Ins Café am Heumarkt in Wien verirren sich wohl nur selten Touristen. Denn das traditionsreiche Kaffeehaus am Rande der Innenstadt verfügt weder über ein Schild, noch ist es ansatzweise renoviert: Die Einrichtung stammt aus den 1950er Jahren, auch die zwei einsamen alten Herren am Ecktisch scheinen zum Mobiliar zu gehören. Da kommt mit Schwung Joachim Meyerhoff durch die Tür, groß, schlank, kahl, mit einer schwarzen Hornbrille auf der Nase. „Schön ruhig hier, oder?“, sagt er zur Begrüßung in den leeren…
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in den leeren Raum. Am Akademietheater direkt gegenüber – einem Spielort des Burgtheaters – steht Meyerhoff oft auf der Bühne, aktuell als Tartuffe oder in der Rolle des Kommunenführers in Die Kommune, für die er 2012 den Wiener Nestroypreis als bester Schauspieler erhielt. Doch wir wollen nicht übers Theater reden, sondern über Joachim Meyerhoffs Bücher: Seine autobiografischen Romane Alle Toten fliegen hoch (2011) und Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (2013) sind mittlerweile Bestseller. Darin erzählt der Mitvierziger von einer verrückten Familie an einem verrückten Ort, von einem Vater, der über 1500 Psychiatriepatienten herrschte und ein heimliches Parallelleben führte, von einer tatkräftigen und doch labilen Mutter, von einem Sohn, der Blutsbrüderschaft mit seinem Hund zu schließen versucht. Es geht um Freude und Verlust, um Sehnsucht und den Wahnsinn des Lebens. Meyerhoff bestellt sich einen kleinen Braunen und legt los.den Wahnsinn des Lebens. Meyerhoff bestellt sich einen kleinen Braunen und legt los.
PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Meyerhoff, Sie haben vor einigen Jahren begonnen, Ihre Familiengeschichte niederzuschreiben. Aktuell sitzen Sie am dritten Band ihrer höchst ungewöhnlichen Lebenserinnerungen. Woher kommt diese Lust am Erinnern und Erzählen?
JOACHIM MEYERHOFF Aus dem Unglück. Mit Mitte dreißig merkte ich, dass meine eigene Geschichte zu Anekdoten zusammenschrumpft. Das fand ich schrecklich. Ich wollte nicht mehr punktuell nur noch ein paar Ereignisse erinnern, sondern eher eine Fläche von Erinnerungen wieder auferstehen lassen. Und das Schreiben war dafür ein wunderbares Werkzeug. Aber ich habe mir lange nicht zugetraut, die Texte in Buchform herauszubringen. Deshalb habe ich sie ja auch zuerst auf die Bühne gehoben, als durch Erzählungen ergänzte Lesungen.
PH Sie haben Ihre Geschichten zunächst als Soloabende in sechs Teilen am Burgtheater gezeigt – ein Publikumsrenner.
MEYERHOFF Ich wollte erst mal lernen, mit den Texten umzugehen. Und auf der Bühne fühlte ich mich viel geschützter, weil es eben eine Rolle war. Ein schöner Nebeneffekt war außerdem, dass ich durch die physische Erfahrung des Erzählens viel mehr Erinnerungen wachrufen konnte, als wenn ich nur geschrieben hätte. Und dann trat irgendwann der Verlag an mich heran. Meine Geschichten sind also endlich da angekommen, wo sie sein sollten, in der Fläche des Romans. Wenn ich heute schreibe, ist das aber immer noch, als wenn ich performe: Ich muss laut lesen und erinnere mich dabei an die Reaktionen der Zuschauer. Dann springt der Funke über.
PH In Ihrem ersten Roman Alle Toten fliegen hoch schreiben Sie über Ihr sehr komisches Schüleraustauschjahr in den USA. Doch es gibt auch viel Traurigkeit, denn inmitten dieser Zeit stirbt einer Ihrer Brüder. Es ist also ein lustiges Buch mit tieftraurigen Momenten. Ihr zweites Buch Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war ist eher ein tieftrauriges Buch mit vielen lustigen Momenten: Es handelt von Ihrer Kindheit auf dem Gelände einer großen Kinder- und Jugendpsychiatrie, von der unglücklichen Ehe der Eltern, vom qualvollen Krebstod Ihres Vaters. Traurigkeit und Lachen, gehört das für Sie zusammen?
MEYERHOFF Unbedingt. Meine Familie war ja ein komischer Zwitter: eine glückliche und zugleich todunglückliche Familie. Eine zerstörte Familie durch Verluste, durch das Unglück meiner Eltern, durch Betrug und Affären. Andererseits eine total heile Familie mit einem ganz eigenen und verbindenden Humor. Es ist für mich eine befreiende Vorstellung, dass es eigentlich immer zwei Wahrheiten gibt. Dass man trotz schlimmster Verluste und Lebenskrisen immer noch die Chance des Lachens hat über das, was einem zustößt. Letztendlich bin ich wohl doch ein lebensfroher Mensch. Dem Menschen ist aufgegeben, etwas Lustvolles zu entdecken. Das klingt zwar banal, muss man aber erst mal lernen.
PH Es gelingt Ihnen ja immer wieder, auch dem Leiden noch eine gute Anekdote zu entringen. Der Ort Ihrer Kindheit, die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Hesterberg in Schleswig mit 1500 Patienten, mag in den 1970er Jahren für viele ein Hort des Grauens gewesen sein, doch Sie haben in Ihren Büchern viele skurrile Geschichten darüber zu erzählen.
MEYERHOFF Damals hieß die Klinik noch Landeskrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie, dort lebten aber nicht nur psychisch kranke Kinder, sondern auch schwer körperbehinderte und lernbehinderte Kinder. Und viele erwachsene Patienten, die dort aufgewachsen waren und den Wechsel von einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in die Erwachsenenpsychiatrie nicht mitgemacht hatten. Eigentlich war dieser Kindheitsort tatsächlich ein schrecklicher Ort: In den 1970er Jahren gab es in den Psychiatrien zwar schon viel Aufbruch und Zuwendung, aber auch noch unendlich viel Düsternis. Es war ein Riesengebilde mit vielen schrecklichen Leidensgeschichten. Aber diese moralischen Kriterien hat man ja nicht als Kind. Ich habe es dort geliebt, für mich war es ein paradiesischer Ort. Als ich vor drei Jahren mal wieder da war, war alles dezentralisiert. Und ich fühlte mich, als ob ich eine Welt verloren habe. Obwohl es für die Patienten so natürlich viel besser ist.
PH Was haben Sie daran geliebt?
MEYERHOFF Das Klinikgelände war für mich eine Art Hofstaat. Mein Vater war der Direktor, meine Mutter Frau Direktor und wir Kinder die Söhne des Psychiatriekönigs. Wir lebten in einer alten Villa im Zentrum des Geländes, um uns herum ringförmig die Anstaltsgebäude. Bei uns gingen Patienten, Pfleger und Ärzte ein und aus. Und natürlich war die Psychiatrie für mich auch eine Art beglückende Extremwelt. Wenn jemand auf ein Psychiatriedach klettert und dort oben Kissen anzündet und diese brennenden Kissen vom Dach wirft, überall brennende Federn, das vergisst man ja nicht, das sind wahnsinnige Geschichten. Viele der Patienten waren zwar in ihr Drama gebannt, aber eben in einer überbordenden Deutlichkeit oder Lebendigkeit. Nach dieser Lebendigkeit sehne ich mich manchmal heute noch.
PH Sie fanden als Kind ja auch Freunde unter den Patienten, zum Beispiel den Autisten Ferdinand, der bevorzugt Katzen im Querschnitt zeichnete. Oder den riesenhaften „Glöckner“, auf dessen Schultern Sie über das Anstaltsgelände galoppieren durften.
MEYERHOFF Ich hatte bestimmt jedes Jahr einen speziellen Freund auf dem Gelände. Mein Vater hat das immer ein bisschen zu lenken versucht: „Mit dem lieber nicht so nah, das ist nicht so ungefährlich“. Es gab auch strenge Regeln, als ich kleiner war, durfte ich nicht abends über das Psychiatriegelände laufen. Mir ist aber nie etwas passiert, es ist ohnehin erstaunlich wenig passiert. Wenn, dann wurde ich vielleicht mal erschreckt oder angefasst.
PH Haben Sie die Patienten als krank wahrgenommen, oder war das für Sie als Kind keine Kategorie?
MEYERHOFF Ich habe die Welt dort als völlig gottgegeben angenommen. Natürlich haben mich manche Dinge irritiert, aber nicht mehr, als mich manche Dinge an meinen Brüdern irritiert haben. Als ich älter war, änderte sich das natürlich ein bisschen. Da war mir dann die Übergriffigkeit vieler Patienten unangenehm: Dieses häufige Umarmtwerden, die gelegentliche Nacktheit, die unvermittelte Nähe, die oft über einen hereinbrach. Je älter ich wurde, desto mehr wusste ich auch um die Stationen. Aber dass ich die Patienten bestimmten Störungsbildern zuordnen konnte, das dauerte lange.
PH Sie wussten zumindest früh über die Fachbegriffe Bescheid: Als Sie mit zwölf Jahren im Gruppenskiurlaub an Heimweh litten, erklärten Sie dem Reiseleiter, Sie hätten eine manische Depression entwickelt und müssten abgeholt werden.
MEYERHOFF Das waren Begriffe, die immer herumschwirrten. Schon als Fünfjähriger kannte ich Wörter wie Neurose, Psychose, Schizophrenie, epileptischer Anfall, frei flottierend, Psychopharmaka, Zwangseinweisung … Das medizinische Gespräch war zu Hause unser Kernthema. Und mein Vater war ein großer Erzähler. Jeder psychiatrische Fall hat, wenn man ihn einem Kind erzählt, ja auch etwas Märchenhaftes und Theatralisches.
PH Haben diese Erlebnisse, die exzessiven Gefühlsausdrücke und die „Theatralik“ dieses Ortes Sie darin geprägt, Schauspieler werden zu wollen?
MEYERHOFF Es gibt sicherlich einige Überträge aus dieser Zeit. Vielleicht die vielen inneren Bilder und meine eigene Lust an Extremsituationen. Ich habe zum Beispiel überhaupt kein Problem mit Nacktheit auf der Bühne, obwohl das ja nach wie vor ein großes Thema zu sein scheint. Momentan spiele ich am Burgtheater Robinson Crusoe, und natürlich sitzt der nackt auf der Insel. Darin sehe ich einfach eine Sehnsucht nach kreatürlichen Vorgängen und eine starke Schutzlosigkeit. Was daran schlimm sein soll, kann ich nicht nachvollziehen. Und das erinnert mich manchmal an diese Uneinsichtigkeit von Patienten, die einfach nicht begreifen, warum sie etwas anziehen sollen, wen das denn um Gottes willen stören soll. Ich glaube an Arbeit und Wildheit auf der Bühne, an Drang und Druck, an Lust, an ganz elementare Zustände.
PH Für diese intensive Bühnenpräsenz und Körperlichkeit werden Sie ja auch gerühmt.
MEYERHOFF Obwohl sich das gegeben hat. Ich mache diesen Beruf ja schon 25 Jahre und frage mich manchmal, ob ich intensive Aufführungen wie den Mephisto am Hamburger Schauspielhaus oder den Hamlet in Zürich noch so schaffen würde. Damals war ich nach den Vorführungen schon am Rand meiner Kräfte. Und jetzt bin ich Mitte vierzig und spiele manchmal Vorstellungen, nach denen ich nicht mal mehr duschen muss. Da denke ich mir: Bin ich jetzt in meinem Alterswerk angekommen?
PH In Ihren Romanen beschreiben Sie sich als zappeliges Kind mit starken Konzentrationsproblemen und unerklärlichen Wutausbrüchen. Ihre Brüder nannten Sie „Die blonde Bombe“ und machten sich einen Spaß daraus, Sie zur Explosion zu bringen. Steckt hinter Ihrer Lebendigkeit auf der Bühne auch diese große Unruhe?
MEYERHOFF Früher auf jeden Fall. Ich habe jahrelang auf der Bühne unglaublich ackern müssen, um dort etwas zu erleben. Ich bin kein feinsinniger Mensch, ich musste immer schwer agieren, damit sich etwas einstellt, das ich mir selbst glaube. Ich hatte ganz schnell das Gefühl, neben mir zu stehen und mich selbst zu beobachten. Und das hängt sicher mit der Kindheit zusammen. Als Kind fühlte ich mich durch meinen Zorn und meine Dekonzentration wie fremdbestimmt, ich war nie eins mit mir. Ich habe immer irritiert von außen auf mich selbst geschaut und wusste oft dann nicht mehr, wer jetzt wen beobachtet: Beobachte ich mich oder beobachte ich den, der mich beobachtet?
PH Da war es vermutlich entlastend, als Schauspieler in fremde Rollen zu schlüpfen?
MEYERHOFF Genau, im Theater ist das der ganz normale Arbeitsvorgang. Man ist körperlich da, man steht neben sich, und man hat die Rolle. Dann ist man also schon zu dritt. Und dann steht man noch neben der Rolle, dann ist man zu viert. Und das hat mich sehr entspannt. Ich fand es höchst entlastend, keine Einheit sein zu müssen.
PH Würde man Ihren kindlichen Konzentrationsstörungen heute das Label ADHS geben?
MEYERHOFF Ich glaube schon. Ich hatte wohl eine klassische ADHS-Diagnose. Diese unkontrollierbaren Zornesausbrüche, diese Schulprobleme, diese Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Mich hat es sehr unglücklich gemacht, wenn ich mich konzentrieren musste. Am Tisch zu sitzen und zu lesen war für mich eine reine Unglückssituation. Aber dadurch, dass es diese Diagnose noch nicht gab, gab es auch die Krankheit noch nicht.
PH Wie ist Ihr Vater als Direktor einer Kinder- und Jugendpsychiatrie damit umgegangen?
MEYERHOFF Er sah meine Schwierigkeiten nicht als zu therapierende Krankheit, sondern als Aufgabe für die Familie. Das war gut für mich. Vielleicht war mein Vater aber auch schlichtweg nicht bereit, seine Kinder mit Krankheiten zu stigmatisieren.
PH Ihre Eltern verfielen auf interessante Therapiemethoden: Bei Ihren Wutanfällen setzte Ihre Mutter Sie auf die rüttelnde Waschmaschine. „Beruhigungswaschgang“ nennen Sie das in Ihrem Buch. Haben Sie sich als Kind denn als „krank“ empfunden?
MEYERHOFF Nie. Ich fühlte mich unglaublich geborgen. Aber heute scheinen Eltern sehr entlastet, dass es diese Diagnose gibt. Weil etwas benannt werden kann. Ob das für die Kinder gut ist, ist eine andere Frage. Ich finde es schon bedrückend, wie viel Ritalin heute verschrieben wird. Man kann ja noch gar nicht abschätzen, welche Langzeitwirkungen das hat.
PH Es heißt, dass Kinder mit ADHS dann gut lernen können, wenn sie Begeisterung für ein Thema verspüren.
MEYERHOFF Das leuchtet ein. So ist es ja auch mit der Schauspielerei: Im Moment, wo man die Verschmelzung mit dem Charakter forciert, geht’s nicht. Es geht nur durch Entspanntheit, Lust oder Freude. Das ist geradezu ein bösartiges System. Aber meine Schwierigkeiten legten sich schon viel früher, in Amerika. Als mein Bruder starb, hatte ich das Gefühl, ab sofort Verantwortung für meine Eltern tragen zu müssen. Da ist mein Kindheitsgebäude eingestürzt. Noch heute werde ich allerdings nervös, wenn das Leben zu normale Bahnen annimmt. Ich suche eigentlich noch immer die Desorientierung. Wenn man selbst Kinder hat, ist das aber gar nicht so einfach, die brauchen ja Orientierung. Aber es geht. Erstaunlicherweise geht beides.
PH In beiden Büchern erzählen Sie viele lustige Geschichten über Ihre Familie: Etwa wie der Vater der Mutter zu Weihnachten ein elektrisches Küchenmesser schenkt und die Mutter damit aus Wut die rohen Pansen für den Hund zu zerkleinern beginnt, woraufhin der Vater seine Adalbert-Stifter-Gesamtausgabe zu zersägen beginnt. Aber auch äußerst intime Details: Sie erzählen, wie Ihre Mutter die Habilitation des Vaters verfasste, wie der Vater die Mutter systematisch betrog, wie die Mutter immer wieder in seelische Krisen glitt. Nun sind Ihr Vater und Ihr mittlerer Bruder bereits verstorben. Gab es nach der Publikation dennoch Spannungen innerhalb der Familie?
MEYERHOFF Meine Mutter und mein Bruder sind über die Theaterabende ja langsam an die Bücher herangeführt worden. Aber ich glaube schon, dass es nicht leicht und manchmal vielleicht auch schmerzlich war. Für meine Mutter ist das aber mittlerweile dreißig Jahre her, und sie hat seitdem so viel Leben gelebt, dass sie auch Distanz hat. Die unmittelbare Nähe zu dem Eigenen, die ist ja manchmal gar nicht da. Man wäre so gern die Summe seiner Erfahrungen, bleibt aber bisweilen merkwürdig unberührt vom eigenen Leben.
PH Ist das für Sie eine schmerzliche Einsicht?
MEYERHOFF Nein, überhaupt nicht. Die Vergänglichkeit hat doch etwas Gutes. Es entsteht immer etwas Neues. So ist es auch am Theater, da ist jede Produktion eine Vergänglichkeitsfeier. Schlimm finde ich stattdessen, wenn man sich dauernd absichert. Das führt zu einer emotionalen Enge. Wenn man sich aber so verletzlich und zerbrechlich zeigt, wie man es im Leben halt ist, dann wird alles leichter.
PH Wie viele Lebenserinnerungsromane planen Sie noch?
MEYERHOFF Derzeit schreibe ich am dritten Teil, der handelt vom Leben meiner Großeltern. Die waren ein ziemlich exzentrisches Paar: eine Schauspielerin und ein Philosoph. Nach dem Reiseroman und dem Heimatroman also ein historischer Roman. Der vierte und letzte Teil dreht sich dann um meine unglücklichen Jahre als junger Schauspieler in Orten wie Kassel und Bielefeld. Quasi ein Künstlerroman. Danach ist Schluss.
PH Warum eigentlich das Label „Roman“? Sie schreiben ja über ziemlich konkrete Lebenserinnerungen.
MEYERHOFF Weil ich beim Schreiben entdeckt habe, dass ich meiner Vergangenheit wehrlos gegenüberstehe, wenn ich mich authentisch zu erinnern versuche. Die Vergangenheit ist genauso unwegsam wie das, was noch vor einem liegt. Wenn ich mich aber befugt fühle, Dinge zu erfinden, wird das viel runder und saftiger. Und erstaunlicherweise tauchen dabei lauter wahrhaftige Dinge auf. Ich habe aus erinnerten Dialogen Geschichten geschrieben, aus räumlichen Erinnerungen, aus erinnerten Gefühlszuständen – und dann erfinde ich etwas dazu, und es fühlt sich stimmig an. Für mich ist das ein Wunder. Danach wird man ein bisschen süchtig.
PH Haben Sie noch heute eine Affinität zu Psychiatrien?
MEYERHOFF Absolut, ich habe richtige Sehnsuchtsgefühle nach der Psychiatrie. In Wien gibt es das berühmte Otto-Wagner-Spital, die frühere Steinhof-Psychiatrie, ein fantastischer alter Jugendstilbau mit vergitterten Fenstern. Da fahre ich oft hin, um zu schreiben. Viele Erinnerungen habe ich dabei wieder hochgeholt: Es gibt eine Episode in meinem Buch, da beschreibe ich, wie die Patienten am Hesterberg dauernd vor den Gebäuden stehen und rauchen. Daran habe ich mich in Steinhof wieder erinnert: Auch da sitzen die Patienten immer auf Plastikstühlen vor den Stationseingängen und quarzen einfach die Zeit weg. Psychiatriepatienten haben eine ganz spezielle Art des Rauchens, sie gehen einerseits vollkommen im Moment auf, wirken aber gleichzeitig unendlich verloren.
PH Nun haben Sie 2013 nach sieben Jahren das Burgtheater in Wien verlassen, um als festes Ensemblemitglied nach Hamburg ans Deutsche Schauspielhaus zu gehen. Warum zieht es Sie in den Norden zurück?
MEYERHOFF So ganz verstehe ich es auch nicht. Wien ist die erste Stadt, in der ich mich vom ersten Tag an zu Hause gefühlt habe. Ich bin richtig glücklich in dieser Stadt. Aber ein Neuanfang an einem Haus wie dem Deutschen Schauspielhaus ist auch eine tolle Herausforderung. Die Schauspielerei und das Schreiben haben ja den Reiz, dass man sich Dinge ermöglichen kann, die man noch nicht so einschätzen kann. Und ich möchte nicht zum Verwalter der eigenen Eindrücke werden, das wäre für mich ein trauriger Zustand, weil man dann so wenig riskiert. Aber vielleicht geht das auch voll nach hinten los. Anscheinend gibt’s bei mir etwas, das mich gegen das eigene Glück vorantreibt.
Joachim Meyerhoff liest aus „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“: