Es heißt, dass Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung neunmal so intensiv fühlen wie andere Menschen. Neunmal so starke Angst, neunmal so starke Wut, neunmal so starke Traurigkeit. Schon kleine Dinge können einen Sturm auslösen. Die Gefühle rollen in solchen Momente über sie hinweg „wie eine große Welle“, meint Katrin Zeddies. Als sie jünger war, reichte eine kleine Bemerkung von ihrem Freund, um einen heftigen Streit auszulösen: „Es ist keine Abgrenzung vom Gegenüber möglich. Man fühlt mit…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
voller Wucht, was der andere sagt.“
Schon die kleinste Kritik klang in ihren Ohren wie eine unerträgliche Beleidigung und eine Abwertung der ganzen Person. Entsprechend heftig war ihre Reaktion: „Ich bin gleich in den Gegenangriff gegangen, mit Fäkalsprache und allem. Für mich war damit alles aus. Ich habe ihn angeschrien, dass ich jetzt gehen und mich erschießen werde. Und das habe ich wirklich ernst gemeint.“
In der Gesamtbevölkerung sind schätzungsweise ein bis zwei Prozent von Borderline betroffen, unter Jugendlichen ist der Anteil noch doppelt so hoch. Tatsächlich bricht die Erkrankung häufig um das 14. Lebensjahr aus. Rund drei Viertel der Patienten in Behandlung sind weiblich. Man geht davon aus, dass männliche Betroffene sich seltener professionelle Hilfe suchen und sich die Störung bei ihnen eher in Drogenmissbrauch und aggressivem Verhalten äußert.
Süchtig nach Hautaufritzen
Die Störung der Emotionsregulation gilt mittlerweile als Kern der Erkrankung. Die Gefühle sind besonders stark, können sehr leicht ausgelöst werden, bleiben lange bestehen und überlagern sich. Betroffene erleben dies als enorme innere Anspannung – das Gefühl, im nächsten Moment platzen zu müssen. Um diese heftigen Gefühle zu dämpfen, greifen viele zu extremen Mitteln: Sie konsumieren maßlos Alkohol oder andere Drogen, essen obsessiv oder fahren riskant Auto. Schätzungsweise 70 bis 90 Prozent der Betroffenen verletzen sich selbst, indem sie sich beispielsweise die Haut aufschneiden oder verbrennen.
Katrin Zeddies hat blonde Wuschelhaare und ein lebendiges Gesicht, das ihre Gefühle offen zeigt. Die 40-Jährige erzählt, wie exzessiv und selbstzerstörerisch sie sich als Jugendliche verhielt. Mit 17 Jahren zog sie von zu Hause aus. „Schon morgens vor der Schule habe ich fette Joints geraucht. Es ist ein Wunder, dass ich mein Abitur geschafft habe.“
Anschließend begann sie, Psychologie zu studieren. Nachts arbeitete sie in einem Club, morgens ging sie angetrunken in die Vorlesungen. Und mindestens einmal am Tag schnitt sich die junge Frau die Haut auf. „Man wird schnell süchtig danach.“ Noch heute löst der Anblick von Scherben einer zerbrochenen Flasche ein starkes Verlangen in ihr aus. „Manchmal habe ich mir wie blind in den Arm gehackt und hatte dann Angst, dass es diesmal vielleicht zu viel war.“
Wenn sie sich schnitt, konnte sie sich einen Moment vom Gefühlschaos in ihrem Inneren entspannen. Manchmal schnitt sie sich vor den Augen anderer in die Haut, auch am WG-Küchentisch. „Dann wollte ich Aufmerksamkeit und den anderen zeigen, wie schlecht es mir ging“, weiß sie heute.
Überaktivität des limbischen Systems
Die Selbstverletzung (siehe Definitionskasten) ist für die Familie und Freunde der Betroffenen nur schwer zu ertragen. Um dieses drastische Verhalten besser zu verstehen, hilft ein Blick ins Gehirn. Neurobiologische Studien zeigen, dass bei Betroffenen das limbische System – und dort vor allem die Amygdala, wo Angst und Wut entstehen – überaktiv ist. Zugleich ist die Verbindung zum präfrontalen Kortex, der die starken Gefühle eigentlich kontrollieren soll, vergleichsweise schwach. „Das ist so, wie wenn man einen sehr starken Motor hat und sehr schwache Bremsen“, erklärt Martin Bohus, der viele Jahre wissenschaftlicher Direktor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim war.
Dort wurden in einer Studie der Arbeitsgruppe von Christian Schmahl Probandinnen zunächst unter Stress gesetzt. Anschließend wurden ihnen mit einem Skalpell oberflächliche Schnittwunden zugefügt. Durch den Schmerz und den Anblick von Blut reduzierte sich die Aktivität der Amygdala bei den Borderlinebetroffenen deutlich stärker als bei den gesunden Kontrollpersonen. Zudem verbesserte sich die Verbindung zwischen Amygdala und präfrontalem Kortex und damit die Kontrolle über die Emotionen. Die Ergebnisse korrespondieren mit dem Empfinden der Betroffenen: Durch Selbstverletzungen wird die innere Anspannung für kurze Zeit gelindert.
Ritzen sei für sie eine Art Ritual gewesen, sagt Jennifer Wrona. Eine schicke große Hipsterbrille auf der blassen Nase, roter Lippenstift – sie studiert digitale Medienproduktion und ist voller Energie. Mit ihren 25 Jahren hat sie bereits ein Buch über ihre Borderlinestörung und deren Bewältigung geschrieben und sie verfasst regelmäßig eine Mental-Health-Kolumne in einer Tageszeitung. Ernst spricht Jennifer Wrona über die Prozedur, der sie sich als Teenager mehrmals täglich unterzog: Erst die Haut aufschneiden, dann die frischen Wunden verarzten und verbinden. „Man erlebt dadurch ein Extremgefühl, das man durch nichts anderes erreichen kann.“
Kontrolle gewinnen
Ritzen sei auch eine Möglichkeit gewesen, ein Stück Kontrolle über ihr Erleben zurückzuerlangen. Denn anders als bei den diffusen negativen Gefühlen, die sie überkamen, konnte sie sich beim Ritzen den Schmerz an einer ganz bestimmten Stelle zufügen, von ihr selbst ausgewählt.
Nach außen hin tat Jennifer Wrona alles, um ihre Arme voller Narben zu verstecken, keiner sollte etwas merken Auch im Hochsommer trug sie langarmige Hemden, sie ging nicht zum Sport und nicht zum Schwimmen. „Ich habe versucht, den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten. Weil ich mich geschämt habe. Und weil ich nicht wollte, dass mir das jemand wegnimmt. Ich hätte nichts anderes gehabt.“
Es waren die Vertrauenslehrer an ihrer Schule, die merkten, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie schickten sie schließlich zu einer Beratungsstelle, wo Wrona mit 15 ihre erste Therapeutin kennenlernte. Ein langer Weg zur Heilung begann. Relativ schnell gelang es ihr, das Schneiden zu beenden. „Aber ich war gut darin, meine Sucht immer wieder zu verlagern.“ Statt sich zu ritzen, hörte sie auf zu schlafen, um sich leicht zu fühlen. Sie begann, exzessiv feiern zu gehen und viel Alkohol zu trinken. Außerdem verschlimmerte sich ihre Essstörung. An manchen Tagen drehten sich ihre Gedanken ausschließlich darum, was sie aß, wie viel sie aß und wann sie wieder erbrechen musste.
Angst vor dem Verlassenwerden
Zum selbstzerstörerischen Verhalten vieler Borderlinebetroffener gehört auch Risikosex. Katrin Zeddies spricht davon, „sich selbst zu missbrauchen“: mit viel zu vielen Leuten Sex zu haben, auf eine Weise, die nicht guttut. „Ich bin ständig fremdgegangen, als wollte ich mir immer wieder bestätigen, was für ein Stück Scheiße ich bin. Und immer auf der Suche nach dem, der mich rettet.“ Wie viele Borderliner lebte sie mit dem ständigen Widerspruch, einerseits nicht allein sein zu können und andererseits die Nähe oder gar Glücksmomente gar nicht aushalten zu können. „Immer wenn es wirklich schön war, war auch die Angst da, dass es wieder kaputtgeht, dass man verlassen wird.“
Verlassen zu werden – das schmerzt immer. Doch für Borderlinebetroffene ist es ein Gefühl, als müssten sie sterben. Katrin Zeddies erinnert sich, wie ihr erster Freund Schluss machte, als sie 14 Jahre alt war. „Ich habe mir alles aufgeschnitten und dann blutend die Haustür eingetreten. Seine Mutter hat mich schließlich verbunden.“ Die junge Frau gewöhnte sich an, ihren Partnern zuvorzukommen und selbst Schluss zu machen, bevor sie verlassen wurde.
„Ich habe meine Partner zuerst idealisiert und war dann enttäuscht, wenn sie sich als ganz normale Menschen herausstellten.“ Liebesbeziehungen bedeuteten für Katrin Zeddies immer extreme Gefühle, große Leidenschaft, aber auch viel Streit und Untreue. Wer dennoch bei ihr blieb, sei ihr „wie ein Idiot“ vorgekommen, sagt sie. Ein Grund mehr, ihn zu verlassen.
Rolle von Kindheitstraumata
Katrin Zeddies ist überzeugt, dass sie schon als Kind ein bisschen anders war als die anderen Kinder, empfindlicher, trauriger. Ungefähr als sie sechs Jahre alt war, wurde sie von einem Angehörigen missbraucht. Sie wusste lange nichts davon. Erst als sie bereits erwachsen war, habe sich der Mann im Suff verplappert und sich bei ihr und ihrer Schwester entschuldigt. Sein Eingeständnis war wie ein letztes Puzzleteil, sagt sie. Schon immer habe sie eine Ahnung gehabt. Ihre Familie sei nach einem kurzen Schock wieder zum Alltag zurückgekehrt, der Vorfall wurde verdrängt, der Tochter vorgeworfen, sie übertreibe mal wieder.
Welche Rolle Kindheitstraumata dieser Art bei der Entwicklung von Borderline spielen, ist bislang nicht restlos geklärt – ebenso wie die anderen Ursachen der Störung. Man nimmt an, dass genetische Faktoren, also eine angeborene Anfälligkeit, ebenso wie andere biologische Einflüsse und soziale Erfahrungen zu Borderline beitragen.
Schätzungen gehen davon aus, dass 50 bis 60 Prozent der Betroffenen in ihrer Kindheit oder Jugend sexuelle Übergriffe und weitere 20 Prozent Gewalt oder emotionale Grenzüberschreitungen erlebt haben. „Viele Borderlinebetroffene tun alles, um die Gefühle zu vermeiden, die sie aus diesen unangenehmen zwischenmenschlichen Erfahrungen ihrer Kindheit oder Jugend kennen“, sagt Martin Bohus. „Positive Emotionen wie Nähe, Intimität oder Lob sind für sie immer mit Angst verbunden.“
Wer bin ich?
Ein weiteres Problem ist das gestörte Selbstbild der Betroffenen. Sie wissen nicht, wer sie sind. Sie verstehen ihre eigenen Gefühle nicht und neigen dazu, sich selbst ständig abzuwerten. „Viele können nicht in den Spiegel blicken, ohne Abscheu zu empfinden“, erklärt Martin Bohus. Zudem fällt es ihnen schwer, anderen Menschen zu vertrauen. Experimente wie die der Heidelberger Psychiaterin Sabine Herpertz haben gezeigt, dass Menschen mit Borderline die Mimik ihres Gegenübers eher negativ interpretieren. Sogar einen neutralen oder freundlichen Gesichtsausdruck empfinden sie häufig als wütend oder bedrohlich.
Katrin Zeddies erinnert sich: „Ich war den ganzen Tag damit beschäftigt, den Gesichtsausdruck anderer Menschen zu interpretieren. Immer in der Erwartung, da Ablehnung zu lesen. Ich habe ja alles auf mich bezogen.“ Das führt unweigerlich zu Konflikten. Kein Wunder, dass Beziehungen für die meisten Betroffenen eine besondere Herausforderung darstellen, egal ob zum Partner, zu Freundinnen und Kollegen, in der Familie und nicht zuletzt zur Therapeutin.
Entsprechend galten Borderlinebetroffene unter Therapeutinnen und Therapeuten als schwierige Patienten, die auch in der therapeutischen Beziehung ihr Gegenüber zunächst überhöhen, dann mit Misstrauen und Wutanfällen überziehen, um schließlich die Therapie abzubrechen. Noch vor zwanzig Jahren lehnten zahlreiche Therapeuten die Behandlung von Borderline ganz ab.
Lange Wartezeiten
Auch Katrin Zeddies wurde im Psychologiestudium gewarnt. „Uns wurde empfohlen, als Therapeuten maximal drei bis vier Patientinnen und Patienten mit Borderline anzunehmen, da wir sonst einen Burnout riskieren würden.“ Seitdem hat sich einiges geändert, die Störung ist besser erforscht und es gibt immer mehr spezifische Behandlungsangebote in Einrichtungen und Praxen. Der Psychiater Martin Bohus kritisiert aber die Situation in der Jugendpsychiatrie, wo es noch immer jahrelange Wartezeiten für geeignete Behandlungen gebe. Je früher Borderline aber erkannt wird, desto besser lässt es sich behandeln.
Zu den etablierten Behandlungsmethoden gehört die Schematherapie, die auf kognitiver Verhaltenstherapie basiert und bei der die in der Kindheit wurzelnden negativen Gedanken- und Gefühlsmuster im Zentrum stehen. In der übertragungsfokussierten Psychotherapie nach Otto F. Kernberg, einem psychodynamischen Verfahren, werden die problematischen Beziehungserfahrungen der Patientin auf die Therapeutin übertragen und dadurch offengelegt und bearbeitet.
Die von Peter Fonagy mitentwickelte mentalisierungsbasierte Therapie hat dagegen zum Ziel, das „Mentalisieren“ zu stärken. Gemeint ist die Fähigkeit, zu erkennen, welche Wünsche, Vorstellungen und Gedanken unserem Verhalten zugrunde liegen. Dies zu trainieren hilft Borderlinern, andere besser zu verstehen – aber vor allem auch sich selbst.
Gefühle sind aushaltbar
Am weitesten verbreitet und am besten untersucht ist die dialektisch-behaviorale Therapie, die in den 1980er Jahren von der Amerikanerin Marsha M. Linehan entwickelt wurde, bei der selbst Borderline diagnostiziert worden war. Die Betroffenen lernen in dieser Therapie zum einen, dass ihre starken Gefühle aushaltbar sind, dass sie sie zulassen und verarbeiten können. Zum anderen werden „Skills“ trainiert: alltagsbezogene mentale Techniken, mit denen sich die eigenen Gefühle besser regulieren und stabilere Beziehungen aufbauen lassen.
Dazu gehört etwa, sich selbst in einem impulsiven Moment zu stoppen und ungesunde Automatismen zu durchbrechen. „Die eigenen mentalen Prozesse zu beobachten und zu steuern, das können die wenigsten Menschen“, betont Martin Bohus. „Es ist also nicht so, dass Borderlinepatienten etwas nachzuholen haben, was ihnen fehlt. Sie müssen einfach besser werden als andere Menschen, weil sie mehr Selbstmanagement brauchen.“
Heilungschancen
Medikamente gegen Borderline gibt es nicht. Allenfalls können Begleiterscheinungen wie zum Beispiel leichte Depressionen gelindert werden. Dennoch stehen die Chancen auf eine Heilung nicht schlecht. Bohus und seine Kollegen haben ehemalige Patientinnen und Patienten 15 Jahre nach der Entlassung aus der Klinik nach ihrem Befinden befragt: 70 Prozent führten nach eigenen Angaben ein sinnerfülltes Leben, rund 40 Prozent sind sogar ganz frei von Symptomen. Studien mit Hirnscans zeigen, dass sich durch die Therapie langfristig sogar die hohe Erregbarkeit der Amygdala merklich drosseln lässt.
Selbst Borderlinepatientinnen, die durch sexuelle Übergriffe und Gewalt in der Kindheit besonders stark belastet sind und zusätzlich an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, können geheilt werden. In einer aktuellen Studie untersuchten Bohus und Kollegen die Wirksamkeit einer spezifischen Variante der dialektisch-behavioralen Therapie. Bei immerhin 58 Prozent der Patientinnen waren die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung nach 15 Monaten weitgehend zurückgegangen.
Eine ganz praktische Hilfe in der dialektisch-behavioralen Therapie ist der „Notfallkoffer“, den Patientinnen und Patienten sich zusammenstellen und immer bei sich tragen sollten. Darin enthalten sind Dinge, die die Sinne reizen und ähnlich wirken können wie das Ritzen: etwa scharfe Ingwerbonbons oder japanisches Heilöl. Sie sollen das selbstverletzende Verhalten in besonders angespannten Momenten ersetzen. „Ich habe gemerkt, dass mir heiß baden hilft. So heiß, dass es auf der Haut brennt, aber nicht wehtut“, sagt Katrin Zeddies. „Mir hilft alles, womit ich meinen Körper spüre: Hier sind meine Beine, da sind meine Füße.“
Das Familiensystem einbeziehen
Insgesamt fünf Jahre lang war Katrin Zeddies in Therapie, meistens ambulant. „Die sogenannten Skills zu erlernen ist viel Fleißarbeit, man kann nicht erwarten, dass da jemand einen Knopf drückt und dann ist alles vorbei.“ Sie lernte Achtsamkeitsübungen, die sie bis heute jeden Tag praktiziert: um sich zu beobachten und rechtzeitig zu merken, wenn eine große Gefühlswelle auf sie zurollt und sie sich schützen muss.
Heute sagt Katrin Zeddies: „Ich könnte mich nicht mehr ritzen. Das würde mir wehtun.“ Sie bezeichnet sich inzwischen als trockene Borderlinerin und arbeitet seit einigen Jahren selbst als Familientherapeutin und Supervisorin. Gemeinsam mit ihrer Mutter hat sie ein Beziehungstraining entwickelt. Denn auch wenn es vielen Borderlinern durch eine Therapie gelingt, mit dem eigenen Innenleben zurechtzukommen, bleiben die Beziehungen zu anderen Menschen oft schwierig.
Dabei ist gerade die Unterstützung der Familien wichtig. Mit ihrem Verein „Drahtseiltanz“ (drahtseiltanz.de) organisiert Zeddies Selbsthilfegruppen, in denen Betroffene und Angehörige zusammenkommen. Sie ist überzeugt, dass oft nicht nur derjenige betroffen ist, der erkrankt ist, sondern im ganzen Familiensystem etwas nicht stimmt. „Die Angehörigen sollten nicht nur auf den Betroffenen gucken, sondern auch auf sich selbst. Auf der anderen Seite können die Betroffenen sich nicht ein Leben lang auf ihre Erkrankung berufen und glauben, damit werde alles entschuldigt.“
Schutz, wenn die Gefühlswelle anrollt
Eine ähnliche Erfahrung hat auch Jennifer Wrona gemacht: „Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich verstanden habe: Die einzige Person, die mir helfen kann, bin ich selbst.“ Als sie damals ihrer Therapeutin wieder einmal sagte, dass sie nicht mehr leben wolle, antwortete die, dass einen letztlich niemand von einem Suizid abhalten könne. „Das hat etwas in mir bewegt. Ich muss Verantwortung für mich übernehmen. Ich kann nicht für immer warten, dass jemand kommt und mich rettet.“
Katrin Zeddies’ Symptome sind so weit zurückgegangen, dass ihr inzwischen keine Diagnose mehr gestellt werden würde. Was geblieben ist, sind die starken Gefühle. Aber sie hat gelernt, mit ihnen umzugehen. „Das ist wie bei Diabetes, man entwickelt eine Routine und weiß, wie viel Insulin man sich nach einem Essen spritzen muss.“
Auch Jennifer Wrona konnte sich aus dem tiefen Loch von belastenden Gefühlen befreien. Und sie stellte fest, dass nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Gefühle bei ihr viel stärker sind als bei anderen Menschen. „Ich erlebe sehr intensive Momente, etwa wenn ich mit meinem Hund auf dem Deich spazieren gehe.“ Diese besondere Intensität der Gefühle bezeichnet sie heute als „Superkräfte“.
Literatur
Martin Bohus, Markus Reicherzer: Ratgeber Borderline-Störung. Informationen für Betroffene und Angehörige. Hogrefe, Göttingen 2020 (2. Auflage)
Jennifer Wrona: Konfettiregen im Kopf. Leben mit Borderline. Trias, Stuttgart 2021
Katrin Zeddies: Mein langer Atem. Ein Leben mit Borderline. CreateSpace Independent Publishing Platform 2015 (2. Auflage)