Der Mann, der sich der Angst stellte

Als Angstattacken sein Leben zu dominieren drohten, suchte Steven Hayes nach einem Ausweg – und fand eine neue Therapie: ACT.

Der Psychologe Steven Hayes steht in einem blauen Kurzarmhemd lächelnd in einem Park, neben ihm ein Baum und ein  Gewässer
Ein Mann ohne Attitüden: „Bei ihm ist nichts vorgeschoben oder wird versteckt“. © Myra Merrill, Drew Altizer

Steven Hayes steht allein auf der Theaterbühne der University of Nevada. Der Saal ist weitgehend verdunkelt. In dem grellen Scheinwerferlicht scheinen der helle Glatzkopf des Psychologen und sein blaues Hemd regelrecht zu strahlen. Der rote TED Talk-Teppich unter seinen Füßen verleiht der Atmosphäre eine Extraprise Dramatik.

Hayes erzählt von der schweren Angststörung, die seine Karriere und sein ganzes Leben überschattete. Und er schildert den Moment, spielt ihn förmlich nach, als er den Tiefpunkt…

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und sein ganzes Leben überschattete. Und er schildert den Moment, spielt ihn förmlich nach, als er den Tiefpunkt erreichte, der gleichzeitig ein Wendepunkt war. Nachts um zwei, schweißgebadet und mit rasendem Herzen auf einem zotteligen braunen Teppichboden kauernd, traf er die Entscheidung: Ich werde nicht mehr vor mir davonlaufen.

Auch auf der Bühne hat er sich hingesetzt. Auf dem Höhepunkt seiner Erzählung öffnet er den Mund und stößt einen heiseren Schrei aus, ganz wie in der lebensverändernden Nacht. Als die Kamera ins Publikum schwenkt, sieht man, wie gebannt es ihm lauscht.

Umgang mit Panik, Depressionen und Süchten

Vier Jahrzehnte ist der Moment her, von dem Hayes in seinem TED-Talk berichtet. Seitdem hat er nicht nur seine eigene Angststörung in den Griff bekommen. Der heute 73-jährige Psychologieprofessor hat die Entwicklung einer wirkungsvollen Methode angestoßen: der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT, gesprochen wie das englische Wort act). Sie wird inzwischen in den unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt, vom Umgang mit Panik, Depressionen und Süchten bis hin zu den Herausforderungen in Partnerschaft, Kindererziehung und Beruf.

650 wissenschaftliche Artikel sowie mehr als 47 Bücher hat er veröffentlicht. Steven Hayes zählt zu den weltweit am häufigsten zitierten klinischen Psychologen, und durch seine populärwissenschaftlichen Ratgeber ist er auch Laien bekannt. Allein 700000 Menschen haben sich das Video seines TED-Auftritts auf YouTube angesehen.

Ich besuche Steven Hayes in Reno, wo er seit 1986 einen Lehrstuhl an der University of Nevada innehat. Er nimmt sich viel Zeit, mich kennenzulernen. Vor ein paar Wochen haben wir auf seinen Vorschlag hin ein Vorgespräch über Skype geführt. An meinem Ankunftstag in Reno gehen wir abends zum Dinner in ein ruhiges Restaurant; auch seine in Brasilien geborene Frau, ebenfalls eine Psychologin, ist dabei.

Unser Gespräch am nächsten Tag, für das sich Hayes einen ganzen Vormittag freigehalten hat, findet bei ihm zu Hause statt. Reno gilt als aufstrebende Stadt. Auch die Gegend, in der das Ehepaar Hayes mit seinem 16-jährigen Sohn lebt, strahlt Lebensqualität aus. Die Familie wohnt in einem großzügigen freistehenden Haus inmitten eines dürreresistenten Gartens mit Blick auf die Berge.

"Ich bin nicht gut mit Gefühlen"

In der offenen Küche, die in einen geräumigen Wohn- und Essbereich übergeht, macht Hayes uns erst mal einen Kaffee. Ich schaue mir die Familienfotos an, die die Kühlschranktür zieren, während er von den vier Kindern aus drei Ehen und von seiner deutschstämmigen Mutter erzählt. Dann gehen wir in sein Büro auf der unteren Etage, das mit gemütlichen Holzmöbeln bestückt ist.

Hayes trägt ein gelbes Hemd, schwarze Jeans und Sneaker. Nach einer Weile legt er die Füße auf eine aufgezogene Schreibtischlade und streckt sich auf seinem Bürostuhl aus. „Wenn das Interview vor 25 Jahren stattgefunden hätte, wäre ich viel angespannter und distanzierter gewesen. Ich bin nicht gut mit Gefühlen“, gesteht er.

Beim Aufwachen morgens um fünf war er nicht ganz so gelassen, erzählt er. Als er daran dachte, dass ein großes Interview auf ihn zukomme, habe er auf eine Strategie aus dem Werkzeugkasten seiner Therapie zurückgegriffen: Er rief sich schlicht in Erinnerung, warum er das alles macht. Dank solcher Übungen sei er über die Jahre viel besser geworden, aber auch heute noch tendiere er manchmal dazu, emotional herausfordernde Situationen zu vermeiden.

Schon lange ein Gefühlsunterdrücker

Seine Frau mache ihn darauf aufmerksam, wenn er in Vermeidungshaltung geht. „Meine Mutter unterdrückte ihre Gefühle, und mein Vater ließ seine Emotionen nur unter Alkoholeinfluss – und dann heftig – raus. Es ist also nicht verwunderlich, dass ich seit jungen Jahren ein Gefühlsunterdrücker bin“, sagt er. „Deshalb weiß ich ja so gut über diese Dinge Bescheid.“

Steven Hayes wuchs in einem Vorort von San Diego auf. Der Vater arbeitete in einer Firma, die Aluminium an Flugzeugbauer vertrieb. Seine Mutter kümmerte sich um die drei Kinder – den ältesten Sohn Greg, Steven und die Jüngste, Suzanne. „Meine Eltern waren auf ihre Art liebevolle Menschen, aber unser Zuhause war voller dunkler Geheimnisse.“

Vater Charles war als junger Mann ein vielversprechender Baseballspieler, scheiterte aber dann daran, seinen Traum einer professionellen Sportkarriere wahrzumachen, und versuchte nun, als Vertreter ein finanziell auskömmliches Leben für seine Familie zusammenzustückeln. Diese schicksalhafte Wendung konnte er nie akzeptieren und flüchtete sich in Alkohol, wie Hayes erzählt: „Er schleppte seine Niederlagen mit sich herum wie einen Sack mit verrottendem Fleisch, dessen Geruch nur von Gin Tonic überdeckt werden konnte.“ Zudem habe sein Vater große Mengen an Beruhigungsmitteln konsumiert, wahrscheinlich weil er an einer Angststörung litt, wie Hayes vermutet.

"Wie ein verwundeter Hund"

Mutter Ruth kämpfte gegen ihre eigenen Dämonen. Sie war Ende der 1920er Jahre mit ihren Eltern aus Deutschland in die USA immigriert. Mütterlicherseits aus einer jüdischen Familie kommend, war sie in ihrem eigenen Elternhaus antisemitischen Ressentiments ausgesetzt; von ihrem Vater, einem Aristokraten, der mit den Nazis sympathisierte, hörte sie, sie habe „verunreinigtes Blut“.

Zudem machte sie sich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich. Diese war an Tuberkulose erkrankt, als Ruth im College war, und hatte die Tochter gebeten, ihr Studium aufzugeben, um ihr im Sanatorium Gesellschaft zu leisten. Ruth lehnte ab. Zwei Wochen später verstarb die Mutter. Es wurde nie eine Autopsie gemacht, erzählt Hayes, aber in ihrer Familie waren alle überzeugt, dass es ein Suizid war.

„Meine Mutter litt schrecklich und entwickelte psychische Probleme. Ich erinnere mich daran, wie sie ihre Hände obsessiv wusch. Sie hatte auch Depressionen, die sie manchmal völlig lähmten. Einmal stand sie eine halbe Stunde in der Hitze vor dem geöffneten Backofen und konnte sich nicht bewegen.“

Auch wenn er damals nicht das gesamte Ausmaß der elterlichen Probleme erkannte, sei ihm doch schon als Kind klargewesen, dass in seiner Familie etwas grundsätzlich nicht stimmte, sagt Hayes. Er wusste, dass sein Vater unstet und reizbar war „wie ein verwundeter Hund“ und man ihn meiden musste, wenn er nach Wacholderbeeren roch. Einmal raste der Vater nach einem Streit mit der Mutter wutentbrannt im Kombi davon, ohne zu bemerken, dass die Heckklappe geöffnet war und der älteste Sohn Greg im Kofferraum saß. Der stürzte prompt auf die Straße und erlitt eine Kopfverletzung.

Das Kind eines anderen großziehen

„Ich war zu diesem Zeitpunkt in der dritten oder vierten Klasse und machte mir ernsthaft Sorgen, dass ich mein Elternhaus nicht überleben würde“, sagt Hayes. „Das hat mich schnell reifen lassen, und ich fing an, auf mich selbst aufzupassen.“ Während er sich vom Kind zum Teenager entwickelte, versuchte er, so wenig Zeit wie möglich zu Hause zu verbringen. Da er ein guter Schüler war, ließen ihn die Eltern auch immer öfter ziehen. Mit 16 hatte er bereits einen Führerschein – und seine erste ernsthafte Freundin, Angel, mit der er die meiste Zeit verbrachte.

Nach der Highschool entschied er sich für die Psychologie, wo er sein Talent für Mathe und Naturwissenschaften mit seinem Interesse an Literatur und am Schreiben würde vereinen können, wie er hoffte. Sein Bachelorstudium an einem College in Los Angeles absolvierte er mit Bravour, tauchte aber gleichzeitig in die Hippiekultur ein.

Seine hippy-dippy-Zeit, wie er es nennt, beinhaltete die obligaten Drogen („Hasch und auch LSD, aber sehr vorsichtig“), utopische Lebensentwürfe und hüftlange Haare. „Nach außen hin habe ich ziemlich verrückt gewirkt, aber im Geheimen war ich hyperverantwortungsvoll.“ Als Angel nach einer Affäre mit einem Afroamerikaner schwanger wurde, entschloss er sich, das Baby wie sein eigenes großzuziehen. Da war er zwanzig.

Abwendung aus Enttäuschung

Nach dem College hatte er zunächst Schwierigkeiten, an einer weiterführenden Universität akzeptiert zu werden. Einer seiner Professoren hatte aus seiner Hippie-Erscheinung auf eine Drogenabhängigkeit geschlossen und dies in einem Referenzbrief erwähnt. So verbrachte Hayes zusammen mit Angel, die er mittlerweile geheiratet hatte, und der kleinen Tochter ein paar Monate in einer spirituellen Yogakommune in den kalifornischen Bergen, die ihn sehr prägte, wie er sagt. Zudem engagierte er sich in der Umweltbewegung in San Diego und lernte von einem einflussreichen Aktivisten, wie man sich politisch Gehör verschafft.

Nach zwei Wanderjahren wurde er schließlich an der West Virginia University akzeptiert, wo er ein Masterprogramm und ein Doktorat in klinischer Psychologie absolvierte. Die Universität war eine Hochburg der Verhaltensanalyse, ein Ansatz, der ihn zunehmend faszinierte, und in seinen Abschlussarbeiten beschäftigte er sich damit, wie man das Umweltverhalten von Menschen beeinflussen kann.

Zusammen mit seinem Mentor schrieb er sogar ein Buch über Umweltpsychologie, doch letztlich habe er sich von diesem Bereich enttäuscht abgewendet, erzählt er, weil „damals niemand auf Psychologen hörte, wenn über die Gestaltung von Parks und anderen öffentlichen Räumen zu entscheiden war“.

Ein beklemmender Kulturkrieg, der ihn belastete

Während unseres Gesprächs schweift Hayes manchmal in etwas langwierige fachliche Ausführungen ab, etwa wenn er über B.F. Skinner doziert, dessen behavioristischer Ansatz und utopischer Roman Walden Two ihn tief beeinflusst haben, oder wenn er über die moderne Psychiatrie wettert, die alle Menschen in Kategorien von normal und unnormal zwängen will. Aber nach einer Weile unterbricht Hayes sich selbst in seinem Exkurs und kommentiert, dass er wohl mal wieder ins Intellektuelle geflüchtet sei. Dann kehrt er zu den Details seiner Lebensgeschichte zurück, auch wenn sie bisweilen schmerzhaft sind.

1976 trat Hayes seinen ersten Job als Assistenzprofessor an der University of North Carolina an. Alles schien nun in den richtigen Bahnen zu laufen. Der 28-Jährige gehörte einem Team an, das ein vielversprechendes Modell entwickelte, das klinische Psychologie mit Verhaltensanalyse verband, um beispielsweise Autismus zu behandeln. Doch außerhalb der Gruppe brodelte es.

Im Psychologischen Institut klafften tiefe Gräben zwischen den verhaltensanalytisch ausgerichteten Leuten, die in Begriffen wie Reiz und Reaktion dachten, und den kognitiv Orientierten, die sich die Psyche als Informationsprozessor vorstellten. „Es war ein beklemmender Kulturkrieg mit heftigen Kämpfen“, sagt Hayes.

Nichts half gegen die Panik

Die feindselige Atmosphäre belastete ihn. Er versuchte, sich mit Arbeit abzulenken, und publizierte einen Fachartikel nach dem anderen. Doch dann kam jene schicksalshafte Institutssitzung im Jahr 1978, als zwischen den tonangebenden Professoren und Professorinnen ein heftiger Streit ausbrach. „Als ich die Hand hob, um einen ruhigeren Ton anzuregen, und aufgerufen wurde, brachte ich kein Wort heraus“, erinnert sich Hayes. Es war seine erste Panikattacke. „Während mein Herz raste und ich meinen Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen lautlos öffnete und schloss, schauten mich alle an. Ich war entsetzt und fühlte mich unglaublich beschämt.“

Das war erst der Anfang. In den nächsten drei Jahren traten die Attacken immer häufiger und vehementer auf und machten ein normales Leben schließlich unmöglich. Weil er nicht mehr vor einer Klasse stehen und unterrichten konnte, zeigte Hayes in seinen Seminaren Videos, aber selbst das Einlegen der Filmrollen sei eine Tortur gewesen, erzählt er.

Er habe alles Mögliche versucht, um die Angst in Schach zu halten: Beruhigungsmittel, Entspannungstraining, Atemübungen, Psychotherapie, doch nichts habe geholfen. „Die Panik überschwemmte mich überall, in meinem Büro, im Flugzeug, im Restaurant, beim Telefonieren, im Aufzug, zu Hause auf dem Sofa und schließlich auch im Schlaf.“

1981 erreichte er dann den Tiefpunkt. Eines Nachts wachte er schweißgebadet und mit stechenden Schmerzen in der Seite auf. Zunächst hielt er es für einen Herzinfarkt und wollte einen Krankenwagen rufen. Doch schnell wurde ihm klar, dass dies ein weiterer, besonders schlimmer Panikanfall war und er nur glauben wollte, dass es „etwas Physisches“ sei.

Unangenehme Gedanken nicht bekämpfen

Es war die Szene, von der er auf der TED-Bühne erzählt, der Moment, in dem er schwor, sich seiner Angst zuzuwenden, auch wenn er nicht genau wusste, wie das genau aussehen würde. Mehr noch: Er nahm sich vor, einen Ansatz zu entwickeln, der auch anderen Menschen helfen könnte, mit ähnlich belastenden Situationen und innerem Aufruhr besser umzugehen.

Dieser Ansatz ist das, was heute Akzeptanz- und Commitmenttherapie genannt wird. ACT lehrt, unangenehme Gedanken und Gefühle nicht zu bekämpfen oder unbedingt ändern zu wollen und gleichzeitig Handlungen zu ergreifen, die das Leben in eine Richtung lenken, die der eigenen Vorstellung von Lebenssinn gerecht wird.

Dazu greift ACT auf sechs „Prozesse“ zurück: die eigenen Gedanken mit Abstand betrachten (kognitive Defusion); sich selbst aus der Perspektive eines neutralen Beobachters sehen (Beobachterselbst); sämtliche Gefühle zulassen, auch wenn sie schmerzhaft sind (Akzeptanz); die Aufmerksamkeit bewusst ins Hier und Jetzt lenken (Präsenz); herausfinden, was einem im Leben wirklich wichtig ist (Werte) und schließlich Verhaltensweisen und Gewohnheiten entwickeln, durch die man die selbstgewählten Werte verwirklichen kann (Commitment).

Bereits ein Jahr nach seiner Nacht mit dem vermeintlichen Herzinfarkt hielt Hayes seinen ersten ACT-Workshop vor einer Gruppe von Ärztinnen und Therapeuten. Es war noch nicht das vollständige Therapiekonzept, aber manche Grundpfeiler waren bereits enthalten. Bei der Entwicklung ging er von seinen eigenen Panikattacken aus. Diese hielten nach seinem nächtlichen Anfall zunächst weiter an, aber während der Episoden gelang es ihm nun manchmal, machtvolle Gedanken wie „Ich bin solch ein Versager“ wie ein Beobachter von außen zu betrachten oder seine Emotionen ganz bewusst wahrzunehmen, ohne gleich vor ihnen weglaufen zu wollen.

Erfahrung häuslicher Gewalt als Ursache

„Ich griff auf Konzepte zurück, die ich in meinen hippy-dippy-Jahren kennengelernt hatte: Encountergruppen, Yoga, Zen, Gestalttherapie, Achtsamkeitsübungen. Aber ich ging es wissenschaftlicher und evidenzbasierter an.“ Mit seinem Team begann er zu testen, wie gut ACT im Vergleich zu anderen Therapieansätzen funktionierte. 1986 kam die erste randomisierte Studie heraus. Dass er selbst unter Panikattacken litt und diese den Anstoß für die ACT-Arbeit geliefert hatten, offenbarte er dabei nicht: „Das kam erst viel später.“

In seinen Büchern und Vorträgen beschreibt Hayes eine wichtige persönliche Erkenntnis aus diesen ersten Jahren; auch in unserem Gespräch kommt er immer wieder darauf zurück. Als er in einem ACT-Workshop mal wieder Angstwellen verspürte, tauchte plötzlich eine lange verschüttete Erinnerung aus der Kindheit auf: Er ist etwa acht Jahre alt und versteckt sich unter dem Bett, während seine Eltern heftig streiten.

Er hört die beiden schreien, dann ein lautes Krachen, und er fürchtet, dass der Vater der Mutter Gewalt antut. (Es ist der Sofatisch, der durch das Wohnzimmer fliegt, wie er später herausfindet.) „Mein achtjähriger Verstand sagte ganz deutlich: Ich werde etwas unternehmen“, erinnert er sich. „Aber dann habe ich erkannt, dass ich als Kind nichts tun konnte, und ich bin noch tiefer unter das Bett gerutscht und habe geweint.“

Die Erfahrung häuslicher Gewalt sieht er heute als eine Ursache für seine Angststörung an. Es sei kein Wunder, dass ihn der verbale Schlagabtausch der „alten Bullen“ im Psychologieinstitut in Panik versetzt habe, sagt er, denn der Wunsch, solche Szenen zu beenden, und die Angst, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, seien für ihn seit frühester Kindheit miteinander verschmolzen gewesen.

Die Verbindung wieder aufbauen

Die Bedeutung der Episode geht für ihn jedoch noch viel weiter: „Die Erfahrung des Achtjährigen hat in mir eine Sehnsucht ausgelöst, ein Leben zu führen, in dem ich dazu beitragen kann, das Leid von Menschen zu lindern. Sie ist letztlich der Grund, warum ich Psychologe geworden bin. Doch weil ich meine Angst nicht wahrhaben wollte und den verschreckten kleinen Jungen in mir weggescheucht habe, war die Verbindung lange verschüttet und kam erst durch die ACT-Arbeit wieder zutage.“

Leid und Lebenssinn sind die beiden Seiten derselben Medaille, das ist heute eine seiner zentralen Botschaften: „Wir leiden an dem, was wir als wichtig erachten, und wir erachten das als wichtig, an dem wir leiden. Erst als ich von dem verzweifelten Versuch abließ, meine Angst kontrollieren zu wollen, begann ich einen Weg zur Heilung zu entdecken – und auch einen Weg zu einem sinnerfüllten Leben. In dem Augenblick, als ich aufhörte wegzulaufen und mich meinem Schmerz und Leiden stellte, klangen meine Panikattacken schrittweise ab, und es eröffneten sich Möglichkeiten, das zu tun, was mir im Leben wichtig ist.“

Seine letzte ausgewachsene Panikattacke erlebte Hayes 1993. Nicht nur für ihn selbst erwies sich ACT als großer Erfolg. In den ersten Jahren arbeiteten Hayes und sein Team in relativer Verborgenheit. Das endete, als 1999 das erste ACT-Fachbuch herauskam, das Hayes zusammen mit den Psychologen Kirk Strosahl und Kelly Wilson schrieb.

Danach nahm das Interesse erst langsam und dann fast explosionsartig zu. Immer mehr Forscherinnen und Kliniker in den USA und anderswo griffen den neuen Ansatz auf, internationale Gemeinschaften wurden gegründet, Konferenzen organisiert. Auch die Öffentlichkeit nahm Notiz. Sein erstes populärwissenschaftliches Buch avancierte zeitweilig zum meistverkauften Ratgeber in den USA.

Er hat das Feld revolutioniert

Bis heute wurden mehr als 5000 Studien zu ACT durchgeführt, etwa 100000 Therapeuten in dem Verfahren ausgebildet und sieben Millionen Bücher gedruckt, wie Hayes stolz berichtet. Dazu haben viele beigetragen, darauf weist Hayes mit Nachdruck hin. Doch ohne ihn würde es den Ansatz nicht geben, ist sich Stefan Hofmann sicher. Er ist Alexander-von-Humboldt-Professor für translationale klinische Psychologie an der Universität Marburg und überdies Professor am Department of Psychological and Brain Sciences der Boston University.

„Stevens Beitrag ist riesig“, sagt Hofmann, der Hayes gut kennt. „Niemand anderes hätte das Konzept so konzipiert und zusammengefügt. Aber er ist ein Wissenschaftler im Herzen. Es ist ihm wichtig, dass alles auf wissenschaftlicher Basis steht und nicht an seinem Namen hängt. Leute kommen und gehen, aber die Ideen bestehen.“

Wie andere seines Fachs sah Hofmann die Arbeit von Hayes anfangs kritisch. Hofmann gilt als führender Experte in der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), die nach seinen Worten seit den 1980er Jahren als „Goldstandard für evidenzbasierte Therapie“ gilt.

„Und da kam Steven und behauptete, der Ansatz sei falsch, und er entwickelte eine neue Theorie, eine neue Philosophie und eine neue Methode, die Ideen Skinners mit Konzepten der humanistischen Psychologie verband. Damit hat er das Feld revolutioniert. Viele in Wissenschaft und Praxis, die sich an der traditionellen kognitiven Verhaltenstherapie orientierten, mussten ihre Arbeit danach wirklich überdenken. Ich gehöre auch dazu, obgleich ich von der Validität des KVT-Modells nach wie vor überzeugt bin.“

Ein bescheidener Forscher

Hofmann erinnert sich an die öffentlichen Streitdiskussionen, die er sich mit Hayes vor zwanzig Jahren geliefert hat: „Wir haben zum Teil sehr heftig miteinander gekämpft. Aber irgendwann haben wir uns zusammengerauft und nach Gemeinsamkeiten gesucht, auf die wir aufbauen können.“ Mittlerweile arbeiten die beiden eng zusammen und haben sogar gemeinsam ein neues Paradigma entwickelt, das sie prozessbasierte Therapie nennen.

Seitdem Hayes einmal während einer Podiumsdiskussion wegen Herzarrythmien ins Krankenhaus musste und Hofmann nachts stundenlang an seinem Bett wachte, sind die beiden auch eng befreundet: „Diese Episode hat uns menschlich sehr nah gebracht.“ Hofmann beschreibt den Freund als Menschen ohne Attitüden.

„Manche würden mir da widersprechen, vielleicht auch weil Steven bei seinen öffentlichen Auftritten als sehr starke Persönlichkeit rüberkommt. Aber in Wirklichkeit ist er ein bescheidener Mensch, der sich nicht zu schade ist, die langweiligsten und mühsamsten Aufgaben zu übernehmen, wenn sie wichtig sind.“

Weg zu einem zufriedenen Leben

Auch Hayes’ Authentizität schätzt Hofmann: „Bei ihm ist nichts vorgeschoben oder wird versteckt. Er sagt offen, wenn er etwas gut findet, aber auch wenn er etwas für Unsinn hält. Auch das schreckt vielleicht manche ab. Gleichzeitig hat er keine Schwierigkeiten, eigene Schwächen zuzugeben. Das ist ja eine Kernidee der Akzeptanz- und Commitmenttherapie: Man ändert das, was man ändern kann, und man akzeptiert das, was man nicht ändern kann. Das ist der Weg zu einem zufriedenen Leben.“

Am Ende seines TED-Vortrags spricht Steven Hayes das Publikum ganz direkt an: „Meine Botschaft an Sie: Nutzen Sie die Wissenschaft der psychologischen Flexibilität dazu, um dem Gestalt zu geben, was eigentlich jeder weiß: Sich selbst Liebe entgegenzubringen, selbst wenn es schwerfällt, hilft dabei, Liebe in die Welt zu bringen – und das ist wichtig. Sie wissen das; das weinende achtjährige Kind in Ihnen weiß das; wir alle wissen das.“ Dann brandet Applaus auf.

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Sie können diese Hefte auf unserer Website nachbestellen: psychologie-heute.de/einzelhefte

4 Bücher von Steven Hayes

Kurswechsel im Kopf. Von der Kunst anzunehmen, was ist, und innerlich frei zu werden

Das perfekte Leben gibt es nicht, erfüllt kann es dennoch sein. Anhand seiner ­eigenen Leidensgeschichte erläutert Hayes, wie wir ungebetene Elemente unseres Lebens akzeptieren lernen. Eine gute Einführung in die sechs ACT-Prozesse: kognitive Defusion, Selbst als Kontext, Akzeptanz, Präsenz, Werte und schließlich Commitment. Beltz.

Akzeptanz- & Commitment-Therapie. Achtsamkeitsbasierte Veränderungen in Theorie und Praxis (zusammen mit Kirk Strosahl und Kelly Wilson).

Anschaulich erläutern die Autoren, wie man das Modell der psychischen Flexibilität und seine sechs Schlüsselprozesse auf eine ganze Bandbreite psychischer Störungen anwenden kann. Überarbeitete Neuauflage des ersten Grundlagenwerks zur ACT. Junfermann

Get Out of Your Mind and Into Your Life. The New Acceptance and Commitment Therapy ­(zusammen mit Spencer Smith). Ratgeber mit ­einem Fünf-Schritte-Plan für den Umgang mit Angst, Depressionen und anderen Problemen. Hayes lehrt ­Akzeptanz- und Achtsamkeitstechniken, um sich schrittweise auf schmerzhafte ­Gedanken und Gefühle ­einzulassen, und erläutert Verhaltensstrategien, um ­wichtige Ziele zu erreichen. New Harbinger.

Environmental Problems/Behavioral Solutions ­(zusammen mit John Cone).

In diesem früher Werk der Umweltpsychologie untersuchen Cone und Hayes die Beziehung zwischen physischer Umwelt und menschlichem Verhalten. Cambridge University Press.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2022: Was treibt mich an?