Frau Dr. von Lersner, Sie beschäftigen sich seit zehn Jahren mit Flüchtlingen, die an psychischen Beeinträchtigungen leiden. Was ist das Wichtigste, das Sie dabei gelernt haben?
Dass nichts unmöglich ist auf dieser Welt, was Menschen einander antun. Meine ersten Berufsjahre habe ich mit Therapien von Folteropfern verbracht. In der Zeit hat sich mein Weltbild verändert, verbunden mit einer großen Dankbarkeit dafür, da zu leben, wo ich lebe. Es hat sich aber auch ein Anspruch ergeben: Wir haben diese…
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zu leben, wo ich lebe. Es hat sich aber auch ein Anspruch ergeben: Wir haben diese Privilegien, und ich möchte mich mit dem Einfluss, den ich habe, engagieren, weiter Flüchtlinge behandeln und für Behandlungsoptionen sorgen. Inhaltlich ist das Wichtigste, den Respekt vor diesen Menschen zu behalten. Ein Flüchtling ist in seiner momentanen Situation ein Flüchtling, aber dahinter steckt ein Mensch mit einer Biografie. Man sollte immer das Individuum im Blick haben und hinter die Migrationsgeschichte schauen.
Viele Therapeuten werden, wenn sie das erste Mal mit Flüchtlingen arbeiten, mit Dingen konfrontiert, die sie in dieser Heftigkeit vorher nicht erfahren haben.
Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum viele so zurückhaltend sind. Da ist zum einen die Unwissenheit, weil die Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten in der Ausbildung einfach kein Thema ist. Und das andere ist die Angst vor dem, was auf einen zukommt. Ich kann nur sagen: Ja, Flüchtlinge haben Schreckliches erlebt, aber auch das, was ich in der Psychotherapie mit deutschen Patienten erfahren habe, hat mein Bild von unserer Gesellschaft sehr verändert. Das ist – ohne herunterspielen zu wollen, was Flüchtlinge berichten – schon auch Teil des Berufs.
Was sind die häufigsten Störungsbilder? Ist das anders als bei deutschen Patienten?
Nein, das ist mehr oder weniger das Gleiche. Das meine ich, wenn ich sage: Wir behandeln keine Flüchtlinge, sondern Menschen. Flüchtlinge haben zwar mehr traumatische Erfahrungen gemacht, das heißt aber nicht gleich, dass sie traumatisiert sind im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das betrifft höchstens ein Drittel. Was wir ganz viel erleben bei Menschen, die eine Weile hier sind, sind Depressionen – und Substanzmissbrauch, Alkoholsucht, Drogen, was ich so nicht erwartet hätte bei muslimischen Patienten. Auch das entwickelt sich aufgrund der Lebenssituation meist erst hier.
Was schätzen Sie: Wie viele Flüchtlinge bekommen überhaupt die Hilfe, die sie benötigen?
20, 30 Prozent vielleicht. Es gibt viele, die gar nicht erst anfragen, weil sie von den Angeboten nichts wissen. Andere erhalten keinen Platz.
Wie oft kommen falsche Diagnosen aufgrund kultureller Unterschiede vor?
Relativ häufig – in verschiedene Richtungen: Entweder wird etwas übersehen, oder es wird falsch eingeordnet. Die Leute gehen häufig zum Hausarzt oder in die Notaufnahme, sie wissen nichts von Psychotherapeuten oder denken wirklich, sie haben etwas Körperliches, und kriegen dann Schmerztabletten oder andere Medikamente. Und dann ist da noch das Thema Fehlinterpretation bei Psychosen. Wenn jemand zum Beispiel sagt, er sei verhext. Ich hatte mal einen Patienten aus dem Kongo, der sich von Wichteln verfolgt fühlte (siehe unten). So jemandem kann man Neuroleptika geben – oder man versucht herauszufinden, ob die Wichtel für etwas anderes stehen, und sucht mit ihm einen Weg da raus.
Schildern Sie mir doch mal ein typisches Problem bei der Therapie von Patienten mit Migrationshintergrund.
Ein klassischer Fall, der in der Supervision oft vorkommt, ist, dass jemand die ganze Familie mitbringt, und der Therapeut sagt, ich lasse die anderen nicht herein, ich habe die Behandlung zu zweit gelernt und möchte das auch weiter so machen. Das zerstört ganz früh ganz viel in der Beziehung zum Patienten.
Auch Ethnozentrismus ist ein großes Problem. Viele weibliche Therapeuten in Deutschland fühlen sich bei einer muslimischen Frau, die dazu noch Kopftuch trägt, in ihrem Emanzipationswillen angestachelt und wollen die Patientin aus ihrem „Käfig“ herausholen. Dabei kommt die Frau mit Depressionen, einer Angststörung oder was auch immer, es gibt also einen klaren Behandlungsauftrag. Die Therapeutinnen sehen sich aber dazu berufen, ihr erst mal das fortschrittliche westliche Weltbild zu erklären. Das ist hochproblematisch, weil die Patientinnen da natürlich nicht unbedingt mitgehen, aber vielleicht auch zu höflich oder von der Therapeutin abhängig sind, um zu widersprechen. Und dann laufen die Therapien schlecht.
Haben Sie solche Erfahrungen auch gemacht?
Ja. Eine meiner ersten Patientinnen war eine Frau aus Bosnien, die vor dem Bürgerkrieg geflohen war, Vergewaltigung erlebt hatte und wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung zu mir kam.
Für mich, damals frisch von der Uni, war ein klassisches Therapieziel: Ich möchte wieder eigenständig sein, mich im weitesten Sinne selbst verwirklichen können, mein Leben in die Hand nehmen. Das ist etwas, das deutsche Patienten sehr motiviert. Die Frau aber wusste gar nicht, was das soll.
Sie war höflich, hat mitgemacht, aber irgendwie hat es nicht richtig funktioniert. Als ich in der nächsten Sitzung nachgefragt habe, was für sie ein relevantes Therapieziel wäre, war das: Ich will eine gute Mutter sein, ich will wieder funktionieren für meine Kinder und für meinen Ehemann – der übrigens gar nicht wusste, dass sie in Therapie war und eine Vergewaltigung erlebt hatte. Als wir uns darauf eingelassen haben, lief die Behandlung plötzlich super.
Das kann Therapeuten aber auch mit anderen Patienten passieren.
Natürlich. Es gibt Autoren, die sagen: Eigentlich ist jede Therapie eine interkulturelle Begegnung. Und das sehe ich auch so. Letztendlich hat mir die Arbeit mit Flüchtlingen tatsächlich sehr geholfen, auch mit anderen Patienten noch besser arbeiten zu können. Wir nehmen vieles als selbstverständlich hin, dabei haben wir mit Deutschen nur zufällig eine höhere Passung – und manchmal passt es auch da nicht. Der Aspekt der Selbstreflexion spielt eine große Rolle, die Frage: Wo fängt Kultur an? Was sind meine Prägungen? Am besten wäre natürlich, wir wären hundert Prozent selbstreflektiert und würden ganz verstehen, wie wir funktionieren. Aber das kann das menschliche Gehirn nicht. Wir müssen Informationen nun mal bündeln und handeln häufig automatisiert.
Die interkulturelle Arbeit verlangt immer auch, dass der Therapeut sich mit der Kultur des jeweiligen Landes beschäftigt oder Informationen dazu zumindest erfragt. Richtig?
Genau. Aber man muss fremde Kulturen nicht in- und auswendig kennen. Das würde jeden überfordern. Und ich recherchiere ja auch nicht zu Sitten und Gebräuchen in Bayern oder Brandenburg, wenn ein Patient von dort zu mir kommt. Sinnvoll ist aber – und das ist anders als in der normalen Therapie –, viel mehr nachzufragen.
Von Uniseite her denken wir immer, wir müssen wissen, wo’s langgeht, und das auch demonstrieren. Für Therapeuten ist es eine Herausforderung, in diesem interkulturellen Kontext zu sagen: Ich gebe zu, dass ich Dinge nicht weiß, und halte das aus. Das heißt aber nicht, dass ich als inkompetent wahrgenommen werde. Die Patienten honorieren eigentlich, wenn man einfach fragt, wie etwas bei ihnen läuft.
In welcher Sprache verständigen Sie sich in der Therapie?
Die, die zu uns in die Praxis kommen, sprechen Deutsch, Englisch oder Spanisch. Das ist eine Grundvoraussetzung. Es muss aber kein perfektes Englisch sein. Wir haben in letzter Zeit oft afrikanische Patienten gehabt, die sprachen okay, und das war immer noch besser als mit Dolmetscher. Ich bin sehr für die Arbeit mit Dolmetschern, aber das ist wieder komplizierter mit der Finanzierung und Beantragung. Und dieses unmittelbare Arbeiten mit dem Patienten ist doch sehr vorteilhaft.
Worauf sollten Therapeuten und andere, die mit Flüchtlingen arbeiten, noch achten?
Es ist sehr wichtig, gute Supervisionsstrukturen zu haben. Das merke ich gerade sehr deutlich bei der Betreuung von Flüchtlingshelfern in Berlin, die oft Ehrenamtliche, also eigentlich Laien sind. Und die leiden gerade massenweise an Burnoutsymptomen. Wir haben vom Lehrstuhl aus ein kostenloses Supervisionsangebot für diese Menschen geschaffen und bieten Informationsveranstaltungen an. Das hilft enorm, und es ist gar nicht so aufwendig.
Was sind dabei die Hauptfragen?
Beim Thema Trauma herrscht eine große Verunsicherung: Woran erkenne ich ein Trauma, wie verhalte ich mich da – die Berührungsängste sind groß, gepaart mit dem Problem, dass wir kaum Behandlungskapazitäten haben. Selbst wenn die Leute ein Trauma erkennen, wissen sie ja gar nicht, wohin sie die Person schicken könnten.
Das klingt frustrierend.
Ja, und das ist vielleicht sogar das zentrale Thema in der Beratung. Es geht immer wieder um die eigene Rolle: Was kannst du bewegen, was kannst du nicht bewegen? Du hörst Schreckliches, du bist aber nicht daran schuld. Sich abgrenzen können fällt vielen schwer. Und das System als solches ist ein Problem. Die Flüchtlinge bekommen vielfach keine Wohnungen, es gibt Rassismus auf der Straße, die Behörden sind nicht unbedingt hilfreich. Das frustriert auch die Betreuer. Zudem gibt es zunehmend Aggressionen vonseiten der Geflüchteten, die nicht verstehen, dass ihre Ansprechpartner auch nichts tun können. Wir gucken also, welchen Spielraum jemand hat und wie er ihn so gut wie möglich nutzen kann, um seine Arbeit gut zu machen. Es hilft aber auch nichts, jeden Tag nach Hause zu gehen und frustriert zu sein, dass man die Welt wieder nicht gerettet hat. Das ist einfach nicht möglich.
Ich kann mir vorstellen, dass auch die Erwartungen der Helfer ein Problem sein können.
Wir fangen gerade erst an, die Motive genauer zu untersuchen. Aus meinen Gesprächen sehe ich aber, dass das tatsächlich ein relevanter Aspekt ist. Es gibt manche, die sagen: „Ich lebe in einer Gesellschaft, in der ich viel bekommen habe, ich bin privilegiert und möchte etwas zurückgeben.“ Aber es gibt auch gar nicht so wenige, die da selbst etwas herausziehen oder sich etwas erhoffen wie: „Ich will ein guter Mensch sein. Ich tue Gutes, damit mich das selbst aufwertet.“ Und ich habe auch schon von Leuten gehört, die, als die Flüchtlinge ihre Dankbarkeit nicht so gezeigt haben, wie sie es sich erhofft hatten, zur AfD hinübergeschwenkt sind.
Nimmt die Bereitschaft von Therapeuten, Flüchtlinge zu behandeln, vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Debatte eigentlich zu?
Auf jeden Fall. Viele gehen mittlerweile in die Heime und bieten Therapien und Supervision an. Auch zu den Fortbildungen haben wir mehr Anmeldungen. Es gibt, glaube ich, ganz pragmatisch allmählich ein Bewusstsein, die Erkenntnis, dass die Gesellschaft sich verändert und man sich darauf einstellen muss. Schon jetzt haben 30 Prozent der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Wenn es zwei Drittel werden – was bald der Fall sein wird –, kann ich mir als Therapeut nicht nur die Deutschen herauspicken.
Wie reagieren die Therapeutenkammern und Ausbildungsinstitute auf den Bedarf?
Die Kammern sind aus meiner Sicht relativ offen und engagiert. In den Ausbildungsinstituten biete ich selbst seit 2009 Kurse an und bemerke einen Wandel.
Die Institute in Berlin zum Beispiel haben inzwischen alle ein entsprechendes Modul, im Schnitt fünf Stunden. Das ist immer noch dünn und auch nicht verpflichtend. Aber viele Ausbildungsleiter sagen von sich aus, dass ihre Kandidaten dazu etwas hören sollen.
Worauf sollte man in der Ausbildung achten?
Sich bewusstzumachen, wie man anderen automatisiert Annahmen überstülpt und damit den Prozess in eine nicht hilfreiche Richtung lenkt. Und man sollte den Behandlern vermitteln: Ich kann als Therapeut nicht sagen, so ist Psychotherapie, entweder du fügst dich ein, oder du kannst gehen. Man muss bei manchen Patienten Anpassungen vornehmen, und das ist auch okay.
Da scheint große Unsicherheit zu herrschen: Man lernt bestimmte Werkzeuge für ein bestimmtes Setting, und dann soll man das, was der Arbeit einen Rahmen gibt, aufgeben?
Man muss es ja nicht ganz aufgeben. Und ich finde auch wichtig, dass wir zu uns stehen und sagen: Wir sind Verhaltenstherapeuten in Deutschland. Das heißt, wir arbeiten in der Regel zu zweit, wir machen keine Handauflegungen und verteilen keine Amulette, sondern bieten Expositionstherapie oder kognitive Umstrukturierung an oder was auch immer gerade notwendig ist. Das ist das, was wir gelernt haben. Und wenn ein Klient kommt und sagt, mir hilft der Heiler aber besser, dann sage ich: Das ist toll. Dann geh doch am besten da hin.
Wir müssen ja nicht die ganze Welt mit unserem Verfahren beglücken. Aber wenn jemand zu uns kommt, dann ist das unser Angebot, und als Einstieg müssen wir den Menschen manchmal eine Brücke bauen. Wenn die ganze Verwandtschaft mitkommen will zum Beispiel, gucken wir erstmal, warum sie da ist, was alle für Erwartungen haben und was ich davon erfüllen kann oder nicht. Das muss ich klarstellen, und dann können die Patienten entscheiden, ob sie wiederkommen. Diese Brücke sollte ich bauen, finde ich. Und danach ist es Therapie, wie wir sie auch sonst machen.
Wie kommen die Flüchtlinge überhaupt zu Ihnen?
In der Regel über Flüchtlingshilfsvereine. Dass ein Flüchtling bei uns klingelt und sagt, ich brauche Therapie, kommt eigentlich nicht vor. Aber ich habe nicht wenige Migranten, die schon etwas besser integriert sind und sich im Versorgungssystem gut auskennen, die speziell mich anfragen. Das passiert relativ oft.
Sie selbst sind Verhaltenstherapeutin und sprechen deshalb vor allem von der Verhaltenstherapie. Sind bestimmte Therapieverfahren geeigneter für die Arbeit mit Flüchtlingen, also kulturfreier als andere?
Ich plädiere dafür, gerade im interkulturellen Bereich viel mehr noch einen Mix anzustreben: Der Strauß an Patienten ist bunt, also sollten auch die Methoden vielfältig sein. Bei Patienten aus kollektivistischen Kulturen kann zum Beispiel die systemische Therapie sehr helfen, also ist es sinnvoll, da systemisch zu arbeiten. Je mehr wir im Gepäck haben, desto besser.
Warum spielt Kultur bei der Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen immer eine Rolle?
Weil eine Diagnose immer eingebettet ist in den Lebenskontext einer Person. Ein Symptom allein erklärt noch fast nichts. Tritt etwas wie Kopfschmerzen oder Niedergeschlagenheit auf, kann das so viele Ursachen und Bedeutungen haben, dass wir es eigentlich nur verstehen, wenn wir die Umstände miterfragen.
Das ist vielleicht der Hauptunterschied in dieser Kulturdebatte: Wenn wir deutsche Patienten haben, erheben wir diesen Kontext nicht unbedingt mit, weil wir automatisch davon ausgehen, dass er mit unserem übereinstimmt. Im interkulturellen Setting müssen wir immer zusätzlich fragen: Was bedeutet das für dich? Die kulturelle Identität ist sehr wichtig. Auch jemand, der seit 30 Jahren hier lebt, kann sich als Pole sehen, obwohl er nur fünf Jahre dort verbracht hat.
Haben Sie das schon häufiger erlebt?
Mehrfach, mit polnischen Frauen, die als Kinder nach Deutschland gekommen sind, sich als sehr deutsch erleben und auf mich auch erstmal so wirkten. Letztlich hatten sie aber doch ein kollektivistischeres Grundgefühl und fühlten sich auch deshalb einsam hier. Und auch die katholische Grundordnung spielte noch eine Rolle, selbst wenn sie nicht streng katholisch waren. Diese Dinge anzuerkennen, stolz darauf zu sein, sie zu leben kann schon viel lösen. Wie ein blinder Fleck, den ich plötzlich sehe und mit dem ich dann bewusst umgehen kann.
Das ist noch einmal ein ganz anderes Behandlungsfeld.
Ja. Ich sage bei Patienten mit Migrationshintergrund immer: Selbst wenn sie vordergründig nicht mit einem Problem kommen, das mit ihrer Herkunft zu tun hat, und sehr integriert wirken – haben Sie das Thema als Therapeut im Blick. Migration ist ein einschneidendes Lebensereignis, das hinterlässt Spuren. Oft wird das gut kompensiert, aber gerade bei Depressionen, Angststörungen, Sucht oder weswegen auch immer die Patienten sich melden: Es spielt eine Rolle.
Fallbeispiel: Bedroht durch Wichtel
Ein 46-jähriger Kongolese soll auf Anraten seines Arztes wegen einer Schizophrenie behandelt werden. Der Patient berichtet von Wichteln, die nachts um sein Bett laufen – er fühlt sich bedroht und verflucht: „Ich bin im Unreinen mit den Ahnen.“
Er schildert, dass sein Vater, ein Medizinmann, ihm aufgetragen habe, sich zum Wohle seines Landes einzusetzen. Das habe er im Kongo während des Studiums und Tätigkeiten in einer Bank und für die Regierung auch getan – bis er inhaftiert und gefoltert wurde. Der Patient ist froh, nun in Sicherheit zu sein. Er leidet aber darunter, das Versprechen, das er dem Vater gab, nicht halten zu können. Wenn er das täte, so sein Glaube, wäre er die Wichtel los.
Die Testdiagnostik ergibt, dass der Mann nicht an einer Schizophrenie leidet, es liegen eine posttraumatische Belastungsstörung und eine mittelgradige depressive Episode vor. Im Verlauf der Behandlung ergründen Therapeut und Patient die Möglichkeiten, dem Willen des Vaters auch fern der Heimat zu genügen. Der Mann entwickelt die Idee, eine Organisation für Exilkongolesen zu gründen, die sich für die Demokratisierung des Kongo einsetzt – was ihm auch gelingt. Die Wichtel bleiben daraufhin weg, die depressive Symptomatik bessert sich, und auch die posttraumatische Belas-tungsstörung kann erfolgreich bearbeitet werden.
Aus: Ulrike von Lersner, Jan Ilhan Kizilhan: Kultursensitive Psychotherapie. Hogrefe, Göttingen 2017 (gekürzte Fassung)
Narrative Expositionstherapie
Ulrike von Lersner und die Kollegen in der Praxis behandeln Flüchtlinge häufig im Rahmen der narrativen Expositionstherapie. Dabei erzählt der Patient anhand eines Seiles auf dem Boden, seiner „Lebenslinie“, seine Biografie nach. Zeitpunkte, zu denen ihm etwas Schönes passiert ist, markiert er mit einer Blume, Negatives mit einem Stein.
Traumatische Gedächtnisinhalte gliedere man so an die richtige Stelle im Leben ein, sagt Ulrike von Lersner. Häufig fehle bei Traumata diese Verankerung. „Die Emotion oder das Erlebnis schwirrt frei im Raum herum, und es fühlt sich immer wieder an, als würde ich es jetzt erleben.“ Indem man Ereignis für Ereignis nachvollziehe und traumatische Geschehnisse „fast sekundengenau“ mit allen Gefühlen und Gedanken durchgehe, integriere man sie in das autobiografische Gedächtnis. Die Konfrontation mit dem Erlebten und die gleichzeitige Vergewisserung, nicht mehr in der Situation zu sein, erleichtere die Verarbeitung und führe zur Besserung.
Ulrike von Lersner arbeitet am Lehrstuhl für Psychotherapie und Somatopsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2010 ist sie zudem als Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis tätig. 2015 gründete sie das Institut für Transkulturelle Psychologie Berlin
Literatur
Martin Kühn, Julia Bialek: Fremd und kein Zuhause: Traumapädagogische Arbeit mit Flüchtlingskindern. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017
Alexandra Liedl u. a. (Hrsg.): Psychotherapie mit Flüchtlingen – neue Herausforderungen, spezifische Bedürfnisse. Schattauer, Stuttgart 2017
Ulrike von Lersner, Jan Ilhan Kizilhan: Kultursensitive Psychotherapie. Hogrefe, Göttingen 2017
Ulrike Schneck: Psychosoziale Beratung und therapeutische Begleitung von traumatisierten Flüchtlingen. Psychiatrie Verlag, Köln 2017