„Das Leben ist eine missliche Sache, ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.“ Arthur Schopenhauer
Neulich habe ich mich in einem Interview entblößt. Nicht schlimm, nur wie folgt:
Der Interviewer fragte sinngemäß, warum es die Figuren in meinen Romanen und Erzählungen immer so schwer hätten.
Worauf ich, sinngemäß: Weil allein schon zum Supermarkt zu gehen einer Polarexpedition gleichkommt.
Worauf er: mich vollkommen verständnislos ansah.
Was hast du getan? Hättest du lieber…
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gleichkommt.
Worauf er: mich vollkommen verständnislos ansah.
Was hast du getan? Hättest du lieber „ein Abenteuer“ gesagt, das ist neutral, respektive für ihn, vermutlich, etwas Positives. Aber so hast du dich verraten, dass du nämlich findest, dass das Alltägliche schwer ist, während es für ihn…, wir wissen nicht, was es für ihn ist, jedenfalls nichts, was er mit einer Expedition vergleichen würde. Meine Figuren sind also womöglich tatsächlich anders, während ich dachte, ich beschriebe in ihnen etwas Durchschnittliches, sozusagen Normales. Dass dieses Durchwursteln, bei dem wir sie beobachten, „das Leben, wie es nun einmal ist“, sei.
Da wir nur zu zweit waren, blieb mir nach dieser Begegnung nur anzunehmen: Entweder ist er die Abweichung oder ich bin sie. Oder wir beide sind sie, aber wir hatten keine Dritte, keinen Dritten als Referenzpunkt dabei, um das weiter ausloten zu können. Aber es geht hier nicht darum, herauszufinden, was „normal“ ist. Reden wir darüber, sprechen wir es an und aus, was den grundsätzlichen Unterschied zwischen ihm und mir beim Gang zum Supermarkt oder vielleicht sogar generell ausmacht: dass er sich scheinbar keine Gedanken macht, was alles (leider meist: Negatives) geschehen könnte, und ich mir schon.
Ontologische Besorgtheit
Wer Diagnosen mag, könnte das schon eine Angststörung nennen, wer eher philosophisch veranlagt ist, könnte von einer ontologischen Besorgtheit sprechen – als Gegensatz zum von Péter Esterházy oft zitierten „ontologischen Frohsinn“. Letzterem liegt ein grundsätzliches Vertrauen in Gott und die Welt zugrunde, Ersterem das Gegenteil. Die Anfänge des Huhns und des Eis werden wir nicht finden können, belassen wir es dabei, dass ich mich an keinen Zeitpunkt in meinem Leben erinnern kann, da mir das, was mich umgab, nicht als mindestens seltsam, manchmal bizarr, gar absurd vorkam, auf jeden Fall einer Nachfrage wert. – Warum? Warum so? Was könnten die besten und die schlimmsten Folgen sein? Wieso reagiere ich so darauf und andere anders? Soweit ich das sehen kann, ist unser Sein doch recht ähnlich, warum also nicht auch unser Bewusstsein? Oder ist es doch ähnlicher, als es erscheint? Was ist die Schnittmenge und was liegt außerhalb dieser und was folgt daraus etc. etc.
Je nach Tagesform standen dabei Neugier und die freudige Erregung einer bald zu machenden Entdeckung, eines möglichen Verstehens im Vordergrund oder aber die niederschmetternde Überzeugung, man müsse sehr, sehr vorsichtig sein, denn offenbar könne hier alles geschehen, denn ganz eindeutig wüssten „die“ nicht, was sie tun, und zweifellos seien diese anderen ebenso „zu allem fähig“ wie „keine Hilfe“, das hätten wir doch schon mehr als einmal gesehen.
An einem guten Tag würde ich es so formulieren: Seit jeher hat mich alles in Erstaunen und Nachdenklichkeit versetzt. An einem nicht guten Tag schreibe ich einem Freund in einem Brief: „Ich war heute so vorsichtig auf der Straße, dass ich irgendwann merkte, dass ich mich nicht einmal traute, tief einzuatmen.“ An einem guten Tag reicht es, einmal um den Block zu gehen, und wenn ich wieder zu Hause angekommen bin, habe ich genug Material für mindestens eine Erzählung, fühle mich beschenkt und bin dankbar. An einem schlechten Tag bedeutet das, dass es nicht möglich ist, um den Block zu gehen. Die meisten Tage sind mittlere Tage, wenn das gut trainierte hochsensible Individuum zu sich sagt: Also, hör mal, das Absurde ist nicht draußen, sondern eindeutig drinnen, denn Luft zu holen solltest du dich mindestens trauen, selbst an einer stark mit Feinstaub belasteten Straße, die von Bäumen gesäumt ist, auf die du allergisch bist – wo kämen wir sonst hin? (Und die Antwort könnte lauten: dorthin, wo manche Angstgestörte einfach ohnmächtig werden.)
Die Bewusstheit steigern
Ich war noch nie ohnmächtig in meinem Leben und auch nur einmal betrunken und selbst das nur versehentlich. Das Ausschalten oder Betäuben der Sinne, des Bewusst-Seins ist eine oft und gerne angewandte Strategie, sich Erleichterung bei Überforderung (sei es nun durch zu viel oder zu wenig Reize) zu verschaffen – und wem das in einem nicht zerstörerischen Maße möglich ist, hat meinen Segen und ab und zu auch meinen Neid. Mein Verständnis und ab und zu mein Bedauern genießen diejenigen, mir Ähnlicheren, deren Rolle es ist, dabei nur Zuschauer sein zu können. Zum einen ist unsereins natürlich neugierig, wir wollen sehen, was wann wie ist, aber im Grunde fühlen wir uns einfach nicht ausreichend in Sicherheit, um unsere Sinne nicht unter allen Umständen beieinander behalten zu wollen.
Also bleibt uns nur der Weg, die Bewusstheit noch weiter zu steigern. Dafür gibt es Techniken, die man sich, wenn man entsprechend veranlagt ist, notgedrungen von Anfang an selbst beibringt. „Sie seufzen so schön!“, sagte neulich eine ältere Nachbarin zu mir im Treppenhaus. „Ja“, sagte ich, „weil ich dazu neige, zwischendurch die Luft anzuhalten, und dann seufze ich, damit es wieder losgeht.“ „So geht es mir auch immer“, sagte sie, und wir lächelten und wünschten einander einen guten Tag.
Das geschah, wie ich hinzufügen muss, vor der Pandemie einer Lungenkrankheit. Die Allzweckwaffe der Yogis, ob während einer Polarexpedition oder während man Schlange steht, nämlich das „einfach weiter Atmen“, bedeutet gerade jetzt etwas anderes, als es bis zu jenem Jahr 2020 bedeutet hat. Halten wir es also doch lieber mit dem Polarforscher Amundsen, der sehr richtig erkannte, dass das Wichtigste bei einer Expedition der Rückweg ist. Man muss gehen, so weit man kann – und auch wieder zurück. Wenn die Ressourcen schon knapp werden. Das passiert auch bei bester Vorbereitung immer wieder, denn auch das ist ein zentrales Gesetz des Lebens: Die Ressourcen sind immer knapp. Wenn es mal so aussehen sollte, etwas wäre im Überfluss da – warte einfach ein bisschen, dann wird sich das Bild schon geklärt haben.
Das Postkartenbild betrachten
Geduld, Neugier, Belastbarkeit, Transparenz und eine Balance von Optimismus und Pessimismus sind, was man laut dem sehr amüsanten und lehrreichen Buch Trost der Philosophie des Schriftstellers Alain de Botton braucht, um den Hin- und den Rückweg und das Irgendwo-Sein zu schaffen oder mit anderen Worten: das Leben. Das gewisse Extra, das uns dabei am häufigsten eine Stütze ist, sind neben Religion, wem sie gegeben ist, Philosophie und Kunst. Nicht einmal der talentierteste Träumer und enthusiastischste Reisende beginnt eine längere Zugfahrt, ohne was zu lesen, zu hören oder zu schauen dabei zu haben. Eine Stunde, vielleicht auch zwei kann man gut aus dem Zugfenster schauen und sich damit unterhalten, was man dort sieht und was einem dazu einfällt. Erinnerungen und Assoziationen hat man schließlich immer dabei, auch ohne die legendären Madeleine-Stückchen und den Tee, die dem Protagonisten in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Gedankenschleusen öffnen. Eine Weile also mag es gelingen, so selbst- und furchtvergessen vor sich hinzusinnen, aber dann?
De Botton hat auf eine lange Flugreise gegen die zu erwartende Langeweile und die unvermeidliche Angst, die sich spätestens bei Turbulenzen einstellt, einige Kunstpostkarten mit einem Gemäldemotiv des Historienmalers Jacques-Louis David mitgeführt. Das Bild zeigt den Tod des Sokrates. Was natürlich grandios ist. Denn es lädt ein, zusammenzuklauben, wer dieser Sokrates war: Wie sah er aus? Und wenn wir das zu wissen glauben: woher? Wo haben wir ihn gesehen? Was hat er getan, gesagt, nicht aufgeschrieben? Wieso musste er sterben? Und dann, wieder das Postkartenbild betrachtend: Wer sind die anderen abgebildeten Personen, wer macht was, wie sind sie dargestellt und warum wohl, und wer ist dieser David, wann hat er gelebt, was erzählt mir der Tod des Sokrates über seine Zeit und was über meine, wie würde man das heute darstellen, was ist heute ein Schierlingsbecher…
Ich kann anfangen, Notizen auf die Rückseiten zu schreiben (wenn ich de Botton bin, dann für ein Kapitel mit dem Titel Trost bei Unbeliebtheit – was für ein famoser Titel!), oder ich mache die Notizen woanders, und auf die Karten schreibe ich persönliche Nachrichten an vertraute Menschen, mit denen ich dieses Erlebnis teilen kann: irgendwo gewesen zu sein, mich jetzt auf dem Weg zurück zu befinden und diese Postkarten zu besitzen, und was auf ihnen abgebildet ist und und und. Irgendwann wird jemand in Hörweite natürlich anfangen, irgendwelche Geräusche zu produzieren, gegen die kein Lesen und Schreiben und Träumen mehr ankommt, dann kommt die Musik ins Spiel, bei mir gerne Carl Orffs Carmina Burana – O Fortuna, velut luna, statu variabilis!, das Schicksal, ein Hin und Her wie die Mondphasen. Danach vielleicht noch ein Film und danach sind wir hoffentlich auch schon angekommen.
Symbolische Beweggründe
Wenn es ums Reisen geht, wissen wir, dass wir vorbereitet sein müssen gegen all die Unannehmlichkeiten, die Zeit, die Enge, die Krankheitserreger, denn so viele von uns reisen so viel und so weit wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. (Wir reden hier von freiwilligen Reisen. Das andere nennt man Flucht. Aber selbst dabei summt man, wenn man nichts anderes hat, Lieder. Denn so sind wir.) Aber, wie gesagt, die Ressourcen sind meist knapp, und selbst bei bestem Training und penibelster Vorbereitung gibt es Situationen, die uns überraschen oder gar überrollen. Und da wird es interessant, wo wir uns Hilfe holen.
Hier ein Beispiel: Vor einigen Jahren meldete ich mich – nach etwas mehr als zwanzig Jahren, die ich in Deutschland lebte – für das Verfahren für die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft an. Ich hätte das als Ungarin mit deutschen Vorfahren schon viel früher haben können, aber aus symbolischen Gründen wollte ich den gleichen Weg gehen, den jeder Ausländer und jede Ausländerin zu gehen hat. (Was natürlich außer mir niemand mitbekam, schon gar nicht der ehemalige Ministerpräsident von Hessen, für den das eigentlich gedacht war, dafür, dass er es zuvor auf sich genommen hatte, mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft eine Landtagswahl zu gewinnen und sein Gesicht zu verlieren.)
Und so betrat ich, die ausländische Jedefrau, die ich bin, das Gebäude einer Volkshochschule im ehemaligen Ostberlin, um herauszufinden, wann, wo, wie man den Einbürgerungstest ablegen konnte. Eine Volkshochschule also, aber mein Inneres reagierte, als ginge es nicht darum, im Berlin des Jahres 2013 einen Termin für etwas zu holen, das ich freiwillig begonnen hatte und dessen Ablauf transparent geregelt war, sondern als handelte es sich um eine Polizeiwache 1984 im real Existierenden, wo jeder unmenschlich behandelt wurde, egal ob er ein Verbrechen begangen hat oder Opfer desselben war oder einfach nur jemand, der einen Führerschein ausgestellt bekommen wollte. – Musste das so sein? Nein. Oder: doch.
Der Dichter und seine Zeit
Willst du wissen, in was für einem Staat du lebst und wie dein Status in diesem ist: Geh zu einem Amt. Du wirst es erfahren. Schon wie es dort aussieht. Wie die Wände gestrichen sind, wie die Türen sind, die Klinken, die Fenster, wie die Aushänge aussehen, ob es Sitzgelegenheiten für die Wartenden gibt und wie diese sind, wie der Ablauf ist, wie lange man warten muss und schließlich, wie sie mit dir reden. Ob es möglich ist, irgendetwas zu erledigen, ohne sich vollkommen zu verausgaben (siehe: Polarexpedition).
Hier und jetzt handelte es sich um einen friedlichen, stillen und leeren Volkshochschulflur, worauf aber mein prädisponiertes Gehirn mit Panik reagierte. Als lauerte hinter diesen Türen wenn nicht das Ende aller bekannten und unbekannten Welten, so zumindest meines. Wenn nicht mein physischer, dann sicher mein sozialer Tod. Als hätte es mich bisher gegeben, auch ohne eingebürgert worden zu sein, aber wenn ich hier scheiterte, wäre die gleiche Existenz wie zuvor nicht mehr dieselbe, weil nicht mehr dasselbe wert. Ich wusste natürlich auch diesmal: Das ist drinnen, nicht draußen, aber was wir wissen und was wir fühlen, sind bekanntlich zwei verschiedene Dinge, und an diesem Punkt fing „aus dem Nichts heraus“, wie man so schön sagt, etwas in mir an, das Gedicht Der Dichter und seine Zeit von Attila József aufzusagen. Auf Ungarisch, denn das ist meine Muttersprache. Das ist nicht nebensächlich.
Íme itt a költeményem – Siehe, dies ist mein Gedicht
ez a második sora – Das ist Zeile zwei
K betkkel szól keményen – Mit harten Konsonanten tönt
címe: Költnk és kora – Der Titel: der Dichter und seine Zeit
úgy szállong a semmi benne – Das Nichts darin schwebt so dahin
mintha valaminek lenne – Als wäre es von etwas
a pora – Der Staub
Das war die erste Strophe. Der Flur der Volkshochschule war übrigens so vollkommen leer, dass nicht einmal der Staub im einfallenden Licht zu sehen war, ein Raum voller Nichts, die Tür, hinter der ich mir den Termin holen sollte, war abgeschlossen und es hing kein Zettel dran „Ich komme gleich“. Ich war nur da und das Gedicht in meinem Kopf, das ich dann noch bis zum Ende aufsagte – denn gelegentlich sollten wir das tun: ganze Gedichte memorisieren, das konnten wir doch früher auch.
Rahmen in der Rahmenlosigkeit
So lange, bis jemand auftauchte, ich weiß nicht einmal mehr, ob Mann oder Frau, die Tür aufschloss und mir einen Termin gab, und alles war vollkommen unproblematisch, weil es das vielleicht von vornherein war, aber für mich wurde es das erst durch dieses „Siehe, dies ist mein Gedicht“, mit dem ich eine schwierige Situation besprach wie mit einem Gebet, einer Zauberformel aus einem Märchen. Durch diesen Staub eines Etwas in einem drohenden Nichts. Eine Bedeutung in der Bedeutungslosigkeit, ein Rahmen in der Rahmenlosigkeit, Sicherheit in der Unsicherheit.
„It’s a jungle out there“ heißt es in dem Song von Randy Newman, und das wird sich nie ändern, und manchmal ist der jungle auch zu Hause, und wenn wir uns nicht einmal dort mehr sicher fühlen können, dann helfen natürlich auch keine Verse mehr, und wir müssen um konkreten Schutz flehen. Aber gehen wir davon aus, dass es zu Hause nur „normal nervig“ und nicht gefährlich ist. Dann werden wir eine kurze Zeit – sagen wir: während einer Epidemie – dort sogar genießen können. Doch schon bald werden die emotionellen und intellektuellen Ressourcen knapp, und wir bräuchten es, je nach Veranlagung dringend, wieder out there zu sein, im Dschungel.
Kunst kann dabei helfen, auch diese Zeit zu überstehen. Wir suchen durch sie nicht, wie man denken könnte, in erster Linie Zerstreuung oder eventuell lange vernachlässigte Bildung, sondern vor allem Kontinuität und Sicherheit. Siehe (ich verstecke mich nicht), dies ist (es existiert, du kannst es nicht verleugnen) mein (ich bin nicht völlig mittel- oder waffenlos) Gedicht (etwas, das gemacht ist, etwas mit Struktur, etwas, das Können erfordert hat, etwas mit Dichte, etwas mit Gewicht, das Nicht-Nichts). Dies ist Zeile zwei (es geht weiter, es ist nicht vorbei, ich werde nicht weichen, ich sage, was ich sage). Kunst hilft uns dabei, uns zu orientieren, bringt uns in Kontakt zu unseren Erinnerungen und unserem kulturellen Erbe und durch dieses wiederum: mit anderen Menschen.
Im Zentrum steht der Mensch
Ich habe meine Tochter (weil im jungen Teenageralter und deswegen noch nicht im Besitz zu vieler fertiger Antworten) gefragt, warum sie dieses oder jenes Kunstprodukt konsumiert, darunter bekannte Inhalte und neue, warum schaut sie sich Filme (Serien) an, warum liest sie, warum hört sie Musik. Ihre Antwort jedes Mal: Sie interessiert sich für die Charaktere. Wie sind sie hier interpretiert, wie dort, wem aus dem wahren Leben oder aus anderen Kunstwerken sind sie ähnlich und was macht man mit welchen, die man so noch nie gesehen hat. Selbst Musikstücke, in denen es vordergründig keine Charaktere gibt, setzt sie mit Charakteren in Verbindung, mit Personen, die sie kennt, und mit fiktiven Figuren, weil sie Musik mit Emotionen verbindet und Emotionen wiederum mit Personen.
Im Zentrum jeder Philosophie und jeder Kunst steht der Mensch, über ihn wollen wir etwas erfahren. Über uns selbst, natürlich, aber was noch viel wichtiger ist: über die anderen. Wie kann ich jemanden erreichen, welcher Mensch eignet sich als Verbündeter (fürs Leben oder kurzfristig), wen muss ich meiden und was kann ich tun, wenn ich die Person oder die Situation nicht meiden kann? Wenn man physisch nicht aussteigen kann und manchmal auch geistig und emotional nicht. Oder wenn physische, geistige oder emotionale Nähe aus irgendeinem Grund nicht erreichbar ist. Lernen, mit Nähe umzugehen, lernen, mit Ferne umzugehen. Allein sein können, mit jemandem sein können.
Für all dieses, das Nahsein wie das Fernsein, braucht man Durchhaltevermögen. Mit einem anderen Wort: Geduld. Einen Roman zu lesen erfordert Geduld. Reisen erfordert Geduld. Eine Epidemie durchzustehen erfordert Geduld.
Kunst ist auf Wahrhaftigkeit aus
Wir alle haben Gepäck. Manche von uns haben das Leben in einer Diktatur kennengelernt: Katholizismus, Kommunismus, Familie. (Scherz. Natürlich.) Was in denen, die aus Kriegsgebieten kommen, vor sich geht, können und wollen sich die meisten gar nicht vorstellen und sicher nicht selbst erleben. Uns reichen schon die sogenannten kleinen Dinge, die uns beeinträchtigen: der Schulhof, der uns ein Leben lang begleitet. Manches ändert sich von Anfang bis Ende nicht. Ein langer Weg, der lang bleibt. Wir alle sind Sisyphos. Von dem Camus, der auch Die Pest geschrieben hat, behauptet hat, man müsse ihn sich als einen glücklichen Menschen vorstellen. Ich weiß nicht. Oder doch. Sinn und sogar Freude im Unvermeidbaren finden. Der Verzweiflung widerstehen.
Die Realität ist selten so, wie wir sie uns wünschen, das erzeugt Angst, Schmerz, Empörung, Kränkung, und wir müssen die ganze Zeit daran arbeiten, immer neu zu erlernen, wie wir nicht hilflos sind, ohne uns selbst und anderen zu schaden. Die alternative Realität in der Kunst hilft, die gegebene Realität zu ertragen. Ebenso, nicht wahr, wie die in den Verschwörungstheorien. Der Unterschied ist, das Letztere Zerstörung vermuten und suchen, während Ersteres das Gegenteil.
Kunst erkennt man daran, dass sie nicht auf Gefälligkeit aus ist, sondern auf Wahrhaftigkeit. Sie will keine Macht erringen, niemanden auf ihre Seite ziehen, auch nicht Dampf ablassen, das hat sie gar nicht nötig. Sie entsteht nicht aus dem Affekt, sondern aus Hingabe, gepaart mit Kompetenz, und ist nicht dazu da, endgültige Lösungen zu behaupten, sondern die Dimensionen und Möglichkeiten zu erweitern, und zwar in erster Linie innerhalb des Kunstwerks – und allein schon dieses große Ausmaß an Souveränität ist tröstlich. Ob und wie etwas von diesen Möglichkeiten hinausgetragen wird „in die reale Welt“, hängt von den Menschen ab, die die Kunst rezipieren.
Während der Arbeit an diesem Text habe ich gegen Erschöpfung, mangelnde Konzentration, emotionelle Taubheit, konkrete und generelle Befürchtungen und Einsamkeit die folgenden Kunstwerke zu Hilfe genommen. Alexander Dettmar: Gemälde von zerstörten deutschen Synagogen. David Hockney: Blumen, Gemälde. Alain de Botton: Trost der Philosophie, Essays. Maryse Condé: Das ungeschminkte Leben, eine Autobiografie. Sayaka Murata: Die Ladenhüterin, Roman. „Sinnerman“ und andere Lieder, gesungen von Nina Simone. Sowie ein halbes Dutzend australische Stand-upShows
5 Bücher von Terézia Mora
Auf dem Seil. Drei Jahre nach dem Suizid seiner geliebten Frau ist Darius Kopp auf Sizilien gestrandet. In sein weltabgewandtes Dasein tritt eines Tages unvermittelt die 17-jährige Nichte des Mannes. Das Mädchen braucht seine Hilfe, und die Verantwortung verankert ihn. – Abschluss einer Romantrilogie mit Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer.
Roman. Luchterhand 2019
Die Liebe unter Aliens. Ein frühverrenteter Einzelgänger lebt jeden Tag nach dem immergleichen Schema – bis jemand ihm den Beutel mit den Schlüsseln und Ausweisen aus der Hand reißt und eine atemlose Verfolgung beginnt. Ein Professor aus Japan hat sich behaglich in seinem Leben eingerichtet – bis ihn in einem Reinigungsladen die Liebe trifft.
Erzählungen. Btb 2019
Nicht sterben. In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen erzählt Terézia Mora von den Antriebskräften ihres Schreibens. Sie erzählt von ihren Romanfiguren, wann sie ihnen begegnet ist und welchen intimen Umgang sie mit ihnen schon seit Kindertagen pflegt.
Vorlesungen. Luchterhand 2015
Alle Tage. Ein junger Mann kann nicht mehr in seine osteuropäische Heimat zurückkehren – dort wird Krieg geführt. Er lebt am gesellschaftlichen Rand einer großen deutschen Stadt und ist ein Genie im Erlernen von Sprachen, obwohl er ein nur geringes Interesse daran hat, überhaupt zu sprechen.
Roman. Btb 2006
Seltsame Materie. Schauplatz dieser Erzählungen sind die kleinen Dörfer unweit der Grenze zwischen Ungarn und Österreich mit ihren skurrilen, manchmal brutalen und gerne besoffenen Einwohnern. – Terézia Moras Erstlingswerk.
Erzählungen. Rororo 2000