint. Klein beschreibt darin zwei Positionen, zwischen denen Menschen immer wieder wechseln, nämlich die paranoid-schizoide und die depressive Position.

Wenn der Säugling Hunger hat, sucht er verzweifelt nach einer mütterlichen Brust, die ihn säugt. Sobald er diese gefunden hat, ist für ihn alles gut. Wenn die erwartete „gute Brust“ nicht kommt und sein Hunger überhandnimmt, dann entsteht nach Melanie Klein in ihm stattdessen das Bild einer „bösen Brust“, die sich entzieht und ihn dem Untergang überlässt. Die mit diesen beiden Bildern verbundenen konträren Erfahrungen stehen später auch für die Trennung der Welt in „Gut“ und „Böse“.

Die bösen Erfahrungen sind gleichzeitig so unerträglich, dass das Kind sie von sich weg nach draußen verschieben muss. Das Böse kommt in dieser Vorstellung deshalb immer von draußen und muss auch dort bekämpft und vernichtet werden, damit das Gute seinen Platz im Leben des Kindes wieder einnehmen kann. Mit der aktuellen Aufspaltung der Welt in den „guten Westen“ und das „böse Russland“ bewegen wir uns auf dieser Linie.

Wenn der Säugling irgendwann die Mutter als ganzes Objekt erkennt, von dem sowohl das Gute als auch das Böse kommt, und die Vernichtung der bösen Mutter von daher immer auch die absolut gute Mutter bedrohen würde, ­verbindet sich der Hass auf die böse Mutter notwendigerweise mit Schuldgefühlen, die der guten Mutter gelten und nach Wiedergutmachung rufen. Mit der Erfahrung von Schuld ist der Säugling gleichzeitig in die depressive Position eingetreten, in der auch das Böse nicht mehr nur draußen gesucht wird, sondern immer auch Teil der eigenen Erfahrung ist.

Menschen schwanken nach Melanie Klein ein Leben lang zwischen diesen beiden Positionen hin und her. Krieg führen heißt aus dieser Sicht immer, das Böse „draußen“, im Gegner zu bekämpfen und nicht mehr zu fragen, wo die Schuld vielleicht auch einmal bei einem selbst liegen könnte.

Es ist nicht leicht, in der aktuellen politischen Situation „das Böse“ auch bei sich zu suchen. Können Sie noch ein Beispiel nennen?

Mir fällt eine Reise in den Iran ein, die ich vor etwa zehn Jahren mit Studierenden zum ersten psychoanalytischen Kongress in Teheran machte. Wir erlebten dabei eine Menge interessanter Begegnungen und erfuhren viel über das dortige Leben und die Kultur. Umso verblüffter waren wir, dass ein bestimmter Kreis Studierender uns die Reise ausgesprochen übelnahm.

Sie fanden es unmöglich, dass wir als Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker in ein Land gefahren sind, in dem Frauen gezüchtigt werden, wenn sie keinen Schleier tragen, und Homosexuelle aufgehängt werden. Durfte man mit solchen Leuten überhaupt noch sprechen, fragten sie uns ihrerseits ziemlich aggressiv. Oder müsste man das Böse nicht schon dadurch bekämpfen, dass man jeden Kontakt mit ihm verweigert?

Ich hatte in diesem Rahmen Melanie Klein zitiert, nach der jedes Gespräch mit dem feindlichen Gegenüber auch ein erster Schritt zur Überwindung der scheinbar unüberwindlichen Spaltung sein kann, bin damit allerdings nicht so richtig angekommen.

Diese Episode ist bereits in Ihrer Zeit an der Internationalen Psychoanalytischen Universität passiert. Wie wurden Sie zur Universitätsgründerin?

Als ich 1987 den Lehrstuhl in Frankfurt übernahm, war Psychoanalyse noch eines von acht Diplomfächern. Seither ist ihre universitäre Bedeutung immer weiter zurückgegangen. Gleichzeitig sah ich Anfang der 2000er Jahre immer wieder, wie ein großer Teil der Studierenden ausgesprochen interessiert an der Psychoanalyse war.

Diese Machtverteilung, dachte ich mir, kann man nicht einfach so stehenlassen, und fand bei meinem Kollegen Jürgen Körner, damals Professor für Pädagogik in Berlin, ein offenes Ohr. Gemeinsam gründeten wir schließlich trotz großer Widerstände in Berlin 2009 die IPU, eine private Hochschule, die den Bachelor- und Master­studiengang Psychologie mit einem Schwerpunkt in Psychoanalyse anbot. Als Gesellschafterin im väterlichen Unternehmen, die ich nach wie vor war, standen mir dazu auch die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung.

Mittlerweile haben wir 700 bis 800 Studierende und unterrichten auch einen Masterstudiengang in Psychotherapie und einen in Kulturwissenschaft.

Warum ist Ihnen der Fortbestand der Psychoanalyse so wichtig?

Weil sie eine Erforschung unbewusster Denkvorgänge ermöglicht, die von Einengungen befreit und weit über klinische Fragestellungen hinausgeht. Mit ihrer Einbeziehung sowohl klinischer als auch kultureller Phänomene ermöglicht sie eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen nicht nur als Individuum, sondern immer auch als Teil der Kultur, der er angehört.

Nehmen wir dazu nur das besonders markante Beispiel einer Mutter, die sich dem Kind gegenüber beim besten Willen nur so verhalten kann, wie das für Mütter in der jeweiligen Kultur üblich ist. Wir alle formen uns deshalb in unserer Entwicklung nie allein nach dem Vorbild unserer individuellen Eltern, sondern mit ihnen immer auch nach dem Vorbild einer bestimmten Kultur. Mithilfe der Psychoanalyse können wir diese unbewussten Prozesse ein Stück weit nachvollziehen und wenn nötig auch verändern.

Prof. Dr. Christa Rohde-Dachser ist emeritierte ­Universitätsprofessorin für Psychotherapie und Psychoanalyse der Goethe-Universität Frankfurt. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet für ihre Erforschung der Borderlinestörung sowie der Psychoanalyse der Weiblichkeit. 2009 gründete sie zusammen mit Jürgen Körner die Internationale Psychoanalytische Universität Berlin (IPU).

Zum Weiterlesen

Christa Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Springer, Berlin 1991

Christa Rohde-Dachser: Das Borderline-Syndrom. Hans Huber, Bern 2004 (7. Auflage)

Christa Rohde-Dachser: Spuren des Verlorenen. Beiträge zur klinischen Psychoanalyse und zur Geschlechterdifferenz. Psychosozial, Gießen 2020

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2023: Alles fühlen, was da ist