Ich! Ich! Ich!

In vielen Gesprächen scheinen beide nur ein Thema zu kennen: sich selbst. Wie gelingt es, diese Doppelmonologe in echte Begegnungen zu verwandeln?

Die Illustration zeigt einen Mann am Pingpong-Tisch, der angeregt spricht und dabei Ping-Pong mit sich selbst spielt, während seine Spielpartnerin gelangweilt schaut
Eine Unterhaltung sollte ein Hin und Her der Gesprächspartner sein – doch meist spielt man sich selbst nur den Ball zu. © Karolin Nusa

Beginnen wir mit einem Ratespiel. Zwei Männer sitzen an einem Restauranttisch. Dustin Hoffman und Ben Stiller spielen Vater und Sohn. Der Sohn (Ben Stiller) sagt:

„Hab ich dir schon erzählt, was sich bei mir bei der Arbeit verändert hat? Ich hab meine eigene Firma gegründet. Das war nicht einfach am Anfang. Aber inzwischen läuft’s und wir sind gut dabei.“

An dieser Stelle klicken wir auf Pause und überlegen. Wie wird die Szene wohl weitergehen? Vielleicht wird der Vater gütig nicken und sagen: „Das klingt…

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sagen: „Das klingt toll, mein Sohn. Ich freu mich für dich!“ Oder wird er eine empathische Folgefrage stellen? „Mutig, mein Sohn! Wie bist du auf die Idee gekommen, Unternehmer zu werden?“ Oder er könnte seine väterlichen Sorgen zum Ausdruck bringen: „Ich bewundere deinen Mut. Aber hast du dir das auch gut überlegt?“

Was meinen Sie? Welche der drei Reaktionen ist am wahrscheinlichsten: Beifall? Folgefrage? Besorgnis?

Eine überraschende „Antwort

Wir drücken auf Start – und erleben eine Überraschung. Denn Dustin Hoffman entgegnet nichts dergleichen. Stattdessen sagt er:

„Maureen kennt da jemanden von der Times.“

Maureen, das ist die derzeitige Ehefrau des Vaters. Will er vielleicht seine Hilfe anbieten und die Firma des Sohnes per Zeitung bekannter machen? Ben Stiller versucht es erneut:

„Wir bekommen ständig Anfragen.“

Dustin Hoffman fällt ihm ins Wort:

„Sie will ihn überreden, was über die Ausstellung zu schreiben.“

Ach ja! Dustin Hoffman spielt einen pensionierten Bildhauer, der bald eine Ausstellung bekommen soll. Ben Stiller setzt nach:

„Die Firma…“

Doch weiter kommt er nicht.

„Ich wurde von der Times ab einer bestimmten Zeit einfach ignoriert“, räsoniert Dustin Hoffman, ohne seinem Sohn zuzuhören.

„Viele der Kunden sind einfach bei mir geblieben“, entgegnet Ben Stiller.

„Und plötzlich wäre ich wieder im Spiel“, sagt Dustin Hoffman.

Was für ein seltsames Gespräch! Die beiden scheinen überhaupt nicht aufeinander zu reagieren. Jeder redet nur von sich – und keiner hört zu. Jetzt zückt Ben Stiller sein Smartphone und hält es Dustin Hoffman vors Gesicht. „Unser Logo“, sagt er.

Dustin Hoffman schaut sich kurz das Handy seines Sohnes an und nickt. Dann deutet er auf die Speisekarte und schüttelt empört den Kopf: „55 Dollar für ein Steak?“

Dieser beklemmende Solodialog stammt aus The ­Meyerowitz Stories aus dem Jahr 2017. „Es wird sehr viel geredet in diesem Film – und zugleich sehr wenig kommuniziert“, erläutert der Autor und Regisseur Noah Baumbach in einem Interview. Er habe mit dem Film „ein Stück Psychologie in eine Handlung übersetzen“ wollen.

Hat Noah Baumbach da einen Trend eingefangen? Verkommen unsere Unterhaltungen tatsächlich immer mehr zu Selbstgesprächen vor Publikum? Psychologen machen ihre Experimente, Filmemacher schreiben ein Drehbuch. Sie betrachten unsere Erfahrungen, unsere Marotten, unsere Dialoge unter einem Vergrößerungsglas, damit wir alle besser sehen, besser fühlen, besser erkennen können, was uns umtreibt in dieser Welt.

The Sounds of Silence

Anruf bei einem, der sich mit solchen Dingen auskennt. Professor Jim Burnstein lehrt hauptberuflich Drehbuchschreiben an der University of Michigan und ist Autor mehrerer Hollywoodfilme. Er hat sich auf unser Skype-Gespräch vorbereitet. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Drehbücher. Tatsächlich hat Burnstein ein paar typische Egodialoge, die ja eigentlich Doppelmonologe sind, in den großen Filmen der jüngsten Zeit ausfindig gemacht.

Er liest mir einige Passagen vor, etwa aus Die zwei Päpste einen Dialog zwischen Benedikt und Franziskus. Dann wechselt er zu Marriage Story, dem aktuellen Film von Noah Baumbach. Hier sind es Ehemann und Ehefrau, die zunächst unfähig sind, einander wirklich zuzuhören. „Das bricht einem das Herz“, sagt Burnstein.

In seinen Vorlesungen gibt es einen Satz, den er den Studierenden immer wieder eintrichtert: Bei einem guten Drama müssen die handelnden Personen in jeder Szene „etwas unbedingt wollen – aber allergrößte Schwierigkeiten haben, es auch zu kriegen“. So kommt der Pfeffer ins Ragout! Ben Stiller will, dass sein Vater ihn bewundert. Dustin Hoffman will umgekehrt, dass sein Sohn ihn bewundert. Und am Ende bekommt keiner, was er braucht. Ist das die Tragödie unserer Zeit? Jim Burnstein zögert. Dieser Subtext sei in Hollywood zwar heute vorhanden – aber nicht wirklich neu. „Denken Sie nur an Die Reifeprüfung“, sagt er.

Eine vorgeplante Choreographie

Dieser Film aus dem Jahr 1967 war der große Durchbruch für Dustin Hoffman (ausgerechnet!). Burnstein hält ihn zugleich für „die Morgendämmerung des modernen Kinos“. Dass niemand wirklich mit dem anderen redet – trotz all der Worte –, sei geradezu das heimliche Thema des Films. „Hören Sie sich nur mal den Soundtrack an“, sagt Burnstein, „vor allem den Song The Sounds of Silence von Simon & Garfunkel. Dort heißt es wörtlich: Die Leute reden, aber sie sagen nichts. Die Leute hören, aber sie hören nicht zu.“

Dustin Hoffman hat in einem Interview zu The Meyerowitz Stories einen bemerkenswerten Satz fallenlassen. Seit der Reifeprüfung sei dies der erste Film gewesen, bei dem man ihn gezwungen habe, jedes Wort genau wie im Drehbuch zu sprechen. Sein Monolog folgt einer exakt vorgeplanten Choreografie.

Ein Beispiel der ganz anderen Sorte liefert die wunderbare Netflix-Serie Easy. Immer wieder ereignen sich darin Gespräche, die wie perfekte Lehrbeispiele in gelungener Kommunikation klingen. Es kommt dabei zu wirklichen, tiefen Verbindungen. Die Serie zeigt, was alles möglich ist, wenn man sich wirklich aufeinander einlässt. Die Dialoge dazu? Sind allesamt improvisiert. Regisseur Joe Swanberg machte seinen Schauspielern dabei nur eine einzige Vorgabe: Sie mussten beim Spielen wirklich miteinander reden und einander wirklich zuhören. „Ich muss als Regisseur nur fühlen, ob das auch passiert oder nicht, genau das ist mein Job“, sagt Swanberg in einem Interview. Es ist also – jedenfalls bei geübten Akteuren und mit der richtigen Einstellung – doch möglich, tiefe und wahrhaftige Gespräche zu führen.

Die Wissenschaft der Egodialoge

Doch was weiß die Psychologie über die Natur unserer realen Alltagsgespräche? Wie häufig reden wir dabei von uns selbst? Die Forschung dazu reicht weit zurück. Schon in den 1920er Jahren haben Wissenschaftler heimlich Gespräche auf belebten Straßen oder in Bars belauscht. Glaubt man ihren Berichten, dann ging es damals in den Dialogen unter Männern um völlig andere Themen als in den Gesprächen zwischen Frauen. Die Männer sprachen vor allem übers Geschäftliche. Die Frauen hingegen unterhielten sich – man schämt sich fast, es zu zitieren – in erster Linie über Männer oder über Mode.

Aktuellere Untersuchungen kommen zu anderen Ergebnissen, wenngleich man auch dort Unterschiede zwischen den Geschlechtern registriert hat. So hat der in Oxford lehrende Evolutionspsychologe Robin Dunbar herausgefunden: Wenn Männer unter sich sind, reden sie etwa in 25 Prozent der Zeit von sich selbst. Sobald eine Frau sich in der Runde befindet, steigt der Egoanteil auf etwas mehr als 42 Prozent. Frauen reden im Schnitt sogar noch ein wenig häufiger von sich. Bei ihnen geht diese Quote allerdings um ein paar Prozent zurück, wenn Männer zugegen sind. In solchen gemischtgeschlechtlichen Runden, so zeigt die Forschung, neigen Männer auch eher dazu, Frauen zu unterbrechen, als das umgekehrt der Fall ist.

Fazit: Ich-ich-ich-Sprecher gibt es unter Männern wie unter Frauen. Frauen, so glauben zumindest Dunbar und seine Kollegen, wollen damit ihr soziales Gefüge geschmeidig halten. Männer dagegen wollen in erster Linie ihre weiblichen Zuhörer beeindrucken. Die Monologe seien pure „Angeberei“ und vergleichbar mit männlichem Steinzeitverhalten: dem Geprahle darüber, wer bei der letzten Jagd das größere Mammut erlegt hat. Zugegeben: Solche evolutionspsychologischen Erklärungen haben letzthin etwas von ihrer Strahlkraft verloren. In den Sozialwissenschaften würde man wohl eher auf die überbrachten Rollenbilder in der westlich-patriarchalen Gesellschaft verweisen: Die Männer reden so viel von sich, weil man es von ihnen erwartet. Sie erklären einem Sachen, die man eh schon weiß.

Die „Meformer

Doch egal was der Grund für selbstdarstellerische Vorträge auch immer sein mag: Sie gehen einem als Zuhörer meist mächtig auf die Nerven. Evolutionsbiologe Dunbar sammelte seine Daten vor dem großen Durchbruch von Smartphone und sozialen Medien. Könnte es sein, dass mit dem Siegeszug des fotografischen Selfies auch die Selbstverliebtheit unserer Sprache zugenommen hat?

Diese Frage beantwortet eine Untersuchung des Informatikers Mor Naaman von der Cornell University. Er analysierte dafür mehrere tausend Twitter-Botschaften – und fand einen ähnlichen Trend, wie ihn Jahre zuvor sein Kollege Dunbar entdeckt hatte. Bei vier von fünf Teilnehmern handelte es sich um sogenannte „Meformer“, also um Menschen, bei denen viele der Tweets von dem betreffenden Nutzer selbst sprachen und von dem, was er oder sie gerade so dachte, trieb und erlebte. Immerhin ein Fünftel der Nutzer zeigte hingegen ein ganz anderes Kommunikationsverhalten: Sie sprachen vor allem über Dinge, die irgendwo draußen in der Welt passierten. Diese „Informer“ hatten im Durchschnitt deutlich mehr Freunde und Follower auf Twitter. Ihre Nachrichten fanden also ein größeres Publikum. Was wir selbst denken und erleben, das mag für uns persönlich besonders spannend sein. Für unsere Mitmenschen ist es das aber offenbar nicht.

Interessant: Auch Mor Naaman und seine Kollegen fanden einen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Frauen sprachen auch hier im Durchschnitt etwas häufiger von sich (45 Prozent der Tweets), als das bei den Männern der Fall war (37 Prozent).

Narzissmus in Worten?

Ein bisschen Egotalk scheint normal zu sein und niemanden besonders zu stören. Doch manche Menschen übertreiben es mit der Ichverliebtheit in Gesprächen. Kommunikationsforscher von der University of Texas bezeichnen solche Menschen als „Konversationsnarzissten“. Ihrer Forschung zufolge unterstreichen solche Zeitgenossen ihre Worte mit extrem weit ausholenden Arm- und Handbewegungen, sie sprechen lauter und viel mehr als ihr Gegenüber, sie unterbrechen andere und lenken das Gespräch immer wieder auf sich selbst – Dustin Hoffman und Ben Stiller lassen grüßen!

Doch wie reagieren Gesprächspartner auf diese extremen Verbal-Ego-Shooter? Auch hierbei fanden die Forscher eine Taktik, die an den eingangs beschriebenen Dialog zwischen Stiller und Hoffman erinnert: Einige Personen fingen an, ebenfalls eifrig zu unterbrechen und ausgiebig von sich selbst zu sprechen. Sie zahlten es den Konversationsnarzissten also mit gleicher Münze heim und starteten sozusagen eine Art Armdrücken in Selbstbeweihräucherung. Der Regelfall war diese Strategie jedoch nicht. Die allermeisten Menschen verfolgten eine eher passive Taktik: Sie versuchten zunächst, das Gespräch dezent auf ein anderes Thema zu lenken. Und wenn das nicht gelang, ließen sie ihre selbstverliebten Dialogpartner einfach stehen. Das hat vermutlich jeder schon einmal erlebt: In der Partyvariante entschuldigt man sich – und verdrückt sich dann dezent in Richtung Toilette.

Wie Pingpong

Warum solche Ichmonologe so unangenehm für die Zuhörer sind, verrät eine Studie der Psychologin Emma Templeton von der Dartmouth University, die sie Anfang 2020 auf einer Fachkonferenz in New Orleans vorgestellt hat. Templeton analysierte eine Vielzahl von Zweiergesprächen und befragte die einzelnen Teilnehmer hinterher, wie gut sie sich während der Unterhaltung gefühlt hatten. Eines der Ergebnisse: Die Konversation war dann weniger erfreulich, wenn die Gesprächsanteile sehr ungleich verteilt waren. Besonders angenehm waren hingegen jene Unterhaltungen, bei denen beide etwa gleich viel redeten und bei denen die Rede häufig hin und her wechselte.

Anders gesagt: Gute Gespräche funktionieren wie Pingpong! Und das sogar im doppelten Sinn. Bekanntermaßen handelt es sich beim Tischtennis um die schnellste Rückschlagsportart der Welt. Und auch in Gesprächen kommt es auf die Reaktionsschnelligkeit an. Um das zu zeigen, spielte Emma Templeton ihren Probanden immer dieselbe Unterhaltung vor. Allerdings hatte sie die Aufzeichnung heimlich manipuliert. Für die Hälfte der Versuchsteilnehmer hatte sie die Pausen zwischen den Wortbeiträgen um ein paar Millisekunden verkürzt, für die andere Hälfte um ein paar Millisekunden verlängert. Die Version mit den etwas längeren Pausen schien bei den Zuhörern signifikant schlechter anzukommen als die mit den kurzen Pausen. Ausgeglichene Redezeit, häufige Wechsel, kurze Pausen – all diese Merkmale guter Gespräche sind in einer Egounterhaltung schlechterdings nicht zu haben.

Dem Ichsager Beachtung schenken

Aber vielleicht kann es sich doch lohnen, auch in einer solchen Konversation nicht gleich Reißaus zu nehmen. In einer großangelegten Studie haben James Pennebaker von der University of Texas und seine Kollegen die These von den „Konversationsnarzissten“ relativiert. Sie wollten wissen, ob es überhaupt stimmt, dass Menschen besonders selbstverliebt sind, wenn sie – in deutscher und englischer Sprache – häufig in der ersten Person Singular reden. Das erstaunliche Ergebnis: Zwischen Selbstverliebtheit und Ichgebrauch gibt es praktisch keinen statistischen Zusammenhang. Wer viel von sich selbst redet, ist nicht unbedingt ein narzisstischer Prahlhans.

Die Vorliebe für das Wort „ich“ offenbart jedoch noch mehr, sie liefert Informationen über unseren sozialen Status, also darüber, ob wir uns in einer Situation für den Chef halten oder eher für einen Untergebenen. Verblüffend: Wer unentwegt „ich, ich, ich“ sagt, ist im Regelfall nicht der Boss. Vorgesetzte gebrauchten die Worte „ich“, „mir“ und „mein“ über fünf Studien hinweg durchgehend seltener als ihre Untergebenen. Die Chefs sprachen häufiger von „wir“ oder von „du“. Wenn uns also das nächste Mal jemand mit seinen verbalen Egobeiträgen langweilt, können wir immerhin sichergehen, dass er sich in der Regel nicht für etwas Besseres hält.

Genau dieses Wissen weist einen Weg aus der Falle von vermeintlichem Narzissmus auf der einen und Geringschätzung auf der anderen Seite. Denn sobald wir anfangen, die Monologe unserer Mitmenschen nicht als Überheblichkeit zu deuten, werden wir frei für einen spielerischen Umgang mit ihnen: Wir finden einen neuen Rahmen dafür, ein besseres Framing.

Der soziale Vergleich

Die wirksamsten Techniken lernt man dabei von Pfarrern, Reportern und Polizisten. Die wissen: In manchen Gesprächen redet einer viel mehr als der andere. Er redet praktisch nur von sich – und das ist durchaus erwünscht oder sogar erforderlich. Diese Gespräche nennt man: Beichte, Interview, Verhör. Auswahlgespräche in Firmen gehören ebenfalls auf diese Liste. Oder der Moment, in dem ein Freund sich ausheult, weil Liebeskummer ihn plagt. All diese Gesprächsgattungen setzt man in Gang, indem man nachfragt, zuhört und seinem Gegenüber jenen Raum gibt, das es gerade braucht. Das kann zu wunderbaren Erfahrungen führen.

Dass die Strategie funktioniert, weiß man unter anderem aus der Forschung über unser Verhalten auf Instagram oder Facebook. Die tollen Strandbilder unserer Freunde bereiten vielen schlechte Laune, weil man eben selbst gerade nicht unter Palmen ruht. Der soziale Vergleich macht unglücklich – vor allem jene, die nur passiv durch die Profile der anderen scrollen. Doch die Sache dreht sich für jene um, die anfangen, sich aktiv zu beteiligen. Sie klicken den Like-Button oder sie kommentieren mit einer Frage: „Wie gehts den Kindern?“ Beides macht tendenziell glücklicher – und zwar wiederum den Kommentator, nicht nur den Selbstdarsteller. Warum? Vermutlich weil es einen Wert erhöht, den Forscher als „soziales Kapital“ bezeichnen. Wir verbinden uns mit anderen Menschen – und diese werden uns eher helfen, wenn wir Unterstützung brauchen.

Mit anderen Worten: Gelegentliche Monologe sind eine Chance, Freundschaften zu schließen und zu pflegen. Das ist eine Erkenntnis, die unter dem Schlagwort „soziale Durchdringungstheorie“ seit den 1970er Jahren zum psychologischen Lehrbuchwissen gehört. Wer sich selbst offenbart – allerdings auch umgekehrt die Selbstoffenbarung der anderen zulassen kann –, wird tiefere und bessere Beziehungen und Freundschaften führen. Neuere Studien zeigen, dass diese Regel nicht nur für Offlinegespräche gilt, sondern auch für E-Mails, Facebook-Messenger, WhatsApp und dergleichen. Egogespräche können nerven. Aber wenn wir richtig mit ihnen umgehen, können wir sie erträglich gestalten – und vielleicht sogar als Basis nutzen, um besser miteinander in Kontakt zu kommen.

Obama, ein Ichling?

Im Rückblick klingt es wie ein schlechter Witz. Aber Donald Trumps Vorgänger Barack Obama wurde von konservativen Beobachtern regelmäßig dafür ausgeschimpft, in seinen Reden zu oft von sich selbst zu sprechen. Das permanente „Ich, ich, ich“, so hieß es, sei ein Zeichen von Überheblichkeit und Arroganz. Diese Vorwürfe inspirierten den Sozialpsychologen James Pennebaker zu einer linguistischen Herkulesarbeit: Er analysierte die Pressekonferenzen sämtlicher US-Präsidenten seit Harry Truman und zählte aus, wie häufig sie dabei Wörter wie „ich“, „mein“, „mir“, „mich“ verwendeten. Ergebnis: Kein anderer Präsident hatte so niedrige Ichwerte wie Oba­ma. Und wer hatte die höchsten? „Unter den modernen Präsidenten seit Roosevelt, von denen uns Pressekonferenzen vorliegen, steht Harry Truman an Nummer eins und George Bush senior an Nummer zwei“, sagt James Pennebaker. Er glaubt zugleich: Truman und Bush waren „vermutlich die unsichersten Präsidenten, die wir jemals hatten“.

Literatur:

Emma Templeton, Luke Chang, Thalia Wheatley: Predicting connection between friends and strangers in conversation. Vortrag auf der SPSP-Konferenz in New Orleans, 2020

Karen Huang, Michael Yeomans, Alison Wood Brooks, Julia Minson, Francesca Gino: It doesn’t hurt to ask: Question-asking increases liking. Journal of Personality and Social Psychology, 113/3, 2017, 430–452

Helmut Appel, Alexander Gerlach, Jan Crusius: The interplay between Facebook use, social comparison, envy, and depression. Current Opinion in Psychology, 9, 2016, 44–49

Angela Carey, Melanie Brucks, Albrecht Küfner, Nicholas Holtzman, Fenne große Deters, Mitja Back, Brent Donnellan, James Pennebaker, Matthias Mehl: Narcissism and the use of personal pronouns revisited. Journal of Personality and Social Psychology, 109/3, 2015, e1-e15

Sonja Utz: The function of self-disclosure on social network sites: Not only intimate, but also positive and entertaining self-disclosures increase the feeling of connection. Computers in Human Behavior, 45, 2015, 1–10

Philippe Verduyn, David Seungjae Lee, Jiyoung Park, Holly Shablack, Ariana Orvell, Joseph Bayer, Oscar Ybarra, John Jonides, Ethan Kross: Passive Facebook usage undermines affective well-being: Experimental and longitudinal evidence. Journal of Experimental Psychology: General, 144/2, 2015, 480–488

Ewa Kacewicz, James W. Pennebaker, Matthew Davis, Moongee Jeon, Arthur Graesser: Pronoun use reflects standings in social hierarchies. Journal of Language and Social Psychology, 33/2, 2014, 125–143

Mor Naaman, Jeffrey Boase, Chih-Hui Lai: Is it really about me? Message content in social awareness streams. Proceedings of the 2010 ACM conference on Computer Supported Cooperative Work, 2010, 189–192

Robin Dunbar, Anna Marriott, Neill Duncan: , Human Nature, 8/3, 1997, 231–246

Anita L. Vangelisti, Mark Knapp, John Daly: Conversational narcissism. Communication Monographs, 57, 1990, 251–274

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2020: ​Toxische Beziehung