„Neue Wörter führen uns in ein unbekanntes Territorium“

Der Psychologe Tim Lomas sammelt unübersetzbare Vokabeln aus Kulturen rund um den Globus. Ein Interview über fremde Seelenlandschaften.

Die Illustration zeigt einen afrikanischen Jungen, dahinter steht in Buchstaben sein Name Ilunga
Ilunga bedeutet vergeben zu können: ein erstes Mal, ein zweites Mal und kein drittes Mal © Bastian Preussger

Dr. Lomas, Sie befassen sich mit Begriffen aus anderen Sprachen, die kulturelle Eigenheiten des jeweiligen Landes widerspiegeln und deshalb kein Pendant in anderen Sprachen besitzen. Welches dieser unübersetzbaren Wörter ist Ihr Lieblingswort?

Einer meiner Favoriten ist zweifelsohne der japanische Begriff kintsugi. Er beschreibt eine Keramikreparatur, die mit dem Zenbuddhismus in Verbindung steht. Dabei werden die zerbrochenen Teile einer Keramik mit Goldlack zusammengesetzt. So werden ihre Fehler und…

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die zerbrochenen Teile einer Keramik mit Goldlack zusammengesetzt. So werden ihre Fehler und Verwerfungen hervorgehoben – nicht versteckt. Ein ähnlich schöner Begriff ist das japanische wabi-sabi. Er drückt aus, dass Schönheit nicht nur in neuen und makellosen Gegenständen zu finden ist, sondern auch Dingen innewohnt, die durchaus abgenutzt und älter sind.

Wie kann uns das Wissen um diese Begriffe in unserem Alltag helfen?

Kintsugi und wabi-sabi laden uns ein, eine gesunde Beziehung zu unserer Unvollkommenheit zu kultivieren. Schließlich findet jeder etwas an sich selbst, das ihm missfällt oder womöglich sein Selbstwertgefühl einschränkt. Die beiden japanischen Begriffe ermuntern uns, Unvollkommenheit nicht als einen Fehler zu betrachten, den man korrigieren muss. Vielmehr erinnern sie uns daran, dass wir Sinn und Schönheit in unseren Makeln finden können. Auf diese Weise helfen sie uns, einen positiven Umgang mit Unvollkommenheit zu pflegen. Und ein guter Umgang mit unseren Schwächen ist für ein zufriedenes Leben unverzichtbar.

Welches Wort fällt Ihnen noch ein, das unseren Alltag bereichern könnte?

Da gibt es den chinesischen Begriff wu wei. Er hat einen starken taoistischen Hintergrund. Wu wei beschreibt eine Art spontanes, müheloses und friedliches In-Harmonie-mit-der-Welt-Sein.

Was genau können wir von wu wei lernen? Was können wir grundsätzlich lernen, wenn wir uns mit unübersetzbaren Wörtern auseinandersetzen?

Sprache stellt ein sehr wertvolles Instrument für das psychische Wohlbefinden dar. Sie ermöglicht uns, unsere unmittelbaren Erfahrungen zu reflektieren und auszudrücken – und dadurch auch zu regulieren. Unübersetzbare Begriffe wiederum erweitern nicht nur das Vokabular: Sie versorgen uns mit neuer Sprache, um Erfahrungen, derer wir uns zuvor womöglich nicht einmal bewusst waren, zu artikulieren und einzuordnen. Anders gesagt: Unübersetzbare Wörter führen uns in ein unbekanntes existenzielles Territorium. Sie offenbaren neue Seiten unseres Lebens und neue Seiten des eigenen Ichs. Gerade wenn wir nicht genau wissen, was in uns vorgeht, und wir unvertraute Gefühle hegen, können unübersetzbare Begriffe helfen. Sie sind auch eine seelische Stütze, weil sie uns zeigen: Dort draußen gibt es Menschen, die sehr ähnlich empfinden wie ich und mit dieser emotionalen Situation so vertraut sind, dass sie sie in ein Wort gehüllt haben. Kurzum: Die Auseinandersetzung mit unübersetzbaren Begriffen kann unser Wohlergehen und emotionales Gleichgewicht fördern.

Wie erforschen Sie diese Wörter?

Mich interessieren unübersetzbare Begriffe zum Oberthema Wohlbefinden. Für meine Suche nach relevanten Wörtern bediene ich mich hauptsächlich akademischer Quellen und bestimmter Websites. Diese Suche führte mich bislang zu einigen hundert Begriffen. Ich analysierte und unterteilte sie in thematische Gruppen, basierend auf ihren konzeptuellen Inhalten und ihrer Ähnlichkeit. Und ich habe ein Onlinelexikon dieser unübersetzbaren Begriffe angelegt: drtimlomas.com/lexicography. Das Online­lexikon soll Wörter aus aller Welt umfassen.

Sie laden Interessierte ein, Wörter einzuschicken, um das Lexikon weiter auszubauen. Könnten wir ebenfalls mitmachen?

Ihre Leser sind herzlich eingeladen mitzumachen. In den letzten drei Jahren, seitdem ich das Online­lexikon gegründet habe, ist es auf rund 1000 Begriffe angewachsen. Aber das ist noch immer ein Bruchteil. Denn bislang liegen uns Begriffe aus nur 100 der weltweit rund 7000 Sprachen vor. Das Projekt geht im Grunde erst richtig los.

Und welche Reaktionen erhalten Sie auf Ihr lexikalisches Projekt?

Einige Menschen schreiben mir, dass ihnen das Projekt gefällt. Andere möchten die Definitionen der bereits gesammelten Wörter verbessern. Dank ihrer Hilfe taste ich mich selbst an die Feinheiten der jeweiligen Bedeutungen heran.

Welches deutsche Wort hat Ihnen mit seinen Bedeutungsfeinheiten zu schaffen gemacht?

Sie werden lachen, aber es war der Begriff Schnapsidee. Für diese dumme, unpraktische Idee, die einem kommt und auf die man sich vielleicht einlässt, wenn man betrunken ist. Viele Menschen können sich mit dem Begriff identifizieren. Ich habe ihn in die Liste aufgenommen, weil er in Beziehung zum Oberthema Wohlbefinden steht, genauer: im Zusammenhang mit Hedonismus und problematischem Genuss. Ich musste mich an die abwertende Bedeutung des Wortes herantasten.

Was sagt das Wort über die deutsche Kultur aus?

Ich hüte mich davor, anhand bestimmter Wörter Verallgemeinerungen über Kulturen oder Völker zu treffen – auch deshalb, weil meine Wortanalyse nicht erschöpfend ist. Daher kann ich nicht sicher sein, eine vollständige Übersicht über eine bestimmte Kultur erhalten zu haben. Außerdem sind Kulturen heterogen und nicht auf Verallgemeinerungen zu reduzieren. Unübersetzbare Wörter bieten uns keine Zusammenfassungen anderer Kulturen – sondern Einblicke in die verschiedenen Traditionen und Denkansätze.

Gibt es etwas, das Sie an Ihrem Onlinelexikon in seinem aktuellen Zustand auffällig finden?

Interessanterweise sind Begriffe rund um das Thema Gesundheit auffällig selten vertreten. Körperliche Gesundheit ist natürlich sehr wichtig für unser Wohlbefinden. Aus irgendeinem Grund ist die Liste jedoch relativ arm an gesundheitsbezogenen Wörtern. Ich frage mich, ob das vielleicht daran liegt, dass körperliche Gesundheit ein Stück weit universell ist – und dadurch weniger anfällig für individuelle kulturelle Einflüsse und Variationen als psychische Gesundheit. Aber gewiss gibt es unterschiedliche kulturelle Konzepte der Gesundheit. Zum Beispiel das chinesische Qi-Konzept. Es beschreibt das Phänomen „subtiler Energien“, von denen angenommen wird, dass sie das körperliche, aber auch das geistige Wohlbefinden beeinflussen. Das ist aktuell allerdings eines der wenigen unübersetzbaren Wörter zur Gesundheit.

Aus Ihrer Wörtersammlung zum Wohlbefinden haben Sie auch Begriffe zum Thema Gläubigkeit zusammengesucht. Was hat Ihre Analyse dieser Wörter ergeben?

In meiner Untersuchung der verschiedenen Glaubenstraditionen kristallisierten sich vor allem drei kulturübergreifende Gemeinsamkeiten heraus. Erstens: eine Vorstellung des Heiligen – außerhalb und manchmal auch innerhalb einer Person. Zweitens: eine Reihe kontemplativer Praktiken, die den Menschen helfen sollen, eine Erfahrung des Heiligen zu kultivieren. Und drittens eine Erfahrung der Selbsttranszendenz, in der die Menschen, wenn sie diese kontemplativen Praktiken anwenden, über ihr gewohntes Gefühl des „Ich“ hinauswachsen – und das Gefühl bekommen, am Göttlichen teilzuhaben.

Die Erfahrung des Göttlichen taucht auch in Ihrer Studie zum Fokus Liebe auf.

Ja, ich habe 609 Wörter rund um die Liebe gesammelt und in 14 Kategorien eingeteilt. Eine von ihnen ist die transzendentale Liebe. Diese Sparte umfasst unübersetzbare Wörter, die sich auf jene tiefe Zuneigung beziehen, die wir bisweilen für die Menschheit im Allgemeinen und für das Göttliche empfinden.

Mit welcher der 14 Kategorien von Liebe sollten wir uns eingehender befassen?

Wenn wir den Begriff Liebe verwenden, sprechen wir für gewöhnlich von romantischen oder familialen Bindungen. Ausgehend von der romantischen Liebe, gibt es beispielsweise die Kategorie prâgma. Sie beschreibt langfristige Bindungen zwischen Partnern, die wir eher als kameradschaftlich bezeichnen würden – beispielsweise eine langjährige Ehe. Wir denken da meistens an gescheiterte, erloschene Liebe. Aber die Kategorie prâgma spiegelt kulturelle Konzepte aus anderen Ländern wider, die diese Form der Beziehung als positiv und sehr wichtig betrachten – etwa aufgrund der Loyalität, des Vertrauens und des Halts, die diese Bindungen uns Tag um Tag schenken. Auch wenn eine solche Bindung nicht von Leidenschaft oder sexueller Anziehungskraft geprägt ist, ist sie eine äußerst wertvolle Form der Liebe und nicht zwangs­läufig der Kritik, sondern durchaus auch des Lobes und der Dankbarkeit wert.

Können die 14 Kategorien, die Sie aufgestellt haben, unser womöglich enges Verständnis von Liebe erweitern?

Sicherlich. Meine Studie zeigt zum Beispiel, dass das Empfinden der Liebe nicht auf Personen beschränkt ist. Eine der Kategorien beschreibt nämlich die Liebe für Objekte, Orte und Erlebnisse. Andere Kategorien laden wiederum dazu ein, uns der verschiedenen Arten von Bindungen zu den Menschen in unserem Umfeld bewusstzuwerden und sie wertzuschätzen.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit unübersetzbaren Begriffen?

Da war ich 19 Jahre alt und unterrichtete Englisch in China. Noch vor dem Beginn meines Studiums. Ich besuchte taoistische und buddhistische Klöster und kam in Kontakt mit Konzepten wie Tao und Nirwana. Sie verblüfften und faszinierten mich. Vermutlich gerade deshalb, weil ich für sie keine vergleichbaren Referenzpunkte in der englischen Sprache und Kultur fand.

Hatten Sie damals schon den Wunsch, sich mit ihnen zu befassen?

Nein, die Idee kam mir erst Jahre später, dank einer Konferenz zur positiven Psychologie. Das war 2015. Auf dieser Konferenz lernte ich die finnische Wissenschaftlerin Emilia Lahti kennen. Sie hielt einen Vortrag über das Konzept des sisu. Emilia Lahti beschrieb es als eine Form von außergewöhnlichem Mut und einer starken Entschlossenheit – gerade im Angesicht von Widrigkeiten. Sisu ist zentral für die finnische Identität und Kultur. Emilia Lahti meinte, dass diese Qualität zwar von den Finnen konzeptualisiert wurde – aber im Grunde etwas ist, das allen Menschen innewohnt. Vielleicht ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst sind. Nach meiner Rückkehr nach London erzählte ich dann Kollegen und Freunden von der Konferenz und auch von dem Vortrag über sisu. Während dieser Gespräche kam mir die Idee, mich mit solchen unübersetzbaren Begriffen auseinanderzusetzen.

Sie hoffen, mit Ihren Studien nicht nur das Wohlbefinden des Einzelnen, sondern auch den Forschungszweig der Psychologie zu fördern. Was genau möchten Sie erreichen?

Das Gebiet der Psychologie ist sehr stark westlich ausgerichtet. Es ist besonders anglozentrisch. Die wissenschaftliche Arbeit und das Verständnis der psychologischen Vorgänge werden daher durch die Konturen der englischen Sprache und der kulturellen Kontexte des Westens geprägt – aber auch begrenzt. Es besteht die Gefahr, dass Erkenntnisse und Ideen aus anderen Kulturen übersehen werden. Durch das Studium unübersetzbarer Wörter möchte ich dem westlichen Fokus gezielt entgegenwirken – und unser Verständnis von der Psyche und dem menschlichen Potenzial um das Wissen aus anderen Weltregionen bereichern. Das Studium dieser Begriffe hilft uns, andere Kulturen wertzuschätzen. Und das finde ich gerade heute sehr wichtig, weil wir in einem Zeitalter leben, in dem die Kulturen leider durch viele Überzeugungen und Herausforderungen voneinander getrennt sind.

Wie haben unübersetzbare Begriffe Ihr eigenes Denken und Fühlen beeinflusst?

Eine unerwartete Folge meiner Studien ist meine erhöhte Sensibilität für das Englische. Auch für die Tatsache, dass die Sprache im Laufe der Jahrhunderte so viele Lehnwörter von anderen Sprachen übernommen hat. Sie hat sich so einige vermeintlich unübersetzbare Begriffe einverleibt. Außerdem bin ich bei meiner Arbeit immer wieder über den konzeptuellen und lexikalischen Einfallsreichtum des Menschen erstaunt! Er findet immerzu Wege, um die Komplexität der Erfahrung durch Sprache zu destillieren und anderen zu vermitteln. Es macht mir auch großen Spaß, andere Kulturen und ihre Lebensgewohnheiten kennenzulernen. Jede einzelne Kultur – inklusive meiner englischen – ist in ihrem Verständnis und ihrer Wertschätzung der Existenz unvollkommen und parteiisch. Und meine bisherige Arbeit bestärkt meine Überzeugung, dass wir alle voneinander lernen und unsere geistige Gesundheit auf diese Weise fördern können.

Aus dem Wörterbuch des Wohlbefindens

Hier eine Auswahl aus der Happy Words-Sammlung von Tim Lomas, die rund 1000 Begriffe umfasst und weiter wächst

Shěnměi píláo, Chinesisch Ästhetisch ermüdet; so viel Schönheit, dass man aufhört, sie zu schätzen

Bēi xî jiāo jí, Chinesisch Vermischte Gefühle von Traurigkeit und Freude

Koi no yokan, Japanisch Das Gefühl, jemanden zu treffen, in den man sich unweigerlich verlieben wird

Ilunga, Tschiluba Die Fähigkeit, ein erstes Mal vergeben zu können, ein zweites Mal zu tolerieren, aber kein drittes Mal zu dulden

Cwtch, Walisisch Eine Umarmung; ein Heiligtum; ein sicherer, einladender Ort

Tūrangawaewae, Maori Wörtlich: ein Platz zum Stehen; ein Ort, an dem wir uns verwurzelt, ermächtigt und verbunden fühlen

Datsuzoku, Japanisch Wörtlich: verschütten oder entfernen (datsu) und Weltlichkeit (zoku); Weltlosigkeit, Heiligkeit; Gewohnheitsfreiheit; Flucht aus der Routine und Konvention

Yilugnta, Amharisch Ein Gefühl der Verpflichtung, sich die Meinung anderer anzuhören und ihr zu folgen – positiv gemeint

Epoché, Griechisch Keine Schlussfolgerung ziehen; der Moment, in dem die Beurteilung der Welt und das Handeln ausgesetzt werden

Eleutheromania, Griechisch Ein intensives, unbändiges Verlangen nach Freiheit

Kairos, Griechisch Der günstige, ideale Moment für Entscheidungen oder Handlungen

Zanshin, Japanisch Wörtlich: bleibender Herz-Verstand; ein Zustand entspannter geistiger Wachsamkeit – besonders angesichts von Stress

Arbejdsglæde, Dänisch Freude und Zufriedenheit, die aus der Arbeit stammen

Fuubutsushi, Japanisch Stimuli und Phänomene, die an eine bestimmte Jahreszeit erinnern

Vozdukh, Russisch Wörtlich: Stapel von Geistern; Luft, Atem; den Geist nach innen nehmen (einatmen), den Geist nach draußen tragen (ausatmen)

Chrysalism, Englisch Die Ruhe, während eines Gewitters drinnen zu sein

Beispiele für deutsche Begriffe:

Feierabend, Stehaufmännchen, Fingerspitzengefühl, Konfliktfähigkeit, Erfolgserlebnis, Weltschmerz

Dr. Tim Lomas ist Dozent für ­positive Psychologie an der University of East London. ­Davor war er Sänger in einer Ska-Band, Assistenzpfleger in der Psychiatrie und Englischlehrer in China

Literatur:

Tim Lomas: The happiness dictionary. Words from around the world to help us lead a richer life. Piatkus, London 2018

Tim Lomas: Translating happiness. A cross-cultural lexicon of well-being. MIT Press, Cambridge 2018

Website: www.drtimlomas.com

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2019: Werden, wer ich bin