Die Situation war bereits aufgeladen, als der junge Psychotherapeut in Ausbildung dazukam. Frederick Mayer (Name geändert) konnte nur mitansehen, wie eine seiner Patientinnen im Gemeinschaftsraum einer psychiatrischen Station Stühle umherwarf. Sie war laut, aufgebracht, wütend – so wie sich viele Menschen Patientinnen in der Psychiatrie vorstellen –, aber auch vor allem hilflos. Ebenso wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Moment auf Station. Zwei Pfleger näherten sich ihr schließlich und…
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Pfleger näherten sich ihr schließlich und begleiteten sie, an den Armen gehalten, in ihr Zimmer in der Psychiatrie.
Dort hielten ein Pfleger und der angehende Psychotherapeut Mayer sie mit den Händen fest. „Lassen Sie mich los!“, schrie die Frau. Mayer fragte, so ruhig er konnte: „Wenn wir Sie loslassen, werden Sie dann nichts mehr werfen und in Ihrem Raum bleiben?“ Sie antwortete: „Nein!“ Der Dialog wiederholte sich noch ein paar Mal, bis der Stationsarzt beschloss, die Frau mit Gurten an ihrem Bett festzuschnallen. Fixierung ist eine Zwangsmaßnahme und eine maximale Eskalation im Rahmen einer stationären Behandlung. Frederick Mayer würde heute vieles anders machen.
Ans Bett gefesselt, allein in einen leeren Raum gesperrt, eine Beruhigungsspritze gegen den Willen verabreicht: Diese Mittel sollen Patientinnen und Patienten in akuten Krisen davor bewahren, sich selbst oder ihrem Umfeld Gewalt anzutun. Doch sie sind auch ein massiver Eingriff in die Grundrechte der Erkrankten und werden von vielen Betroffenen als traumatisch erlebt. In einem Bericht des Deutschen Ethikrates von 2019 beschrieben mehrere die Mittel gar als „Folter“.
Der Eskalation vorbeugen
Zwangsmaßnahmen sind in Deutschland legal. Menschen können gegen ihren Willen in eine Psychiatrie eingewiesen und dort festgehalten werden, allerdings nur, wenn akute Gefahr für ihre Sicherheit oder die anderer Menschen besteht. Eine Richterin oder ein Richter muss der Einweisung zustimmen; das geschieht in Deutschland etwa 130000-mal pro Jahr. Kommt es dann in der Klinik dazu, dass eine Patientin oder ein Patient das eigene Wohl oder das anderer gefährdet, können Ärztinnen und Pflegekräfte die Person an ein Bett fesseln, in einen nahezu leeren Isolationsraum sperren oder ihr ein Medikament verabreichen, ohne dass sie dem zustimmen muss. Es gibt keine validen Statistiken, wie oft es dazu kommt.
Psychiaterinnen und Psychiater betonen: Solche Methoden sollten die Ultima Ratio sein – das war nicht immer so. Erst Mitte der 1970er Jahre stellte eine Psychiatriereform die Rechte und die Menschenwürde der Erkrankten in den Fokus, psychiatrische Kliniken wurden von Verwahranstalten zu versorgenden Einrichtungen (siehe Kasten Seite 77). Heute sollen Klinikangestellte immer alle alternativen Möglichkeiten ausschöpfen, um zu vermeiden, dass ein Mensch festgegurtet oder isoliert wird. Dazu verpflichten nunmehr auch mehrere Urteile am Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht. Sie sprachen strengere Regeln aus. 2018 legte auch eine wissenschaftliche Behandlungsleitlinie den Fokus darauf, wie aufgezwungene Maßnahmen in den Kliniken verhindert werden können. Daran beteiligt waren 22 medizinische und Betroffenenverbände. Die Leitlinie zeigt auf, was getan werden kann, um einer Eskalation in der Psychiatrie vorzubeugen.
In den Köpfen des Personals
Tilman Steinert von der Universität Ulm hat die Leitlinie federführend mitgestaltet. Jüngst hat er in einer Studie zusammen mit Kolleginnen und Kollegen untersucht, ob die neue Leitlinie den Alltag in Psychiatrien in Baden-Württemberg verändert hat. Das Ergebnis: Zumindest bei einzelnen Patientengruppen ging die Zahl der Zwangsmaßnahmen in den Jahren zwischen 2004 und 2019 deutlich zurück. Gleichzeitig wurden die Zwangsmaßnahmen, die angewendet wurden, schneller beendet.
Doch es scheint neben der Rechtsprechung und Leitlinien noch einen weiteren wichtigen Hebel zu geben, der umgestellt werden muss, und der sitzt in den Köpfen des Personals. In Vorträgen, auf Symposien und Fortbildungen fordern immer mehr Fachkundige aus Pflege, Medizin und Psychotherapie, die Erkrankten weniger zu bevormunden und sich mehr dem Menschen hinter der Diagnose zuzuwenden. Projekte, die sich das zur Aufgabe gemacht haben, setzen – wie auch die Leitlinie – viele Schritte vor der eigentlichen Eskalation an. Sie schauen: In welchen Momenten entsteht bei Patienten Frust, Wut oder Aggression? Und wie können Klinikmitarbeitende dann verhindern, dass eine Situation aus dem Ruder läuft?
Tania Lincoln, Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Hamburg, hat gemeinsam mit dem Psychotherapeuten Kolja Heumann sogenannte „mildere Mittel“ untersucht. Gemeinsam haben sie 2019 einen Forschungsbericht dazu vorgelegt, welche Wege Kliniken gehen können, um eine aufgeheizte Situation zu beruhigen und damit Zwangsmaßnahme zu umgehen – und welche Methoden sich Patientinnen und Patienten wünschen. Heumann und Lincoln legten sowohl Pflegekräften als auch den zu Behandelnden eine Liste mit 25 Optionen vor, die in mehreren wissenschaftlichen Leitlinien und der internationalen Forschung als sinnvolle und wirksame Methoden gelten, um Aggression abzumildern oder ihr vorzubeugen.
Was sich die Patienten von diesen Alternativen am ehesten wünschen, wirkt bodenständig: ein Gespräch von Mensch zu Mensch; dass ihre Bedürfnisse erfragt werden; dass ihnen aufrichtiges Interesse entgegengebracht wird. So lauten die drei Topantworten von rund 150 Psychiatrieerfahrenen. Manche konnten sich auch vorstellen, dass ein Spaziergang an der frischen Luft ihnen in einer aufgeheizten Situation guttäte. Andere würden im Krisenmodus lieber gemeinsam mit einem Pfleger oder einer Ärztin eine Zigarette rauchen oder einen Kaffee trinken. Einige wollten nur Zeit für sich, um sich zu beruhigen.
Milde Alternativen
Tatsächlich kommen die milderen Mittel bislang noch nicht ausreichend zum Einsatz, zumindest berichten das die von Heumann und Lincoln befragten Patientinnen. Erkundigt man sich, was ihnen in einer Krise am häufigsten entgegengebracht wurde, sagen sie, es war der Versuch, sie zu Arzneimitteln zu überreden. „Befragt man Betroffene, dann sagen sie, dass genau das ein häufiger Grund dafür ist, dass eine angespannte Lage überhaupt erst eskaliert.“ Ähnlich oft, wie Psychopharmaka angeboten wurden, wurden den Erkrankten die Verhaltensregeln auf der Station und die rechtliche Lage erklärt – und manchmal im gleichen Atemzug Zwangsmaßnahmen angedroht, wenn sie sich nicht beruhigten.
Die mehr als 230 Pflegekräfte von psychiatrischen Stationen, die Heumann und Lincoln ebenfalls befragt haben, sehen die Lage anders als ihre Patientinnen und Patienten: Sie gaben an, in brenzligen Situationen durchaus Interesse zu bekunden, Verständnis zu zeigen oder den Betroffenen Zeit zu geben. Im Schnitt hätten sie acht verschiedene mildere Mittel ausprobiert, bevor sie Zwang anwandten. Die Schere zwischen den beiden Sichtweisen könnte größer nicht sein.
„Offensichtlich kommen die Angebote nicht bei den Patienten an“, resümiert Tania Lincoln. Sie glaubt, dass das an der Atmosphäre liegt, die in vielen Psychiatrien vorherrsche. „Nehmen sich die Pflegekräfte Zeit für die Patientin oder haben sie schon im übertragenen Sinne die Spritze in der Hand, während sie Alternativen anbieten?“ Klar sei: Die Mehrheit der Kliniken ist auf Medikamente ausgerichtet, und Betten mit Gurten sind noch immer sehr präsent. „In einer solchen Umgebung ist es für Erkrankte schwer, Hilfsangebote ernst und anzunehmen“, so Lincoln.
Ihr Kollege Heumann weiß aus Erfahrung: Im Alltag gehen sorgsam erdachte Alternativen mitunter schnell verloren. Auch er hat schon Situationen erlebt, in denen Patientinnen oder Patienten fixiert wurden. Von einem Mal weiß er noch genau: „In meinem Kopf war in diesem Moment eine große Alternativlosigkeit, obwohl ich bereits begonnen hatte, mich mit milderen Mitteln zu beschäftigen“, sagt der Psychotherapeut. In der akuten Situation sei all das weg gewesen.
Wenn der damals angehende Psychotherapeut Frederick Mayer zurückblickt, dann fallen ihm heute zahlreiche Optionen ein, die er hätte wählen können, statt die aufgebrachte Patientin zu fixieren: „Ich hätte die Frau überhaupt mal fragen können, weshalb sie so aufgebracht ist. Ich würde mich heute auch erkundigen, ob sie jemanden sprechen oder anrufen möchte. Vielleicht hätte ich ihr auch ein Kissen zum Hineinboxen reichen können, um die Wut abzubauen, oder einfach mit ihr hinaus spazieren gehen.“
Die Zündschnur ist kurz
Die Kluft zwischen dem, was das Psychiatriepersonal wahrnimmt, und dem, was Patientinnen und Patienten erleben, sei ein Grund, weshalb Situationen eskalierten, sagt André Nienaber, Direktor der Abteilung „Pflege, Medizinisch Therapeutische Dienste und Soziale Arbeit“ sowie Mitglied der Geschäftsleitung in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. „Fragt man das Personal, wieso die Lage sich zugespitzt hat, dann verweisen sie eher auf die Symptome und das Verhalten der Erkrankten. Fragt man die Erkrankten, berichten die, dass sie sich in die Enge getrieben fühlten oder nicht wertgeschätzt.“
Den Arbeitsauftrag sieht Nienaber klar bei den Klinikmitarbeiterinnen und -mitarbeitern: „Wir sollten die Schwelle für akut Erkrankte senken und auf sie zugehen und nicht erwarten, dass die Menschen inmitten ihrer Krise mit unserem System zurechtkommen.“ Dazu brauche es mehr Mitarbeitende und eine bessere Ausstattung, etwa mit Räumen, um sich zurückziehen zu können. Es sei aber auch das gesamte Personal in den Psychiatrien, aus Pflege, Medizin, Sozialarbeit und Therapie inhaltlich gefordert. Denn die Haltung der Klinikangestellten sei entscheidend.
„Zwangsmaßnahmen“, sagt Nienaber, der gleichzeitig beim deutschen Psychiaterverband DGPPN das Referat Psychiatrische Pflege leitet, „lassen sich verhindern, indem Behandelnde und Pflegekräfte die sensiblen Punkte der Patienten kennen.“ Der Weg dorthin führt über Gespräche, Hinsehen und den Versuch, sich in die Lage der Erkrankten zu versetzen. Moderne Schulungen können dabei helfen. Sowohl Nienaber als auch Heumann sehen in dem Ansatz Safewards eine Möglichkeit, das Klima auf offenen wie geschlossenen Stationen zu verbessern. Das Programm kommt aus Großbritannien und soll „potenziellen Krisenherden aktiv vorbeugen“.
Dafür lernen Teilnehmende, genau zu analysieren, wann problematische Situationen üblicherweise entstehen und unter welchen Bedingungen sie eskalieren. „Die meisten Konflikte entbrennen am Zimmer der Pflegekräfte“, sagt Heumann. Dort gehen Patientinnen hin, wenn sie eine Frage haben, sich beschweren wollen oder es ihnen nicht gutgeht. Müssen sie dann dort warten oder lehnt ein Pfleger eine Bitte ab, kann das frustrieren. Ein Konflikt bahnt sich an. Denn die Zündschnur von Menschen in psychischen Ausnahmesituationen ist nun mal kurz.
Die ersten 24 Stunden
Safewards wirbt bei den Pflegekräften für mehr Verständnis, in welcher Lage sich die Erkrankten befinden. „Viele Patienten sind bei der Aufnahme stark deprimiert und verzweifelt über ihren Zustand, was sie aber oft hinter einer Maske aus Wut und Aggression gegenüber dem Klinikpersonal verbergen“, heißt es in dem Programm. Es gebe viele Möglichkeiten, den Patientinnen aus diesem Zustand herauszuhelfen, ihnen neue Hoffnung zu geben und vor Augen zu führen, was eine Therapie für sie tun kann. Auch dafür braucht es Gespräche, ein offenes Ohr und einfühlsame Worte.
Schon kleine Kniffe können den Blickwinkel des Personals verschieben. Ein Beispiel: „Bei jeder Übergabe zwischen zwei Schichten tauschen sich Pflegekräfte, Therapierende, Ärztinnen über Patienten aus. Das britische Projekt regt an, dabei zu jeder Patientin und jedem Patienten immer auch etwas Positives zu sagen“, so Heumann. Das lenkt den Fokus auf Stärken und Fortschritte und kann verändern, wie die Mitarbeitenden mit den Menschen, die zu ihnen kommen, umgehen.
Das Konzept scheint Erfolg zu haben: Sowohl die Mitarbeitenden als auch die Patientinnen von zwei geschlossenen Akutstationen empfanden die Stimmung und den Umgang miteinander nach Einführung von Safewards einer Untersuchung zufolge als angenehmer. Die Patienten spürten mehr Halt durch das Personal, die Mitarbeitenden fühlten sich sicherer und waren zufriedener mit ihrer Tätigkeit. Eine zweite Untersuchung legt nahe, dass die Zahl der Zwangsmaßnahmen durch das Programm zurückging und diese kürzer andauerten als zuvor.
Einen besonders wohlwollenden Blick auf Erkrankte hat die Psychiaterin Lieselotte Mahler aus Berlin zusammen mit ihren Kolleginnen geprägt. Ihr Fokus ist ab dem Moment, in dem eine Patientin neu auf Station kommt, auf diese Person eingestellt. „Etwa 80 Prozent der Fixierungen oder Isolationen finden in den ersten 24 Stunden nach einer Zwangseinweisung statt. Jemanden gegen seinen Willen in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen ist also per se ein Risikofaktor für Zwang“, sagt Mahler, die Chefärztin im Theodor-Wenzel-Werk Berlin ist und davor viele Jahre an der Berliner Universitätsmedizin Charité tätig war.
Es ist also sinnvoll, bereits an diesem Punkt die Wogen zu glätten. Mahler erklärt: „Meist herrscht bei der Aufnahme auf eine psychiatrische Station enormer Druck auf allen Seiten. Die Patientin schreit und wütet vielleicht. Die Polizei, die sie bringt, will schnell weg. Und von dem Stationsteam wird erwartet, die Situation rasch zu entschärfen.“ Was dann wichtig ist: sich trotzdem Zeit zu nehmen. Mahler fragt also erst einmal die Patientin, was aus ihrer Sicht passiert ist, dass sie jetzt hier ist, und lässt ihr Raum zu berichten. In vielen Kliniken würde das Gespräch zu Beginn nur mit der Polizei geführt. Für die Patientin eine Art Vertrauensbruch – sie wird nicht angehört.
„Wir müssen den Patientinnen und Patienten signalisieren, dass wir mit ihnen in Kontakt stehen, unsere Kommunikation an sie richten“, sagt Mahler. In ihrer Klinik solle zudem so viel Normalität wie möglich herrschen. Das Personal trägt deshalb reguläre, keine medizinische Berufskleidung. Die Patienten werden normal angesprochen und begrüßt. Sie erhalten einen Schlüsselchip für ihr Zimmer, damit sie sich in ihren Raum zurückziehen können, wenn sie das möchten.
Freundlichkeit als Intervention
Lieselotte Mahler hat 2014 mit Kolleginnen das preisgekrönte Weddinger Modell entworfen, benannt nach dem Stadtbezirk in Berlin. Zahlreiche Einrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sie und ihr Kolleginnenteam seitdem beraten und bei der Einführung des Modells begleitet. Seminare dazu haben großen Zulauf, und die Präsidentin des Psychiatrieweltverbandes hat es kürzlich offiziell anerkannt. Zwangsmaßnahmen kommen in den Einrichtungen von Mahler deutlich seltener vor. Und auch Studien bestätigen: In Kliniken, die das Weddinger Modell anwenden, fixieren die Angestellten deutlich seltener Patienten, und die Isolationen sind kürzer.
Das Modell aus Berlin steht symbolisch für das Umdenken, das bereits jetzt mancherorts stattfindet. Die Patienten stehen mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen im Vordergrund. Der Schwerpunkt verschiebt sich zunehmend von Medikamenten und Zwang zu mehr Gesprächen und Offenheit, mehr Miteinander auf Augenhöhe.
„Vielleicht ist ja Freundlichkeit schon eine gute therapeutische Intervention?“, sagt die Buchautorin Janine Berg-Peer, deren Tochter mehrfach wegen einer bipolaren Störung in stationärer Behandlung war. Als die Tochter das erste Mal in eine Klinik kam, in der Ärztinnen und Pfleger sie in einem freundlichen Ton begrüßten, sei sie viel ruhiger und entspannter gewesen, erzählt Berg-Peer. „Die Patientinnen und Patienten wurden wie mündige Menschen behandelt und nicht wie ungezogene Kinder, die man durch Zuschließen oder Zwang bestrafen muss.“ Auch ihre Tochter habe den Profis des Klinikums für die gute Behandlung und die zugewandte Stimmung gedankt. Beide hatten schon ganz andere Erfahrungen gemacht. „Es liegt zum größten Teil an der Psychiatrie und den dort handelnden Personen selbst, ob Patienten mit Wut herausgehen – oder ob sie die Klinik als einen Ort empfunden haben, an dem ihnen geholfen wurde.“
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Weg vom Zwang
1975 Eine vom Bundestag eingesetzte 200-köpfige Expertenkommission untersuchte 1971 die Situation in psychiatrischen Anstalten. Ihr Urteil war vernichtend, von menschenunwürdigen Zuständen war die Rede. Sie legte 1975 die sogenannte Psychiatrie-Enquete vor, Leitlinien für eine grundlegende Reform der psychiatrischen Behandlung in Krankenhäusern
2009 Deutschland ratifiziert die UN-Behinderten-rechtskonvention, die Zwangsmaßnahmen in Zweifel zieht. Seither wird darüber debattiert, ob Fixierung, Isolation und Zwangsmedikation gegen die Konvention verstoßen
2012 In einem Urteil von 2012 setzt der Bundesgerichtshof höhere Hürden für Zwangsbehandlungen. Demnach dürfen Zwangsmedikation oder andere Zwangsbehandlungen nur noch dann gegen den Willen der Patientinnen und Patienten vorgenommen werden, wenn eine richterliche Genehmigung oder ein Notstand vorliegt
2018 Eine Fixierung greift in das Grundrecht einer Person auf Freiheit ein, beschloss 2018 das Bundesverfassungsgericht. Es urteilte, dass Fixierungen einer richterlichen Genehmigung bedürfen, wenn sie länger als 30 Minuten dauern, und dass die fixierte Person durchgehend eins zu eins betreut werden muss
2018 Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde gibt im Sommer 2018 eine S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang heraus, an der weitere 21 medizinische und Betroffenenverbände mitgearbeitet haben
Zum Weiterlesen
Deutscher Ethikrat: Hilfe durch Zwang? Bericht über die öffentliche Befragung des Deutschen Ethikrates. Deutscher Ethikrat, Berlin 2019. Abrufbar unter ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Studien/befragung-hilfe-durch-zwang.pdf
Lieselotte Mahler u.a.: Das Weddinger Modell. Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext. Psychiatrie, Köln 2014
André Nienaber, Lars Alsbach: Drei Jahre weniger Zwang. Psychosoziale Umschau, 36/2, 2021, 33–34
Quellen
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Klara Czernin u.a.: Auswirkungen der Etablierung des psychiatrischen Behandlungskonzepts „Weddinger Modell“ auf mechanische Zwangsmaßnahmen. Psychiatrische Praxis, 47/05, 2020, 242-248. DOI: 10.1055/a-1116-0720
Deutscher Ethikrat: Hilfe durch Zwang? Bericht über die öffentliche Befragung des Deutschen Ethikrates. Deutscher Ethikrat, Berlin 2019. Abrufbar unter https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Studien/befragung-hilfe-durch-zwang.pdf
Erich Flammer u.a.: Effects oft he introduction of mandatory court decisions in 2018 on the use of coercive measures in psychiatric hospitals in Germany. The Lancet, preprint, 2021. DOI: 10.2139/ssrn.3786710
Kolja Heumann u.a.: Wählen wir die richtigen Mittel zur Zwangsvermeidung? Eine Befragung von psychiatrischen PatientInnen mit Zwangserfahrung zur potenziellen Nützlichkeit Milderer Mittel. Psychiatrische Praxis, 2021. DOI: 10.1055/a-1347-5184
Dorothea Jäckel u.a.: Veränderungen des Stationsklimas und der Arbeitszufriedenheit nach Einführung des Safewards-Modells auf zwei geschützten Stationen – eine multiperspektivische Evaluation. Psychiatrische Praxis, 46/07, 2019, 369-375. DOI: 10.1055/a-0945-3599
Tania Lincoln u.a.: Teilprojekt 6: Alternativen zum Zwang – Befragung von Mitarbeitern, Betroffenen und Angehörigen. Abrufbar unter: https://www.bag-gpv.de/fileadmin/downloads/Teilprojekt_6_Projektbericht_UKE_UHH_Alternativen_final.pdf
Lieselotte Mahler u.a.: Das Weddinger Modell. Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext. Psychiatrie Verlag, Köln 2014
Lieselotte Mahler: Weddinger Modell: Individualisierung von Krankheits- und Genesungskonzepten (auch) in der akuten Behandlung. Vortrag, 2012.
André Nienaber und Lars Alsbach: Drei Jahre weniger Zwang. Psychosoziale Umschau, 36/2, 2021, 33-34
Fachhochschule der Diakonie Lehrstuhl Psychiatrische Pflege: Safewards. Internetauftritt unter www.safewards.net
Tilman Steinert u.a.: Reduction of coercive measures under routine conditions in psychiatric hospitals 2004-2019: Strong effects in old age Ppsychiatry, much less in general psychiatry. European Psychiatry, 63/1, e102, 2020, 1-7. DOI: 10.1192/j.eurpsy.2020.104
In welchen Momenten entsteht bei den Patienten Frust, Wut oder Aggression?
Die drei größten Wünsche: ein Gespräch von Mensch zu Mensch, nach Bedürfnissen gefragt werden, aufrichtiges Interesse spüren