Selbstverletzung bei Jungen

Immer mehr Jungen verletzen sich selbst. Das liegt an dem Spannungsfeld, in dem sie heute aufwachsen, sagt Sozialwissenschaftler Harry Friebel.

Die Illustration zeigt einen jungen Mann sitzend auf einem Sofa mit einem Smartphone, ratlos schauend, und hinter ihm hängen Poster von Boxstars
Jungen zeigen auch hochriskantes Verhalten, das oft nicht als selbstschädigendes Verhalten erkannt wird. Das kann von übermäßigem Alkoholkonsum bis hin zu ­U-Bahn-Surfen gehen. © Jan Hendrik Ax

Herr Friebel, wenn wir von Selbstverletzung reden, dann haben wir junge Mädchen vor Augen, die sich schneiden. Sie sagen, das sei ein Klischee.

Ja, denn es findet ein riesiger Wandel statt. Etwa ein Drittel aller Jugendlichen hat sich schon einmal selbst verletzt. Das sind zwischen einer Million und 1,2 Millionen Jugendliche. Darunter befinden sich immer mehr Jungen und junge Männer. Die Zahl der Selbstverletzungen hat bei ihnen in den vergangenen zehn Jahren stetig zugenommen, wie mehrere Studien aufzeigen.…

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hat bei ihnen in den vergangenen zehn Jahren stetig zugenommen, wie mehrere Studien aufzeigen. Das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen lag in älteren Erhebungen bei 10 zu 1, heute geht man von etwa 3 zu 1 oder sogar 2 zu 1 aus.

Was verstehen Sie unter selbstverletzendem Verhalten?

Die klassische Definition sagt, dass es sich um direkte Verletzungen des eigenen Körpers handelt. Diese werden sozial nicht akzeptiert und geschehen nicht in Suizidabsicht. Die Definition ist allerdings nicht optimal.

Wieso?

Was offiziell als Selbstverletzung gewertet wird, ist abhängig vom Kulturkreis. Es gibt Kulturkreise, in denen Menschen sich den Rücken mit Peitschen zerschlagen, und das ist dort sozial akzeptiert. In unserem Kulturkreis wäre es das nicht. Dafür sind es bei uns andere Aktivitäten wie Boxen oder Tätowierungen.

Boxen und Tätowierungen sind für Sie Selbstschädigung?

Natürlich sind auch das selbstverletzende Verhaltensweisen. Wenn Mädchen und junge Frauen sich schneiden oder Jungen und Männer gegen eine Wand schlagen, erkennt man die Selbstverletzung ­sofort. Doch bei Jungen finden wir häufig auch hochriskantes Verhalten, das oft nicht als selbstschädigendes Verhalten erkannt wird. Dabei erproben sich die Jungen im Rahmen exzessiver Konkurrenz, was dem männlichen Sozialisationskern entspricht.

Das kann von übermäßigem Alkoholkonsum bis hin zu ­U-Bahn-Surfen gehen. Davon gibt es eben auch mildere, akzeptierte Formen wie etwa Tattoos oder Boxsport. Diese gelten in Deutschland nicht als selbstverletzende Handlungen, weil es sozial akzeptierte Verhaltensweisen sind – und damit laut klassischer Definition keine Selbstverletzung.

Sie würden aber krankhaftes Verhalten sehen, wenn sich ein junger Mann oder eine junge Frau ein Tattoo stechen lässt oder boxt?

Generell würde ich diese Aktivitäten als selbstschädigendes Verhalten bezeichnen. Das macht sie aber nicht gleich krankhaft. Wichtig sind die Motive derjenigen, die solchen Handlungen nachgehen. Die wenigsten üben den Boxsport aus, um sich selbst zu schädigen, also sollten wir dort auch keine psychiatrische Diagnose draufstempeln. Ich muss aber trotzdem hinsehen und fragen: Warum suchen Menschen diese Aktivitäten?

Welche Motive machen denn zum Beispiel Tätowierungen oder Boxsport zu problematischem Verhalten?

Wenn dahinter kritische Lebenserfahrungen wie eine Traumatisierung stehen, beispielsweise sexueller Missbrauch; wenn Brüche oder Verwerfungen im Lebenslauf – wie die Trennung von Mutter und Vater, Gewalt im Elternhaus oder Erlebnisse von Versagen – der Antrieb dafür sind, etwas zu tun, das einem körperliche Schäden zufügt.

Wenn dann noch die gesellschaftliche Forderung dazukommt, sich männlich zu verhalten, kein „Weichei“ zu sein, kann das Jungs stark überfordern. Es ist für junge Menschen schwer, den starken Mann zu geben. Boxsport kann dann ein Ventil sein für Anspannung und Überforderungsgefühle.

Das müssen Sie erklären.

Wir haben es heutzutage mit enormen Verunsicherungen zu tun, die entstehen, weil sich die Geschlechterverhältnisse wandeln. Früher war für den jugendlichen Mann klar, dass er später einmal Erzeuger, Beschützer und Versorger wird – das klassische männliche Rollenbild. Heute prallt dies auf gesellschaftliche Normen, die emanzipatorisch und demokratisch sind, die also sagen: Wir haben eine Gleichstellung zwischen Mädchen und Jungen, Männern und Frauen.

Für die jungen Männer sind dies zwei konkurrierende Botschaften. Ihnen wird in vielen Lebensbereichen die normative, traditionelle Männlichkeit vorgelebt, sie gehen also davon aus, dass sie die Überlegenen sind, und werden darin zum Beispiel von Medien oder ihren Eltern bestätigt. Gleichzeitig begegnen sie in der Schule oder in Sportvereinen modernen Normen, die Mann und Frau auf Augenhöhe stellen. Dazwischen schwanken die Jungen, tagtäglich.

Was hat das mit der Selbstverletzung zu tun?

Die Jungen fragen sich: Bin ich der Überlegene oder bin ich gleichgestellt? Das führt dazu, dass sie sich in Bereiche zurückziehen, die ihnen ein Gefühl von Sicherheit geben, von Kontrolle, etwa über den eigenen Körper. Sie verletzen sich selbst.

Selbst zugefügte Wunden und Schmerz geben den Betroffenen Sicherheit?

Ja. Selbstverletzung ist zum einen ein Hilferuf. In diesem Fall: „Hilfe! Ich komm nicht weiter mit dieser Doppelbotschaft.“ Zum anderen versuchen die Betroffenen, damit ihre Gefühle zu regulieren. Die Emotionen schießen hoch, wenn unklar ist, wie die eigene Rolle in der Gesellschaft ist. Die Selbstverletzung ist dann eine Art praktizierte Selbsthilfe.

Von den Jungen und Mädchen, mit denen ich über ihr selbstverletzendes Verhalten gesprochen habe, habe ich immer wieder gehört, dass während des Verletzens sowie kurz danach bei ihnen eine tiefe Entspannung eintritt. Unter den widersprüchlichen Bedingungen in der Umgebung schafft Selbstverletzung für kurze Zeit Ruhe. Den meisten von uns erginge es dabei nicht so, möchte ich betonen. Auch hält dieser Entspannungszustand für die Betroffenen nicht lange an, ihm folgen Scham und Verzweiflung – und damit noch mehr Selbstverletzung.

Die meisten jungen Männer sind dieser Doppelbotschaft ­ausgesetzt, doch längst nicht alle fügen sich Verletzungen zu. Was unterscheidet die einen von den anderen?

Die Jungen und die jungen Männer, die sich selbst verletzen, tragen ihre Probleme und biografischen Überforderungen körperlich über diese „Hautzeichen“ aus. Über die anderen kann man nur spekulieren: Sie erleben womöglich ein entgegenkommendes soziales Umfeld, haben also Freunde und Familie, die ihnen bei der Bewältigung von Schwierigkeiten des Zum-Mann-Werdens helfen, sei es emotional, sozial oder kommunikativ.

Nun ist die Gesellschaft mittlerweile sehr viel offener, fortschrittlicher geworden. Der Gleichberechtigungsgedanke ist in fast allen Lebensbereichen angekommen. Müssten die ­Zahlen dann nicht zurückgehen, statt zu steigen?

Es gibt keine seriöse Statistik dazu, ob Selbstverletzungen durch die zunehmende Offenheit langfristig zurückgehen. Aktuell ist es meines Erachtens weiterhin eine akute Problematik, dass die Jungen unentwegt zwischen dem Überlegenheitsnarrativ einerseits und politischen Gleichstellungsnormen andererseits schwanken. Eben weil es diese beiden widersprüchlichen Botschaften weiterhin gibt.

Man sollte die Attribute männlich und weiblich weniger bipolar sehen, sondern als ein Kontinuum, das von männlich bis weiblich reicht und auf dem sich jede und jeder individuell verorten kann. Aber das wird bislang in der Sozialisation nicht akzeptiert, und so leben wir immer noch in Stereotypen. Den jungen Menschen wird in der Regel abverlangt, dass sie sich eindeutig, ausschließlich und alternativlos einem Geschlecht zuordnen.

Sie engagieren sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt dafür, dass Jungen, die sich selbst verletzen, mehr Aufmerksamkeit erhalten. Hat sich in all den Jahren etwas verändert?

Ja, das kann man sagen. Damals galt als sicher: Jungen schneiden sich nicht. Ich war der Sonderling, als ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Mittlerweile fragt sogar das Deutsche Ärzteblatt bei mir an und bittet um einen Beitrag zum Thema.

Es hat sich also in der Auseinandersetzung einiges verändert. Wir sind auch losgekommen von der Fixierung auf die Diagnose Borderlinepersönlichkeitsstörung, die hinter selbstverletzendem Verhalten immer gewähnt wurde. Wir haben erkannt, dass es sich oft um ganz normale Jungen und Mädchen handelt, die sich zwar selbst verletzen, aber deshalb nicht gleich eine psychiatrische Erkrankung haben.

Wenn sich jemand schneidet, heißt es aber immer noch recht schnell: „Du bist doch krank.“ Wie eng ist die Verbindung tatsächlich?

Wenn alle ein bis 1,2 Millionen Jugendlichen, die sich selbst verletzen, krank wären, dann wäre das dramatisch. Klar ist: Bei Menschen, die sich einmal verletzt haben, besteht ein psy­chosoziales Problem, mit dem man sich auseinandersetzen sollte. Bei denen, die sich mehrfach verletzen, kann man von einer psychisch-sozialen Störung ausgehen, und da ist dann professionelle Hilfe wichtig. Menschen mit kritischen Erlebnissen in der Biografie wie Missbrauch oder Gewalt oder einer genetischen Veranlagung haben ein höheres Risiko, sich selbst zu verletzen. Deshalb braucht es aber nicht gleich das Etikett der psychischen Störung.

Sie kritisieren, dass das Gesundheitssystem aufgrund von Rollenklischees blind sei für Selbstverletzung bei Jungen.

Auf jeden Fall. Man stelle sich einen prototypischen Psychiater zwischen 50 und 60 Jahren vor. Als dieser die Ausbildung zum Arzt durchlief, war die Selbstverletzung von Mädchen ein durchaus zentrales Thema. Jungen gab es in diesem Kontext nicht. Die Profession muss erst lernen, die Maskierung der Jungen zu lüften und das Leiden zu erkennen.

Was gibt es dahinter zu entdecken?

Hinter Aggressionen kann sich bei Jungen und Männern eine Depression verstecken. Wer sich selbst verletzt, ist nicht gleich reif für die Psychiatrie; dennoch neigen Menschen mit depressiven Erkrankungen und emotionaler Instabilität eher dazu, sich selbst zu verletzen. Die Psychiater und Psychotherapeuten sind nicht ausreichend dafür geschult, diese Depressionssignale von Jungs zu erkennen.

Mädchen sagen: „Ich habe mich selbst verletzt, weil ich so freudlos war, so niedergeschlagen.“ Sie können ihre Gefühle benennen. Jungen sagen: „Ich war gereizt und aggressiv.“ Eine Depression bei Jungen und Männern äußert sich oft laut und manchmal durch Aggression – auch gegen sich selbst.

Welche Hilfe brauchen Jungen und junge Männer?

Hilfsangebote sollten das eher männliche Ideal von Autonomie mit dem eher weiblichen Ideal der Bindung zusammenbringen. Junge Männer fixieren sich stark auf Autonomie und Unabhängigkeit. Bei Mädchen und jungen Frauen finden wir hingegen eine starke Bereitschaft und Freude daran, sich sozial zu binden. Und das meine ich nicht im Sinne von Abhängigkeit.

Sie kommunizieren mit anderen, das baut eine Bindung auf. Jungs haben vor allem eine hohe technische Intelligenz, denn so werden sie sozialisiert, aber ihre Bindungsfähigkeit ist nicht ausgeprägt. Das führt dazu, dass sie sich in der zunehmend kommunikationslastigen Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und sich zurückziehen. Hier gilt es anzusetzen. Die Bindungsdefizite sind ein wichtiger Schlüssel, um Jungen und ihre Probleme heute zu verstehen.

Gibt es Hilfsangebote speziell für Jungen, die sich schneiden?

Die gibt es mittlerweile und darüber bin ich sehr froh. In Lübeck befindet sich seit einigen Jahren eine stationäre Einrichtung für Jungen, die psychisch erkrankt sind und sich selbst verletzen. In Nürnberg arbeitet man an einem ähnlichen Konzept.

Aber man sollte die Hilfe nicht auf solche geschlossenen Einrichtungen reduzieren. Auch Jugendhilfe und Jugendarbeit müssten für diese Frage sensibilisiert werden. Sie haben die große Aufgabe, den Jungen quasitherapeutisch die Möglichkeit zu geben, auf dem Kontinuum von männlich bis weiblich ihren Platz zu finden.

Das ließe sich doch allen Menschen mit auf den Weg geben.

Auf jeden Fall. Das gilt selbstverständlich ebenso für Eltern, für Schulen und so weiter. Sie sollten bei Jungen wie Mädchen die Fähigkeit auslösen, sich selbst zu erkennen, sich selbst zu akzeptieren, indem sie nicht nur stereotypisch männlich oder weiblich agieren. Bei Mädchen ist man da schon viel weiter. Schauen Sie sich ein beliebiges Klassenfoto an: Die Mädchen tragen Hosen, Kleider oder Röcke. Die Jungs: nur Hosen. Allein in der Visualisierung ist die Vielfalt bei Mädchen viel größer.

Also bräuchte es diese Vielfalt und Offenheit auch für Jungen?

Absolut. Wenn wir es hinbekommen, dass für Frauen und Männer gleiche biografische Chancen bestehen, Stereotype zu überwinden, und viel stärker die Gefühlsregungen von Jungen zugelassen würden, könnten wir die enorme Breite der Verwirklichungsmöglichkeiten von psychischer, sozialer und sexueller Identität nutzen.

Harry Friebel ist Professor ­im Ruhestand an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Seine Schwerpunkte sind Sozialisation, Geschlechterverhältnisse und Männerforschung.

Zum Weiterlesen
Harry Friebel: Jungs und junge Männer, die sich selbst verletzen – ein Ansatz zur Biografie- und Lebensweltorientierung. Journal für Psychologie, 25/2, 2017, 69–94.

Tina In-Albon u.a.: Selbstverletzendes Verhalten. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Band 19. Hofgrefe, Göttingen 2015

Franz Resch u.a.: Gesundheitsförderung durch Prävention von riskanten und selbstschädigenden Verhaltensweisen. Ergebnisbericht. SEYLE – Saving and Empowering Young Lives in Europe, Heidelberg 2011; bit.ly/PH_Seyle

Friebel, H. (2022). Selbstverletzendes Verhalten: unsichtbare Jungen und junge Männer. Ärztliche Psychotherapie 17 (2), 0–0. DOI 10.21706/aep-17-2-0.

Sie ziehen sich in einen Bereich zurück, der ihnen ein Gefühl von Sicherheit gibt, von Kontrolle über den eigenen Körper

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2022: Was treibt mich an?