Lebens­erzählungen

Wenn wir über unsere Familie oder Freundinnen schreiben, kann das heikel und heilsam zugleich sein.

Die Illustration zeigt eine Person, die schreibt und von anderen Personen beobachtet wird
Wenn wir über unser Leben schreiben, bleibt es nicht aus, dass wir auch über andere schreiben © © Joni Majer für Psychologie Heute

Was sind die häufigsten Beweggründe, warum Menschen ihre eigene Lebensgeschichte oder die ihrer Familie aufschreiben möchten?

Viele, die darüber nachdenken, ihr Leben aufzuschreiben, sind jenseits der vierzig, manche auch schon im Rentenalter. Sie haben den Wunsch, Bilanz zu ziehen und zu schauen: Was hat in ihrem Leben gut geklappt? Was ist ihnen gelungen? An welchen Stellen hat etwas gefehlt? Wie sind sie zu der Person geworden, die sie heute sind? Manchmal geht es auch darum, schwierige…

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gefehlt? Wie sind sie zu der Person geworden, die sie heute sind? Manchmal geht es auch darum, schwierige Beziehungsgeschichten mit Geschwistern oder einem Elternteil zu verarbeiten und sie im Rückblick aus einer anderen Perspektive anzuschauen. Wieder andere haben den Wunsch, das, was sie erlebt haben, für die nachkommende Generation zu bewahren. Oder wer in seinem Beruf ein sehr spezielles Wissen erworben hat, will es vielleicht weitergeben. Ich gehe auch in Seniorenheime, unter anderem in ein christlich-jüdisches, und bin auf diese Weise einigen Holocaust-Überlebenden begegnet. Sie sind wichtige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Ihre Erinnerungen – und wie sie mit dem Erlebten im weiteren Leben umgegangen sind – für die folgenden Generationen zu bewahren finde ich sehr wichtig.

Bei Zeitzeuginnen wichtiger historischer Ereignisse leuchtet es unmittelbar ein, dass es kostbar und wichtig ist, die Lebensgeschichte schriftlich festzuhalten. Sie glauben, dass jede Lebensgeschichte wert ist, aufgeschrieben zu werden. Warum?

Jedes Leben ist einzigartig, nicht nur das Leben von Menschen, die Außergewöhnliches erlebt oder erlitten haben. Wir kommen auf die Welt, gehen in die Schule, haben Freunde, erlernen einen Beruf, suchen uns eine Partnerschaft, erleben Herausforderungen und Krisen. In den späteren Jahren, wenn wir uns vom Beruf verabschieden, haben wir die Chance zu reflektieren, wie unser Leben gelaufen ist, und vielleicht etwas, was zu kurz gekommen ist oder nicht gelebt wurde, doch noch mal anzupacken. Diese Phasen sind natürlich bei vielen ähnlich, dennoch ist jede Biografie einzigartig. In jedem Leben gibt es wunderbare, beglückende Ereignisse, aber auch schwierige Momente, Krisen, Krankheiten, Verluste. Mich begeistert die resilienzorientierte Biografiearbeit. Ich lade Menschen ein, zu schauen, was ihnen in ihrem Leben geholfen hat, mit Krisen umzugehen, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen.

Was kann das im besten Fall bewirken?

Sobald man anfängt, darüber nachzudenken, wird klar, dass in diesen krisenhaften Momenten andere Menschen eine große Rolle gespielt haben. Menschen, die für einen da waren, die einen gesehen haben, wie man wirklich ist. Die eine Art Mentorenrolle übernommen haben. Das kann ein Lehrer gewesen sein, der einen ermutigt hat, oder die Leiterin der Jugendgruppe. Oft werden auch die Großmütter genannt, die Kindern vermittelt haben: „Glaub an dich.“ Wer die Frage, was in Krisen geholfen hat, erkundet, landet auch oft bei Ritualen wie Meditieren, Beten, Wandern. Und manchmal zeigt sich auch, dass zum Beispiel Tagebuchschreiben geholfen hat. Wenn man Menschen danach fragt, wie sie Schwierigkeiten gemeistert haben, kommen sie ins Erzählen und verbinden sich noch mal mit dem, was sie gestärkt hat.

Sich allein hinzusetzen und über das eigene Leben zu schreiben ist aber schon etwas anderes, als es einem Gegenüber zu erzählen. Was braucht es, um anzufangen?

Die Ausgangssituation ist immer die Gleiche: Die Menschen haben eine Fülle von Erlebnissen und wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Oder sie wissen, wo sie anfangen sollen, kommen dann aber ins Stocken. Sie finden keine Struktur, weil es zu unübersichtlich ist. Es ist ja auch gar nicht möglich, das ganze Leben aufzuschreiben. Selbst wenn man sich nur auf wesentliche Sachen konzentriert, wird es sehr umfangreich. Dann ist es wichtig, sich zu fragen: Was ist wesentlich? Was will und muss ich aufschreiben, damit andere sehen, wer ich war und wie ich zu dem Menschen geworden bin, der ich heute bin? Ohne Struktur geht es nicht. Deshalb kommen Menschen in Kurse, weil sie dort Anregungen bekommen. Und es hilft natürlich, dass da auch andere sind, die sich schreibend auf den Weg machen. Man kann sich gegenseitig Texte vorlesen und neue Erinnerungsimpulse bekommen.

Wie lässt sich denn eine Struktur finden?

Interessant ist zum Beispiel, nach Wendepunkten zu fragen. Phasen, in denen sich im Inneren oder Äußeren etwas verändert hat. Was war vorher? Was war nachher? Was ist die Quintessenz davon für mein Leben? Die Wendepunkte könnten einen roten Faden bilden. Es kann auch hilfreich sein, eine Handlungslinie, wie sie auch in Filmen entworfen wird, zu finden. Wenn beispielsweise jemand als Kind gemobbt wurde und sich geschworen hat, es allen zu zeigen, und dann eine beeindruckende Karriere hingelegt oder ein soziales Projekt aufgebaut hat, ist das ein spannender roter Faden. Die Handlungslinie sollte in der Gegenwartsform in einem Satz formuliert werden und der Reihe nach und in aller Kürze erzählen, worum es geht. Ein Beispiel: Ein Mädchen wächst in einer Großfamilie auf, kümmert sich das ganze Leben um andere ihr nahestehende Menschen und wird als Erwachsene Heilpraktikerin.

Neben einer guten Struktur ist es auch wichtig, die innere Haltung zu klären. Denn über das eigene Leben zu schreiben bedeutet ja auch, über Familienangehörige, mit denen man vielleicht Belastendes erlebt hat, zu schreiben. Was wäre eine gute Haltung?

Wichtig ist, vorher zu klären: Will ich über mich und meine Geschichte oder über die meiner Familie schreiben? Worum geht es mir? Wenn ich die Familiengeschichte aufschreiben möchte, um das Wesen, das Besondere und die Wurzeln meiner Familie herauszustellen, ist das ein anderes Vorhaben, als wenn ich mich auf mein eigenes Leben konzentriere und danach schaue, welche Rolle bestimmte Familienangehörige in meinem Lebensverlauf gespielt haben. Es ist ganz entscheidend, im Vorfeld die Perspektive zu klären. Bei der autobiografischen Sicht konzentriere ich mich darauf: Was habe ich erlebt? Was hat das mit mir gemacht? Beim biografischen Ansatz versuche ich dagegen, eher neutral auf andere Familienmitglieder zu schauen und herauszuarbeiten: Was hat diesen Menschen ausgezeichnet? Was hat er oder sie bewerkstelligt? Wie waren die Familienverflechtungen untereinander? Aber ich halte mich mit meiner persönlichen Betroffenheit als Erzählerin eher zurück.

Wie kann es denn gelingen, ehrlich über andere zu schreiben, ohne verletzend zu werden?

Das ist nicht immer leicht. Aber es kann gelingen, wenn man es als Prozess betrachtet. Wenn Menschen anfangen, autobiografisch zu schreiben, melden sich in der Regel zuerst Erinnerungen, die sehr präsent sind und schon öfter erzählt wurden. Danach tauchen einschneidende Erlebnisse auf, das kann ein Verkehrsunfall gewesen sein, ein Streit, eine Trennung, ein Verlust, vielleicht auch Konflikte in der Familie, die nicht gelöst werden konnten. Manche schreiben ihre eigene Geschichte oder die ihrer Familie nur für sich selbst auf, um sie zu verarbeiten. Um sich bewusstzuwerden, was ihnen widerfahren ist, was sie geprägt hat. Dann kann man natürlich völlig frei drauflosschreiben, ohne groß Rücksicht zu nehmen. Die entscheidende Frage ist immer: Warum will ich meine Geschichte aufschreiben und für wen? Wenn ich für die Kinder oder Enkelkinder schreibe, sollte ich die Dinge aus dem Verhältnis der Eltern rauslassen, die sie nichts angehen oder vielleicht irritieren würden. Sobald die Schreibperspektive geklärt ist, kann es hilfreich sein, eine A- und eine B-Version zu schreiben. In der A-Version schreibe ich alles genau so, wie es für mich war. Ich muss keine Rücksicht nehmen auf Persönlichkeitsrechte oder darauf, dass sich vielleicht jemand auf den Schlips getreten fühlen oder die Familienharmonie gestört werden könnte. Danach kann ich eine B-Version erarbeiten und prüfen: Wen sollte ich vielleicht, bevor ich den Text anderen zeige, fragen: Ist diese Passage so in Ordnung für dich?

Und wenn Protest kommt?

Ein Nein gilt es unbedingt zu respektieren. Wir verpassen ja auch nicht einfach jemandem eine Ohrfeige, also sollten wir uns gut überlegen, wenn wir unsere Geschichte oder die der Familie aufschreiben: Was könnte verletzend sein? Wollen wir wirklich riskieren, jemanden zu verärgern? Ich rate davon ab, sich schreibend an anderen zu rächen, sie zu beschimpfen und schlechtzumachen.

Auch wenn uns jemand wirklich sehr gekränkt und sogar geschadet hat?

Der Genuss, endlich mal allen Frust und alle Wut losgeworden zu sein, ist meist nur kurz. Den habe ich vielleicht schon, wenn ich alles mal aufgeschrieben habe und es noch mal lese. Doch wenn ich es veröffentliche, kann der Schaden für die andere Person groß werden. Es gilt immer auch die Persönlichkeitsrechte desjenigen zu achten, über den ich schreibe. Das ist ein weites Feld und ich denke, hier sollte man sehr bewusst und achtsam vorgehen, wenn man über andere etwas schreibt, was ihnen schaden könnte.

Dennoch erleben wir immer wieder, dass Menschen zum Beispiel die Geschichte ihrer Vorfahren im Nationalsozialismus oder auch im Stasiregime recherchieren und aufschreiben, auch weil sie spüren, dass es ihr eigenes Leben beeinflusst hat. Oder aber auch sexuellen Missbrauch oder Gewalt in der eigenen Familie zum Thema machen. Das ist dann nicht immer allen noch lebenden Familienangehörigen recht. Hier gilt es sorgfältig abzuwägen, ob man etwas, wo alle erkennbar beschrieben werden, um jeden Preis veröffentlichen oder den Familienfrieden wahren möchte. Ich rate bei diesen Themen zum eigenen Schutz eher zu Vorsicht und lade dazu ein, sich zu fragen: Welche Bedeutung haben die Taten meiner Vorfahren für mein Leben? Was hat das, was ich erlitten habe, mit mir gemacht und was hat mir geholfen, das durchzustehen und zu überleben? Es gibt Menschen, die an dem, was andere ihnen angetan haben, zerbrechen. Manche finden aber auch einen Weg, das Verletzende zu überwinden. Letztlich geht es beim autobiografischen Schreiben um einen selbst und den Einfluss der anderen auf das eigene Leben. Bei einer Familiengeschichte können wir versuchen, tief einzutauchen und die Persönlichkeiten der Familienangehörigen darzustellen. Die ganze Wahrheit bleibt uns jedoch, wenn wir über andere schreiben, mitunter verborgen.

Was ist mit Familiengeheimnissen?

Ein Motiv, über das eigene Leben zu schreiben, kann sein, etwas mitzuteilen, was bislang nicht ausgesprochen werden konnte. Ich denke an eine Frau, die gesagt hat: Es gibt Themen in meinem Leben, die meine Kinder nicht verstehen. Aber sie sind mittlerweile erwachsen, ich kann ihnen das jetzt erklären, ich schreibe meine Geschichte auf, damit sie sich selbst ein Bild machen können und wissen, warum ich heute so bin, wie ich bin.

Was hatte sie verschwiegen?

Bei Familiengeheimnissen tue ich mich schwer damit, Beispiele zu nennen. Ich möchte nicht, dass sich jemand darin wiedererkennt, auch wenn ich Namen und Umstände verfremde. Adoption kann ein Thema sein, Missbrauch, weitere uneheliche Kinder des Partners, die verschwiegen wurden. Familiengeheimnisse kommen nur dann ans Licht, wenn sie durch einen Zufall aufgedeckt werden oder derjenige, den es betrifft, in sich einen großen Leidensdruck spürt und sich damit offenbaren möchte. Darüber für einen kleinen Familienkreis zu ­schreiben kann ein erster Schritt sein, miteinander ins Gespräch zu kommen. Doch es gibt in Familien ja nicht nur Schwieriges und Belastendes, sondern auch viel Stärkendes. Ich habe beispielsweise die Familiengeschichte eines Mannes begleitet, der bis ins fünfzehnte Jahrhundert zu seiner Familie recherchiert und Zahlen, Registereinträge, Anekdoten und Fotos gefunden und alles in einem Buch verarbeitet hat. Er hat eine große Familie mit vielen Nachfahren und hat alle eingeladen, etwas über sich und ihre Person aufzuschreiben. Auf diese Weise ist mit diesem Buch ein einzigartiger Raum entstanden, man konnte sagen: Das ist meine Familie, da komme ich her und alles, was nach mir kommt, gehört auch da mit hinein, und das erfüllt mit Stolz und Kraft.

Es geht also beim Schreiben auch um Selbstvergewisserung?

Das ist ein wichtiger Aspekt. Ich habe in meinen Kursen auch jüngere Teilnehmer, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, ihre Familie zurückgelassen haben und über ihren Trennungsschmerz schreiben wollen. Indem sie die Traditionen ihrer Familie lebendig beschreiben, werden die Menschen aus ihrer Heimat ganz präsent. Sie vergewissern sich ihrer Wurzeln und fühlen sich wieder damit verbunden. Das erleben viele als sehr nährend. Auch Menschen, die einen Lebenspartner verloren haben, finden es manchmal sehr heilsam, über die letzten gemeinsamen Monate zu schreiben. Ein Beispiel: Eine Frau hat mit fünfzig noch mal einen neuen Partner gefunden. Sie hatten zwei wunderbare Jahre, dann bekam er die Diagnose, dass er nur noch kurze Zeit zu leben habe. Für sie war es befreiend, über diese letzten Monate zu schreiben, in denen sie ihn zu Hause begleitet hat. Danach konnte sie auch wieder auf die Zeiten zurückblicken, in denen noch alles gut war. Sie ist sehr froh, diesen Text zu haben, liest immer wieder darin, durchlebt die schweren Zeiten ein weiteres Mal, und mit jedem Durchleben wird es leichter, bis es irgendwann vielleicht nicht mehr schmerzt.

Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu verarbeiten. Was ist für Sie das Besondere am Schreiben?

Wenn ich schreibe, bekomme ich Distanz. Ich nehme das, was ich geschrieben habe, aus dreißig Zentimetern Entfernung wahr, wenn ich auf den Bildschirm oder meinen Schreibblock schaue. Das allein verändert schon die Perspektive. Schreiben fokussiert. Beim Erzählen besteht immer die Gefahr, sich darin zu verlieren. Schreiben bedeutet verlangsamen. Es braucht mehr Zeit, etwas aufzuschreiben, als darüber zu sprechen. Durch das Verlangsamen werde ich bewusster und wähle mehr aus, als wenn ich einfach drauflosplaudere. Etwas, was vorher nur innen war und vielleicht nebulös, bekommt eine Klarheit im Außen. Wenn ich es wieder lese, merke ich, wo etwas fehlt, oder mir fällt auf, dass es ganz schön hart oder verletzend für andere klingt, was da steht, und ich es vielleicht korrigieren möchte.

Aber kann es nicht auch lähmend sein, immer wieder zurückzuschauen und sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen?

Im ersten Moment wirkt Schreiben über das, was war, rückwärtsgewandt. Meine Erfahrung ist jedoch, dass durch das Aufschreiben Klärung und Heilung möglich werden. Wenn ich bei mir etwas in Bewegung setze und bearbeite, sei es durch Psychotherapie, Meditation, Wandern oder Schreiben, verändere ich nicht nur mich selbst, sondern auch mein System. Das ist heilsam für die Beziehung zu meinem Partner, den Kindern und den nachfolgenden Generationen. Mein Anliegen ist, Dinge in Fluss zu bringen. Ich möchte, dass das, was stockt, ausgeräumt wird. „Mein Leben schreiben, mich selbst lesen, erkennen, frei sein für Neues“ ist mein Motto. Wenn ich schreibend aufgeräumt habe, kann ich viel offener nach vorne blicken.

Michaela Frölich ist Publizistin und Germanistin (M.A.). Als Biografin hilft sie Menschen, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, oder unterstützt sie als Ghostwriterin. In der ­Erwachsenenbildung unterrichtet sie kreatives und meditatives Schreiben und leitet Gruppen für Biografiearbeit

ZUM WEITERLESEN

Michaela Frölich: Familiengeschichte schreiben für Dummies. Wiley-VCH 2021

Website: schreibatelier-froelich.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: DAS DOSSIER Psychologie Heute: Schreiben