Pilgerreisen sind wohl so alt wie der Glaube an höhere Mächte. Und wer es nicht besser weiß, hat ein sehr altes Bild vor Augen, wenn er an einen Pilger denkt: eine ärmlich gekleidete, vom Staub der Straße bedeckte, ausgemergelte Gestalt, in der Hand einen Stab, die Schuhe ausgetreten, auf dem Kopf ein alter Hut. Der Gläubige ernährt sich auf dem langen Fußweg zum Wallfahrtsort von Wasser und milden Gaben, genächtigt wird, wo er Obdach findet. Mühsal und ein asketisches Leben während der Reise nimmt er auf…
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wird, wo er Obdach findet. Mühsal und ein asketisches Leben während der Reise nimmt er auf sich, befolgt dabei die Vorschriften seiner Religion. Der Anlass dieses mühseligen Gangs: Der Pilger will auf diese Weise Buße tun, ein Gelübde erfüllen oder einen Sündenablass erbitten; oder er erhofft sich die Heilung von einer Krankheit oder die Erfüllung eines Gebetes. Möglich ist auch, dass der Mensch im Pilgern seinen Glauben vertiefen oder einer heiligen Macht danken möchte.
Der Begriff Pilger kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „der Fremde“ (lat.: peregrinus). Man meinte damit ursprünglich jemanden, der sich außerhalb des Römischen Reiches befand. Pilgern bedeutet, „für religiöse Zwecke in die Fremde ziehen“, beschreibt es der Religionspsychologe Sebastian Murken. Die Ziele der Wanderungen sind vielfältig und hängen vom jeweiligen Glauben ab: Muslime sollen sich einmal im Leben nach Mekka begeben, Christen ins Heilige Land reisen, für tibetische Buddhisten stellt der Berg Kailash das Pilgerziel dar.
Das Wandern zu einem Wallfahrtsort ist seit der Antike überliefert. Das Erscheinungsbild der Pilger hat sich inzwischen stark gewandelt: Heutige Pilger sind nicht in Sackleinen, sondern eher in moderne Outdoorkleidung gewandet, viele tragen gute Wanderschuhe oder Trekkingsandalen. Statt des Pilgerstabs bewegt sich manch einer mit Walkingstöcken vorwärts. Auch die Gründe, die Pilger für ihre Reise nennen, sind andere:
„Ich wollte einfach weit gehen. Ein Freund von mir war 800 km zu Fuß gegangen, seine Erzählungen darüber haben mich fasziniert. Und ich wollte so etwas auch probieren. Als ich dann vom Jakobsweg und vom Pilgern hörte, entschloss ich mich, das als Pilgerreise zu machen.“ Das erzählt Julia über ihre erste Pilgerreise vor einigen Jahren. Sie ist Ende 30, arbeitet als freie Künstlerin in Frankfurt am Main.
„Die Idee zu pilgern hatte ich schon viele Jahre im Hinterkopf. Als dann meine Mutter gestorben war, dachte ich: Jetzt machst du das. Ich brauchte ein Ziel, eine Herausforderung in meinem Leben. Und ich fand, das war ein guter Anlass, um in Ruhe über alles nachzudenken.“ Diese Gründe nennt Christine. Sie arbeitet als Softwareentwicklerin, ist Anfang 50 und lebt in Berlin.
Eine weite Strecke zu Fuß gehen, mit einem Wallfahrtsort als Ziel – diese alte Tradition wurde in den letzten Jahren immer beliebter. Einen Aufmerksamkeitsschub erlangte das Pilgern in Deutschland, als im Jahr 2006 Hape Kerkelings Buch Ich bin dann mal weg erschien. Sein Bericht über das Pilgern auf dem Jakobsweg wurde nicht nur ein Bestseller – es ist das bis heute in Deutschland meistverkaufte Sachbuch aller Zeiten. Offenbar regte das Werk des Entertainers viele zum Nachahmen an, denn seither stieg die Zahl deutschsprachiger Pilger stark an.
Wer sind die heutigen Pilger?
Wer die heutigen Pilger sind, welche Erfahrungen sie machen und was sie sich von der Wanderung erhoffen, dazu führten zwei Wissenschaftlerinnen im Jahr 2010 eine Studie durch. Julia Reuter, Professorin für Kultursoziologie, und Veronika Graf, die ihre Diplomarbeit über „spirituellen Tourismus“ schrieb, wählten für ihre Forschung Pilger aus, die auf dem Jakobsweg unterwegs waren. Die Wissenschaftlerinnen waren vor Ort, führten Interviews und werteten über 1100 Fragebögen aus.
Sie fanden heraus: Männer und Frauen pilgern etwa gleich häufig. Der Durchschnittspilger ist 37 Jahre alt. Unter 20-Jährige und über 60-Jährige sind etwas seltener unterwegs als Menschen in den mittleren Jahren. Wer heute pilgert, ist meist gebildet: 64 Prozent verfügen über einen hohen Bildungsabschluss. „Es sind vor allem jene Menschen, die im Strudel der mittleren Jahre hohe Anforderungen in Beruf, Familie und Gesellschaft erfüllen müssen“, fassen die Forscherinnen zusammen.
Auf dem Jakobsweg sind die meisten Pilger Spanier, dann kommen schon die Deutschen, die mehr als jeden fünften Pilger ausmachen. Knapp die Hälfte wandert allein. Die anderen sind mit guten Freunden oder Familienangehörigen unterwegs. 90 Prozent der Pilger gehen zu Fuß. Aber auch mit dem Fahrrad, dem Pferd oder Esel legen manche den ganzen Wallfahrtsweg oder Teilstrecken zurück.
Heutige Pilger sind nicht die asketischen, dem Weltlichen gänzlich abgewandten Wanderer von einst. Die Mehrzahl verzichtet während der Wallfahrt nicht auf modernste Technik, viele tragen sie selbst im Gepäck: 65 Prozent nutzen das Internet, um mit Familie und Freunden in der Heimat verbunden zu sein, sich über das Weltgeschehen zu informieren oder mit anderen Pilgern Kontakt zu halten. Und 86 Prozent haben sogar ein internetfähiges Mobiltelefon dabei.
Den erstaunlichsten Bruch zum Pilger der alten Schule fanden die Forscherinnen aber in den Motiven der Wanderer. Es zeigte sich, dass religiöse Gründe für eine Pilgerschaft nachrangig sind: Gerade einmal 23 Prozent pilgern aus diesem Anlass. Viel stärker standen andere Beweggründe im Vordergrund: Jeder Zweite möchte durch das Pilgern „zu sich selbst finden“ (52 Prozent), sehr viele nennen als Motiv das „Ausklinken aus dem Alltag“ (40 Prozent). Fast ebenso viele wollen „Stille genießen“ (39 Prozent) und die „spirituelle Atmosphäre fühlen“ (35 Prozent). Weitere oft genannte Gründe waren „die Natur“ und der „Anblick schöner Landschaft“. Zusammengefasst fanden die Forscherinnen drei Hauptinteressen: Pilgern ist als ein „außeralltägliches Erlebnis“ gefragt, es wird als lohnender Weg bei der „Suche nach Veränderung“ gesehen, und die „Begegnung mit anderen Pilgern“ ist den Wandernden wichtig.
Der moderne Pilger sucht die spirituelle Erfahrung
Wissenschaftliche Studien zum Pilgern sind noch rar. Aber diese und andere erste Forschungen zeigen: Immer mehr Menschen pilgern, ohne religiös zu sein. Viele geben aber an, dass sie beim Pilgern „Spiritualität“ suchen. Worin besteht der Unterschied, gibt es ihn überhaupt?
Sebastian Murken ist Professor für Religionspsychologie an der Universität Marburg. Er hat sich ebenfalls mit dem Phänomen des neuen Trends zum Pilgern auseinandergesetzt.Der Psychologe schlägt vor, sich zur Unterscheidung an den Kennzeichen der Religion zu orientieren, die der niederländische Religionswissenschaftler Jean Jacques Waardenburg beschrieb. Danach ist ein Mensch religiös, wenn er einer religiösen Tradition folgt und folgende drei Merkmale zutreffen:
Religiös gedeutete Wirklichkeiten: Neben der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit nimmt der Mensch eine „übernatürliche“ Wirklichkeit an. Diese umfasst häufig den Glauben an höhere transzendente Wesen.
Religiös gedeutete Erfahrungen: Der Mensch deutet Erfahrungen in Bezug auf diese religiöse Wirklichkeit.
Religiös gedeutete Normen: Er erkennt moralische Bestimmungen, Regeln und Gesetze, die den Kosmos, die Gesellschaft und das Verhalten des Einzelnen betreffen, an, die in ihrem Absolutheitsanspruch durch eine höhere Instanz gerechtfertigt sind.
„Wir bezeichnen einen Menschen dann als religiös, wenn alle drei oben genannten Merkmale zutreffen“, sagt der Professor für Religionspsychologie. Für ihn ergibt sich aus dieser Definition der Unterschied zur Spiritualität: „Mit Spiritualität bezeichnen wir eine Haltung, bei der Menschen zwar davon ausgehen, dass es übernatürliche Wirklichkeiten und übernatürliche Erfahrungen gibt. Die Anerkennung der ‚höheren Wirklichkeit‘ erstreckt sich jedoch nicht auf das mit Religionen einhergehende Normensystem“, so der Experte.„Charakteristisch ist, dass der Bezug ‚spiritueller Menschen‘ zu dieser höheren Wirklichkeit sehr individuell ausfällt“, so Murken.
Salopp kann man es so sagen: Der moderne Pilger sucht die spirituelle, die übernatürliche Erfahrung, er ist zumindest offen dafür. Was die Religion darüber hinaus an Normen, Traditionen und Ritualen für das Wandeln auf dem Pilgerpfad vorsieht, ist für ihn nicht bindend. Es ist „sein“ Pilgerweg, bei dem er das Heft der Gestaltung nicht aus der Hand gibt: Was ihm an Vorschriften sinnvoll im Sinne der Selbsterfahrung erscheint oder was ihm an Ritualen einleuchtet oder gefällt, das übernimmt er auf seinem Wanderweg. Was ihm gegen den Strich geht, lässt er aus.
„Ich bin evangelisch, aber das spielte keine Rolle. Ja, einen Pilgerpass hatte ich mir besorgt. Weil es alle machen, weil die Stempel toll sind, weil man dann einen Rahmen hat und Teil der Pilgergemeinschaft ist. Meine spirituellen Erfahrungen kann ich schwer in Worte fassen. Am besten beschreibt es der Satz: ,Ich glaube an das Leben‘. Ich habe eine Kraft erfahren, die außerhalb von mir ist und positiv. Ich fühlte mich mit der Natur und mit anderen auf einer anderen Ebene verbunden.“ So beschreibt Julia ihren Bezug zur Religion und ihre spirituellen Erfahrungen bei ihrer Pilgerreise auf dem Jakobsweg.
Liest man einschlägige Erfahrungsberichte, so fällt auf, dass Menschen sich oft nach Brüchen oder in einer Lebenskrise zum Pilgern entschließen: Sie haben eine Trennung erlebt, mussten eine schwere Krankheit verkraften, andere haben ihren Job verloren oder befinden sich nach dem Studium oder vor der Berentung in einem noch ungewissen Übergangsstadium. Wieder andere stecken in einer Anspannungskrise, weil sie sich in ihrem Alltag so stark unter Druck fühlen, dass sie fürchten zusammenzubrechen. „Entschleunigung“, „Auszeit“ und „Sinnsuche“ werden immer wieder von heutigen Wallfahrtswanderern als Anlässe genannt.
Der Sozialwissenschaftler Christian Kurrat wollte diese Zusammenhänge mit der Biografie der Pilger genauer ergründen und machte die Frage „Warum pilgern Menschen auf dem Jakobsweg?“ zum Thema seiner Doktorarbeit. Er führte Interviews mit Wanderern auf dem Jakobsweg durch, die ihm ihre Lebensgeschichte erzählten und persönliche Gründe für ihren Wallfahrtsweg anvertrauten. Der Wissenschaftler entdeckte fünf Typen von Pilgern mit unterschiedlichen biografischen Ausgangslagen:
Bilanzierer nennt Kurrat Menschen, die Pilgern als eine Form der Rückschau auf das eigene Leben betreiben. Sie suchen die Kontemplation, gehen in Gedanken zurück bis in die Kindheit und wollen eigene Handlungen bewerten. Manche sind religiös und wollen ihrem Gott danken oder ihn um Vergebung bitten. Diese Pilger sind Menschen in der letzten Lebensphase. Der Kontakt zu Mitpilgern spielt für diese älteren Wanderer, die vor allem in die Vergangenheit blicken, kaum eine Rolle.
Krisenbewältiger haben in naher Vergangenheit einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Plötzliche Trennung, Tod, Unfall oder ein Arbeitsplatzverlust können Gründe sein, sich zum Pilgern zu entschließen, um wieder zu sich selbst zu finden. Für sie haben Mitpilger eine wichtige Bedeutung: Sie schütten anderen auf der Reise ihr Herz aus, finden bei Mitpilgern Trost und genießen das Gefühl, nicht allein zu sein.
Auszeitnehmer wollen mit dem Pilgern kein bestimmtes Ereignis verarbeiten, sondern dem alltäglichen Stress entkommen. Gleichzeitig sind sie auf Sinnsuche und überlegen, wie sie ihr Leben besser gestalten könnten. Sie suchen Entschleunigung, Abstand und Ruhe. Das Pilgern ist für sie ein bewusster Rückzug auf Zeit, manchmal eine regelrechte Alltagsflucht. Sie suchen die Erfahrung des Gehens als Verlangsamung des Lebens. Typisch für diese Pilger ist, dass sie das Leben zu Hause völlig ausblenden und während der Reise keinen Kontakt in die Heimat pflegen.
Übergangspilger befinden sich an einer Schwelle in ihrem Leben. Dabei geht es um einen normalen Übergang wie den Schritt von der Schule zur Berufslehre oder den Eintritt in eine Ehe oder das bevorstehende Rentnerdasein. Diese Menschen nutzen das Pilgern als Übergangs- oder Transformationsritual in einen neuen Lebensabschnitt. Sie blicken vor allem in die Zukunft, sie wägen ab, wollen sich über ihre Möglichkeiten und die Vor- und Nachteile der Alternativen klarwerden. Sie erleben die körperliche Anstrengung als Reifeprüfung. Der Austausch mit anderen Pilgern ist ihnen besonders wichtig.
Neustarter möchten nach einer langen Leidensphase ein Kapitel ihres Lebens endgültig und bewusst abschließen. Anders als bei den Krisenbewältigern haben sie den Bruch in ihrem Leben, etwa eine Scheidung oder einen Berufswechsel, selbst veranlasst. Das Pilgern ist für sie das Symbol des Neustarts im Leben. Dabei ist ihnen die körperliche Anstrengung wichtig, das Durchhalten beim Gehen sehen sie als Beweis für ihren Mut und Durchhaltewillen auf dem kommenden Lebensabschnitt.
Der Sozialwissenschaftler Kurrat entdeckte außerdem, dass Rituale für viele Pilger eine wichtige Rolle spielen. Auf jedem Pilgerpfad gibt es festgeschriebene magische oder religiöse Handlungen, die durchzuführen sind. Ein wichtiges Ritual auf dem Jakobsweg ist zum Beispiel das Steinablegen am Cruz de Ferro. Der Brauch sieht vor, dass der Pilger aus seiner Heimat einen Stein mitbringt, den er hier ablegt. Der Sinn des Rituals wird in allen deutschen Reiseführern und in vielen Pilgerberichten beschrieben: Symbolisch werden so Sünden, Sorgen, Ängste oder etwas anderes, das den Menschen „beschwert“, zurückgelassen. Neben den Steinen, die fast jeder Pilger dort ablegt, finden sich dort auch Briefe an Gott, einen geliebten Menschen oder Verstorbene, Teddybären, Armbänder, Holzkreuze oder Knochen.
Für Kurrat haben diese Rituale auch eine gemeinschaftsbildende Wirkung: Mit dem Ablegen des mitgebrachten Steins, mit der Ausführung des Ritus ordnet sich der Pilger in eine vorgestellte Gemeinschaft ein – in eine Gemeinschaft mit anderen, die ebenfalls ihre „Nöte“ daließen.
Spirituelle Suche, Krisenbewältigung, Bilanz ziehen oder sich eine Auszeit gönnen – es gibt viele Motive für das Pilgern ohne Glauben. Der Psychologe und Psychotherapeut Sebastian Murken beschreibt weitere Wirkungen, die das Pilgern attraktiv machen: Eine wichtige Rolle spielt das Gehen als Metapher des In-Bewegung-Seins. Viele Menschen setzen äußeren Stillstand mit innerer Stagnation gleich. Dem Zurücklegen eines Weges und der ständigen Fortbewegung kommt daher eine wichtige psychologische Bedeutung zu. Der Mensch am Anfang des Pilgerpfads ist ein anderer als der, der er am Schluss seines Weges zu sein hofft – denn er hat sich bewegt, sogar ein Ziel erreicht.
Viele sehen darüber hinaus den Pilgerweg als Symbol des menschlichen Lebenswegs an: Er ist mal leicht zu ertragen oder sogar beschwingt, mal ist er kaum auszuhalten. Oft weiß man nicht, was einen hinter der nächsten Biegung erwartet. Ständig steht man vor einer Gabelung und muss sich entscheiden, welche Richtung man nehmen soll. Damit stellt der Weg den Wanderer vor ähnliche Herausforderungen und Probleme wie das Leben sonst auch. Und noch in einer anderen Hinsicht stellt der Pfad eine Verdichtung des Lebensweges dar: „Durch das stetige Gehen, Übermüdung und Krisen treten persönliche Lebensfragen, eigene Stärken und Schwächen und Charaktereigenschaften stärker hervor“, beschreibt es der Psychologe Murken. „So wird der Pilgerweg zu einem Sinnbild für Lebensbewältigung.“
Viele Menschen berichten nach einer Pilgerreise denn auch, dass der Weg ihnen überaus gutgetan habe. Das bestätigt die Studie der amerikanischen Psychologin Heather Ann Warfield. Sie sichtete die Forschungsarbeiten der letzten Jahre und entdeckte, dass Pilger – mit oder ohne Glauben – von geheilten Krankheiten, einem höheren psychischen Wohlbefinden und einer stärkeren spirituellen Verbindung berichteten. Außerdem gaben sie an, als Folge des Pilgerns tiefere Beziehungen zu anderen Menschen zu führen und den Wunsch zu spüren, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Pilgern verbessert also das Wohlbefinden, und es wirkt sinnstiftend, folgert Warfield. Zwischen religiösen und nichtreligiösen Wanderern fand sie übrigens nur einen Unterschied: Wer wegen seines Glaubens pilgerte, der betete – andere taten dies nicht. Für die Psychologin hat Pilgern daher einen therapeutischen Wert, es ist ein Akt der Selbstfürsorge. Die meisten Pilger sehen es wohl ähnlich.
„Auf der Reise habe ich gelernt, Dinge durchzustehen und nicht auszuweichen: Oft konnte ich nicht mehr, weil mir alles wehtat. Ich hätte schreien und heulen können – aber ich bin dann doch weitergegangen und habe nicht aufgegeben. Diese Erfahrung, das zu schaffen, hat mir sehr gutgetan.“ So schildert Christine ihren Gewinn durch ihr Wandern auf dem Jakobsweg.
„Ich wollte beim Pilgern zu neuen Kräften kommen – und das ist auch so geschehen. Ich habe Ruhe gefunden und Kraft, und dadurch habe ich an Selbstvertrauen hinzugewonnen. Ich bin vertrauensvoller, hoffnungsvoller. Das ewige Hadern hörte auf, die Zweifel, ob etwas richtig ist, was ich entscheide. Je länger der Weg dauerte, desto stärker fühlte ich mich. Ich bin mindestens 25 Kilometer pro Tag gegangen. Und am Schluss des Weges hatte ich das Gefühl: Jetzt kann ich um die ganze Welt laufen!“ Das sagt Julia über die Wirkungen ihrer Pilgerreise.
Literatur
Heather A. Warfield Quest for transformation: An exploration of pilgrimage in the counseling proces. www.counselingoutfitters.com/vistas/vistas12/Article_35.pdf
Patrick Heiser, Christian Kurrat (Hg.): Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg. LIT, Berlin 2012
Sebastian Murken, Franziska Dambacher: Religion, Freizeit und Tourismus. „Ich bin dann mal weg“: Religionspsychologische Überlegungen zur gegenwärtigen Popularität von Pilgerreisen. Psychologie in Österreich, 30, 1, 6–12, 2010