Wer braucht schon Realität?

Dass wir die Wirklichkeit nicht erfassen können, ist im Sinne der Evolution, behauptet Daniel Hoffman in seinem neuen Buch.

Würden Sie sich einem heranbrausenden Sportwagen in den Weg stellen oder einen verschimmelten Apfel essen? Wohl kaum. Aber bedeutet das, dass diese Dinge auch wirklich so existieren, wie sie uns erscheinen? Wohl kaum. Denn für unser Überleben reicht es, wenn wir unsere Wahrnehmungen ernst nehmen. Aber wörtlich oder gar als Wahrheit nehmen, müssen wir sie nicht. Wenn wir auf unserem Tablet das Icon einer Datei in den Papierkorb verschieben, kennen wir deren detaillierten Inhalt mit all seinen Aneinanderreihungen von digitalen Bits ja auch nicht. Uns genügt das Wissen, dass sie danach gelöscht ist.

Es sind solche anschaulichen Beispiele und Vergleiche, mit denen der US-amerikanische Psychologe Donald Hoffman seine Reise garniert, an deren Ende für den Leser gewiss wird, dass an der Welt, wie er sie wahrnimmt, eigentlich nichts gewiss ist. Zu ähnlichen Erkenntnissen kamen schon Philosophen wie Demokrit und Descartes, doch neu an Hoffmans Theorie ist die These, dass unser Nicht-erkennen-Können der Welt ausdrücklich im Sinne der Evolution ist. Denn, so Hoffmans Erklärung, „die natürliche Selektion bevorzugt eher Wahrnehmungen, die die Wahrheit verbergen und stattdessen zu hilfreichen Handlungen anleiten“.

Und auch diese These weiß Hoffman mit einem verblüffenden Vergleich zu veranschaulichen: Angenommen, ein Organismus bräuchte für sein Überleben eine mittlere Sauerstoffkonzentration in der Luft, während höhere und tiefere Konzentrationen für ihn tödlich sind. Würde er alle Sauerstoffkonzentrationen sehen können, würde er sich wahrscheinlich auf die höchste zubewegen und sterben. Aber wenn er nur mittlere sehen kann und für hohe blind ist, kann er überleben. Und genauso ist es mit unserer Wahrnehmung der Realität. Ein Ding „an und für sich“ zu erkennen, würde nur Zeit und Energien kosten, die dann fürs Überleben fehlten. Also besser, wir beschränken uns auf die Erkenntnis dessen, was an dem Ding bedeutungsvoll für uns ist.

Als psychologisch interessierter Leser würde man nun vielleicht gerne wissen, was die evolutionsbedingte Bedeutungshoheit in unserer Wahrnehmung für den zwischenmenschlichen Umgang oder auch unser Verhältnis zu uns selbst bedeutet. Doch Hoffman unternimmt stattdessen lieber Ausflüge zu Quantenmechanik und Synästhesie (wenn Menschen beispielsweise in der Hand spüren, was sie im Mund schmecken). Ferner führt er aus, warum Raum und Zeit auch nur ein Interface, also eine Schnittstelle sind, die im menschlichen Geist existiert.

All das gelingt ihm mit hohem Unterhaltungswert, zu dem auch sein eigentümlicher Humor beiträgt („Sollten Steine Orgasmen haben wie wir, können sie das ziemlich gut verbergen“). Doch wer konkrete Schlussfolgerungen für seinen persönlichen Alltag erwartet, muss auf weitere Bücher von Donald Hoffman hoffen.

Donald D. Hoffman: Relativ real. Warum wir die Wirklichkeit nicht erfassen können und wie die Evolution unsere Wahrnehmung geformt hat. Aus dem Amerikanischen von Jörn Pinnow. Dtv, München 2020, 360 S., € 22,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2020: Meine Zeit kommt jetzt
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