Redemedizin

Nicht nur therapeutische Gespräche sind heilsam. Bereits Alltagsunterhaltungen wirken wohltuend – obwohl wir dabei verblüffend viel falsch machen.

Die Illustration zeigt eine Frau, die glücklich und entspannt auf Wolken liegt, die aus Sprechblasen bestehen
Spürt unser Zuhörer, ob er der Erste ist, der die Geschichte hört? Oder vielleicht nur der Zehnte? © Richard Klippfeld

Gillian Sandstrom ist Psychologin – und während ihres Studiums erlebte sie fast jeden Tag dasselbe Ritual. Auf dem Gelände ihrer Uni kam sie am Stand einer Würstchenverkäuferin vorbei. Sandstrom winkte und lächelte. Die Verkäuferin winkte zurück, man wechselte ein paar Worte. „Danach ging’s mir jedes Mal besser“, erzählt Sandstrom. „Meine Schritte wurden leichter und beschwingter. Und dann habe ich mich gefragt: Ist das eigentlich nur bei mir so?“

Um das herauszufinden, ersann die Psychologin ein cleveres…

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Experiment. Sie schickte die Hälfte ihrer Probanden in ein Starbucks-Café mit der Anweisung, ihren Coffee to go möglichst effizient zu bestellen: mit zackigen Worten und abgezähltem Kleingeld. Die andere Hälfte erhielt eine völlig andere Order. Man sollte in der Schlange ein kleines Schwätzchen mit anderen Gästen oder dem Thekenpersonal halten – Lächeln und Augenkontakt inklusive. Würde das scheinbar belanglose Gespräch tatsächlich die Gemütsverfassung der Probanden beeinflussen?

Unser Alltag hat sich verändert, es fehlt der Wohlfühlfaktor eines echten Gesprächs

Heute lehrt Gillian Sandstrom an der University of Essex. Im Februar 2019 besuchte sie mit mehr als 3000 Kolleginnen und Kollegen eine Wissenschaftstagung in Portland/Oregon – und stellte fest, dass sie mit ihrem Forschungsinteresse nicht allein war. Anders als in den Jahren zuvor befassten sich viele der Vorträge gezielt mit der Psychologie des Gesprächs. Die Wissenschaft reagiert damit auf eine traurige Tatsache: Unser Alltag hat sich verändert. Wir unterhalten uns mehr mit unserem Smartphone als mit den Menschen, die uns gegenübersitzen. Doch bisweilen beschleicht uns das unbestimmte Gefühl, dass bei dieser Kommunikation mit Text- und Audiobotschaften irgendetwas auf der Strecke zu bleiben scheint. Sie vermittelt oft nicht den Wohlfühlfaktor eines echten Gesprächs. Was die Wissenschaftler zu einer ganz grundsätzlichen Frage führt: Was passiert eigentlich bei einer Konversation, die face to face stattfindet? Wie wirkt sie auf unsere Psyche?

Der Fremde im Zug

Das Ergebnis in Gillian Sandstroms Starbucks-Experiment war jedenfalls eindeutig: „Schon das kurze Gespräch im Café hebt die Laune – selbst wenn man dabei nur über Fußball oder das Wetter redet.“ Sich zu unterhalten, auch wenn der Inhalt selbst belanglos ist, „macht offenbar glücklich“, sagt Sandstrom.

Ihre Kollegen Nicholas Epley und Juliana Schroe­der verfolgten an der University of Chicago einen ähnlichen Forschungsansatz. Sie untersuchten Berufspendler, die täglich mit Bus oder Bahn in die Innenstadt von Chicago fuhren. Wie würde es sich auf die Gemütsverfassung auswirken, wenn sie die Fahrt stumm mit Buch oder Laptop hinter sich brachten – oder dabei ein Gespräch mit einem Unbekannten führten? Vor der Zugfahrt befragt, hatten die Teilnehmer noch die Befürchtung geäußert, ein Gespräch mit einem Fremden im Zug könne peinlich verlaufen. Die meisten wollten deshalb lieber für sich bleiben. Zu Unrecht, wie sich herausstellte: Wer sich unterhielt, empfand die Fahrt sowohl im Bus als auch in der Bahn als erheblich angenehmer.

Und dass bei solchen Gelegenheiten nicht immer bloß Smalltalk geredet wird, bezeugt eine ganze Forschungstradition: „Der Fremde im Zug“ – wenn Psychologen diese Formulierung hören, denken sie nicht an den gleichnamigen Hollywoodklassiker von Alfred Hitchcock, sondern an ein solide dokumentiertes psychologisches Phänomen. Nämlich den Umstand, dass wir einem Unbekannten – etwa während einer Flugreise oder in der Bahn – Dinge anvertrauen, die wir vor Bekannten oder Kollegen kaum zugeben würden.

Wir glauben: Niemand interessiert sich für unsere Geschichte

Das brachte den US-Psychologen Michael Kardas auf eine Idee. Steigert sich das Glück, das einer Zufallsunterhaltung entspringt, womöglich mit der Tiefe dieses Gesprächs? Auch Kardas schickte seine Versuchspersonen in kurze Gespräche mit Fremden. Einige von ihnen sollten dabei intime Fragen stellen: „Worauf in deinem Leben bist du besonders stolz?“ „Wenn eine Kristallkugel dir deine Zukunft voraussagen könnte – was würdest du wissen wollen?“ „Kannst du mir von einem Moment erzählen, in dem du vor anderen Menschen geweint hast?“ In der Tat fühlten sich die Teilnehmer nach einer solchen Unterhaltung besonders stark mit ihrem gänzlich unvertrauten Gesprächspartner verbunden. „Die Gespräche mit Tiefgang waren weniger peinlich und zugleich angenehmer, als die Leute vermutet hatten“, lautet das Fazit von Michael Kardas.

Zusammen offenbaren all diese Studien eine Tragödie unseres Alltags: Wir reden nicht mit anderen, weil wir nicht aufdringlich sein wollen. Wir glauben: Niemand interessiert sich für uns und unsere Geschichte. Und so bleiben wir oft einsam und stumm – umgeben von Mitmenschen, die sich nur zu gerne mit uns unterhalten würden und deren Leben wir ohne großen Aufwand ein wenig glücklicher machen könnten. Und umgekehrt.

Erfahrung hilft die Scheu zu überwinden, aber nicht lange

Doch wie lässt sich diese irrationale Scheu überwinden? Gillian Sandstrom hat dazu eigene Workshops veranstaltet. Eine ihrer Erkenntnisse lautet: Die meisten fürchten sich nicht so sehr vor der Reaktion ihrer Mitmenschen – sondern eher davor, dass die Unterhaltung irgendwie komisch verlaufen könnte.

Sandstrom hat inzwischen mehrere Techniken ausprobiert, um diese Angst auszuhebeln. Man weiß zum Beispiel schon länger, dass wir andere dann sympathischer finden, wenn sie uns ähneln. Fällt es einem also leichter, Leute anzusprechen, mit denen man augenscheinlich viel gemeinsam hat? Sandstrom schüttelt den Kopf. „Das dachten wir anfangs auch. Leider funktioniert es nicht: Die Scheu schwindet nicht durch Ähnlichkeit.“ Was jedoch zu helfen scheint, ist Erfahrung. Sandstrom entdeckte: Wer gerade ein angenehmes Gespräch mit einer unbekannten Person hinter sich hat, fürchtet sich kaum noch vor weiteren Unterhaltungen dieser Art. „Allerdings hält dieser Effekt nicht lange an“, sagt Sandstrom. Er dürfte – so vermutet die Forscherin – schon einen Tag nach einer solchen Begegnung wieder völlig verschwunden sein.

Wir bleiben zu lange bei ein und demselben Thema

Unsere Scheu vor Unterhaltungen mit fremden Menschen lässt sich also womöglich durch keinen noch so klugen Taschenspielertrick überlisten. Warum das so ist? Darüber hat der Philosoph Aristoteles sich im alten Athen ein paar sehr grundsätzliche Gedanken gemacht. Sein berühmtes Fazit: „Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling.“ Die Scheu vor Fremden verliert man nicht durch ein einziges gelungenes Gespräch. Sondern wohl nur durch beständige tägliche Übung.

Fest steht aber auch: Gänzlich unbegründet ist die Sorge vor einem unbehaglichen Gesprächsverlauf nicht. Solche peinlichen Momente sind schnell hergestellt. Wie eine Gruppenstudie im Jahr 2011 gezeigt hat, genügen schon vier Sekunden Stille, um sie auszulösen. Entsprechend groß ist unser Interesse, derlei Pausen zu vermeiden und das Gespräch möglichst geschmeidig am Laufen zu halten.

Signale raten

Wie geschieht das? Verfügen wir vielleicht über einen siebten Sinn dafür, welche Themen den anderen interessieren und welche nicht? Das fragten sich die Harvard-Psychologen Michael Yeomans und Alison Wood Brooks. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Ob der andere ein Thema spannend findet oder nicht, das errieten die Probanden mit einer Treffergenauigkeit von nur 56 Prozent – man hätte nicht viel schlechter gelegen, wenn man stattdessen eine Münze geworfen oder gewürfelt hätte. Doch wie kann man besser darin werden, die Signale der anderen zu deuten?

Darauf fanden Yeomans und Brooks eine überraschende Antwort: Man solle zum Beispiel darauf achten, wann einen sein Gesprächspartner unterbreche. Der Akt des Unterbrechens sei meist nicht etwa ein Zeichen von Desinteresse, sondern ein starkes Indiz dafür, dass der andere gerne weiter über das entsprechende Thema reden möchte. Yeomans und Brooks entdeckten aber noch mehr: Unsere Blindheit für die Interessen der anderen führt offenbar dazu, dass wir viel länger an ein und demselben Thema kleben bleiben, als wir und unser Gesprächspartner eigentlich wollen. Wir verhalten uns wie Seefahrer, die mit ihrem Boot allzu nah am Ufer bleiben – aus Angst vor der unbekannten Welt jenseits des Horizonts. Und genau das ist ein Fehler, wie die Daten von Yeomans und Brooks nahelegen: Ein lockerer Wechsel von Themen macht ein Gespräch im Durchschnitt nämlich angenehmer und lebendiger.

Themen selbst setzen

Doch wie kann es gelingen, eine solche Lebendigkeit bewusst herzustellen? Etwa indem man seine Wünsche ganz explizit anspricht. Nach dem Motto: „Ich möchte jetzt gerne mit dir über deinen Job reden, das interessiert mich!“ Gute Freunde können sogar einen Schritt weitergehen und vorab eine Art Themenplan für sich erstellen: „Heute gehen wir nicht auseinander, ohne über die Kinder und den letzten Urlaub gesprochen zu haben.“ Mag sein, dass eine solche Aufforderung im ersten Moment ein wenig gestelzt klingt – doch sie führt, so glauben Yeomans und Brooks, zu mehr Wohlbefinden und zu einem Gefühl größerer Verbundenheit.

Nicht nur das Setzen von Themen, sondern auch der Sprung von einem Thema zum nächsten ist eine komplizierte Sache. Der größte Themenwechsel von allen kommt übrigens ganz am Schluss einer Konversation: Man beschließt, dass man nun genug geredet hat und das Gespräch beenden möchte. Wie gut uns dieser Ausstieg gelingt, hat der Psychologe und Improvisationsschauspieler Adam Mastroianni von der Harvard University untersucht. Seine Antwort lautet: Der geschmeidige Ausstieg aus einer Unterhaltung misslingt so gut wie immer. Wir reden länger, als wir eigentlich wollen, oder kürzer, als uns lieb ist. Und zwar aus zwei Gründen. „Zum einen sind unsere Vorlieben nur selten kompatibel zueinander“, sagt Adam Mastroianni. „Der eine möchte gerne länger reden, der andere eher nicht. Es gibt also nur selten eine Gesprächslänge, mit der beide total glücklich wären.“ Der zweite Grund? „Es fällt uns offenbar sehr schwer, die Wünsche unseres Gegenübers richtig zu lesen. Wann will der andere gerne das Gespräch beenden? In dieser Frage verschätzen wir uns im Durchschnitt um 50 Prozent.“

Wann ist ein gutes Ende?

Was kann man dagegen unternehmen? Wie wird man besser darin, ein Gespräch rechtzeitig zu beenden? „Dazu liegen uns derzeit noch keine guten Daten vor“, sagt Adam Mastroianni. „Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen: Man verabschiedet sich lieber ein bisschen früher als ein bisschen später.“ Gespräche sind also wie Sahnetorte. „Ich hätte noch Lust auf mehr gehabt“ – das fühlt sich einfach besser an als „Ich hab mehr gegessen, als ich wollte“.

Doch Adam Mastroianni hat auch etwas Ermutigendes festgestellt: Offenbar ist es nicht schlimm, dass wir das Ende eines Gesprächs praktisch immer verpatzen. Denn trotz des suboptimalen Ausstiegs fühlten sich fast all seine Probanden nach ihren Unterhaltungen besser und zufriedener als davor. „Gespräche enden oft wie ein Auffahrunfall“, konstatiert der Harvard-Forscher, „aber dann gehen alle nach Hause und sagen: Mensch, das war ja richtig nett!“

Zuhören wird überschätzt

Im Grunde ist dieses Glück der zufälligen Gespräche nicht verwunderlich. Menschen streben danach, Beziehungen zu anderen aufzubauen und aufrechtzuerhalten – dies ist eine der fundamentalen Erkenntnisse der Sozialpsychologie. Wir alle haben das „Bedürfnis nach Zugehörigkeit“ (need to belong).

Doch während eines Gesprächs ist noch eine weitere Kraft am Werk: Wir bleiben gefangen in unserer eigenen, engen Sicht auf die Welt. Wir machen zum Beispiel Fehler, wenn wir einschätzen sollen, wie unser Gegenüber sich gerade fühlt. Dies ist selbst dann der Fall, wenn wir uns ganz bewusst in die Lage des anderen versetzen – der Perspektivwechsel scheitert fast ebenso häufig, wie er gelingt.

Im Zweifel: Ein Zuviel an Emotionen unterstellen

Welche Konsequenzen hat das im Alltag? Dies hat Nadav Klein von der University of Chicago untersucht. Seine Probanden sollten einschätzen, wie intensiv ihre Gesprächspartner bestimmte Emotionen während einer Unterhaltung erlebten. Der andere berichtete etwa von einem nervigen Erlebnis bei der Arbeit. War er dabei „leicht verstimmt“, „verärgert“ oder „außer sich vor Wut“? Wie nicht anders zu erwarten, tippten die Versuchsteilnehmer in dieser Frage häufig falsch. Überraschender waren jedoch die Folgen dieser Fehlurteile. Klein entdeckte: Wer unsere Emotionen unterschätzt, dem unterstellen wir mangelndes Einfühlungsvermögen. Wir haben den Eindruck, ihm nicht wichtig zu sein. Werden unsere Gefühle dagegen überschätzt, bleiben solche Negativ­urteile aus. Nadav Klein empfiehlt deshalb: Es ist besser, einem Gesprächspartner ein wenig zu viel Emotionalität zu unterstellen. Und man solle sich in Gesprächen „davor hüten, die Gefühle der anderen zu bagatellisieren“.

Einen etwas humorvolleren Blick auf unsere sozialen Fehlurteile wirft eine Studie von Hanne Collins. Die Harvard-Psychologin wollte wissen: Wie gut merken wir eigentlich, ob der andere uns zuhört oder nicht? Ihr Versuchsaufbau ist ein wenig gemein und deshalb ausgesprochen unterhaltsam. Collins setzte immer zwei Unbekannte zusammen in einen Raum und hielt sie dazu an, sich zu unterhalten. An der Wand hinter der einen Person hing ein Fernseher, auf dem – mit ausgeschaltetem Ton – irgendwelche Reklame lief. Bei der Hälfte der Zweierteams würzte Collins den Versuch nun mit einer geheimen Zusatzanweisung an jene Personen, die das TV-Gerät direkt im Blick hatten. Sie würden eine Extrabezahlung für jeden Werbespot erhalten, an den sie sich hinterher erinnern konnten. Collins verführte einen Teil ihrer Probanden also dazu, den Worten ihres Gegenübers nur mit halber Aufmerksamkeit zu folgen.

Der andere hört nicht zu – und wirkt besonders nett

Der Trick wirkte: Die Testpersonen konzentrierten sich brav auf den Fernseher und holten sich hinterher ihre Belohnung ab. Das war leicht verdientes Geld! Aber jetzt kommt das Verblüffende: Dass sie, da abgelenkt, an der Unterhaltung kaum interessiert waren, fiel zu Collins’ Überraschung kaum jemandem auf. Im Gegenteil: Die Gesprächspartner fanden die Konversation mit den Reklameguckern im Durchschnitt sogar besonders nett und angenehm. Für unser Wohlbefinden scheint es also keine Rolle zu spielen, ob der andere wirklich zuhört oder nicht. Es genügt bereits, dass wir seine Aufmerksamkeit zu haben glauben.

Doch auch als Zuhörer machen wir uns allerhand Illusionen, wie Collins’ Kollege Gus Cooney jetzt nachgewiesen hat. Die Anregung für seine Studie stammt aus einer Situation, die vermutlich jeder schon einmal erlebt hat: Man hatte ein Bewerbungsgespräch, ein Date, eine verrückte Begegnung – und später erzählt man seinen Freunden davon. Weil man aber viele Freunde hat, erzählt man die Geschichte mehrmals. Spürt unser Zuhörer, ob er der Erste ist, der die Geschichte hört? Oder vielleicht doch nur der Zehnte? Cooney bat 16 Freiwillige darum, eine Anekdote zum Besten zu geben – und die Sache dann neunmal zu wiederholen. Die entsprechenden Videos zeigte er anderen Versuchsteilnehmern. Die sollten raten: Wie neu war die jeweilige Erzählung? Zum wievielten Mal wurde sie vorgetragen?

Die Ergebnisse zeigen, dass wir die „Frische“ einer Schilderung dramatisch überschätzen. Selbst wenn man den Probanden nur die erste und zehnte Fassung zeigte, fiel es vielen schwer, einen Unterschied zu hören. Sie hielten Version Nummer zehn für Version Nummer eins und umgekehrt. Doch warum ist das so? Weil wir dabei vor allem auf zwei Faktoren achten: Wie enthusiastisch wirkt der Erzähler? Und wie klar strukturiert ist seine Geschichte? Das klingt zwar plausibel, ist aber eine untaugliche Strategie. Denn Cooneys Studie zeigt, dass weder Klarheit noch Begeisterung sich groß verändern, wenn wir etwas schon einmal vorgetragen haben. Zumindest für Redner und Comedians ist das eine gute Botschaft. Offenbar können sie ihre Ansprachen und Witze so oft auf die Bühne bringen, wie sie wollen – das Publikum wird stets den Eindruck haben: Das hat er sich nur für uns ausgedacht!

Wir sind gefragte Gesprächspartner

Was lernt man unterm Strich aus der neuen Psychologie des Alltagsgesprächs? Dass kleine, zufällige Begegnungen gut für uns sind. Dass wir dabei aber Fehler über Fehler begehen, ohne es zu merken: Wir haben keine Ahnung, worüber der andere reden will, wie er sich fühlt, ob er uns überhaupt zuhört und wie frisch seine Erzählungen sind. Noch nicht einmal einen eleganten Abschied kriegen wir hin. Das sind keine besonders schmeichelhaften Ergebnisse.

Dennoch gibt es zum Schluss noch eine ermutigende Nachricht. Sie stammt von der Psychologin Erica Boothby, jetzt an der University of Pennsylvania. In mehreren Experimenten stellte sie zum einen fest: Je länger ein zufälliges Gespräch dauert, desto mehr scheint unser Wohlbefinden im Durchschnitt davon zu profitieren. Ein kurzer Wortwechsel mit einem Unbekannten tut gut. Ein längeres Gespräch ist vermutlich besser.

Boothby fand aber noch mehr heraus. Nämlich dass unser Gesprächspartner uns fast immer sympathischer und interessanter findet, als wir glauben. Dass die andere Person uns vermutlich gerne wiedersehen möchte – auch wenn wir glauben: „Er war froh, dass er mich los war.“ Das ist ein ungewöhnlicher Fund. Denn in den meisten Bereichen unseres Lebens neigen wir dazu, uns als attraktiver, klüger und besser zu sehen, als wir eigentlich sind. Woher kommt die Selbstunterschätzung während eines Gesprächs? Ganz einfach: Wir selbst erinnern uns vor allem an jene Momente, in denen wir uns irgendwie peinlich benommen haben. Boothby entdeckte jedoch, dass derlei Episoden für den anderen nur selten relevant sind. Sie fallen kaum ins Gewicht. Dies führe dazu, dass wir „nach einem Gespräch von anderen mehr gemocht werden, als wir glauben“.

Man muss sich ein Gespräch denken wie ein Händeschütteln, wie einen Tango, eine Umarmung, einen Kuss. Es geht nicht ohne den anderen. Was genau dabei geschieht? Lässt sich nicht planen. Doch es verbindet uns miteinander, jedesmal, ob wir es merken oder nicht.

Die meisten der hier geschilderten Studien wurden Anfang 2019 auf der SPSP-Konferenz in Portland vorgestellt: meeting.spsp.org/2019

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2019: Mut zur Angst