Gehobene Emotionen wie Freude und Ergriffenheit wurden von der Psychologielange Zeit ignoriert, so die analytische Therapeutin Verena Kast. Dabei wohnt ihnen die Kraft inne, seelische Prozesse in Fluss zu bringen und innere Bilder zu schaffen:
Frau Professorin Kast, Sie schreiben in Ihrem Buch Mehr Zeit für die Seele: „Menschen haben einen Hunger nach Belebung, danach, sich animiert und inspiriert zu fühlen, beflügelt zu sein.“ Können Sie diese Emotionen beschreiben?
Der Zustand der Freude bedeutet: Das Leben…
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beflügelt zu sein.“ Können Sie diese Emotionen beschreiben?
Der Zustand der Freude bedeutet: Das Leben ist besser, bereichernder und schöner als erwartet. Es gibt die stillen Freuden, etwa wenn man einen guten Tee riecht. Oder die einschießende Freude, die mit einer Überraschung einhergeht. Die erlebe ich immer wieder aufs Neue, wenn ich im Winter vor einem unberührten, frischen Schneefeld stehe. Die Sonne scheint darauf, die Eiskristalle tanzen glitzernd in der Luft. Dann habe ich das Gefühl: „Woah, ist das schön!“
Ich kann dieses Gefühl auch angesichts eines tobenden Meers oder Sees haben. Da kommt zu einem optischen Eindruck auch noch die Wahrnehmung hinzu: Hier geschieht etwas, das weitaus mächtiger ist als ich. Auch der Frühling hat ja ganz viel von diesem Staunen an sich, man steht vor einem unscheinbaren Blümchen, aber man fühlt, da ist etwas ganz lebendig. Wir nehmen Emotionen immer auch auf körperlicher Ebene wahr, sie geben uns Orientierung und leiten uns zum Handeln an. Ergreifen uns erhebende Emotionen, wollen wir tanzen, springen, hüpfen. Unsere Augen strahlen, die Mundwinkel gehen hoch. Diese Momente haben etwas unglaublich Erhebendes.
Eine Tasse Tee vermag es, uns in einen ähnlichen Zustand zu versetzen wie ein aufziehender Sturm?
Man hat oft das Gefühl, es müsse etwas ganz Verrücktes sein. Im Grunde genommen geht es aber um eine Situation, in der wir ganz im Hier und Jetzt sind. Wir sehen etwas Alltägliches, etwa ein Baby oder eine Landschaft, und sind davon berührt, wir haben eine innere Antwort darauf. Lebendig sein bedeutet, mit diesen körperlichen Zuständen auf irgendeine Art und Weise verbunden zu sein. Unsere Innenwelt und die Außenwelt werden gewissermaßen zu einer Einheit. Das ist für mich ein mystischer Moment.
Ist diese spirituelle Erfahrung auch von Wert in der Psychotherapie?
Ich bin Jungianerin, da schaun wir immer: Wo ist das Verborgene, wo das Lebendige? Das, was die Psyche in Fluss bringt, ist das Grundanliegen der jungschen Psychologie. Das Problem mit den gehobenen Emotionen wie Freude, Inspiration, Hoffnung und Erhabenheit ist, dass sie über lange Zeit nicht wertgeschätzt wurden. Die Psychologie hat nur die schwierigen Emotionen ernst genommen. Etwa die Angst, weil sie enorm viele psychische Störungen verursacht. Das hat also durchaus seine Berechtigung. Aber man hat nicht verstanden, dass die gehobenen Emotionen, wie Spinoza sie nennt, sozusagen das Antidot sind.
Wogegen?
Sind wir im Zustand der Freude, fühlen wir uns inspiriert und berührt, wollen wir uns anderen Menschen nahe fühlen. Wir werden dadurch sozialer und verbinden uns dann mit anderen. Das finde ich ungemein wichtig. Wir werden zudem offener für neue Erfahrungen, wir sind dann in der Lage, Neues zu lernen. All diese Emotionen setzen der Schwere in der Welt eine Leichtigkeit entgegen. Viele Leute sagen ja: Es ist so viel Ärger in der Welt.
Was sehen Sie gegenwärtig?
In der Coronazeit wurde sehr deutlich, dass jene Menschen, die in Kontakt zu ihrer Innenwelt stehen, die bewusst wahrnehmen und Fantasien haben, wesentlich besser mit den Belastungen zurechtgekommen sind. Eben weil sie sich auf diese Resonanzerfahrungen leichter einschwingen können, die wir unter anderem in der Natur machen. Ich dachte mir damals: Vielleicht führt die Krisenerfahrung der Pandemie dazu, dass wir uns vermehrt für unsere Innenwelt interessieren, dass diese ein bisschen mehr Lobby bekommt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das so geschehen ist.
Das Gegenteil der konkreten Sinneserfahrung besteht nach Ihrer Auffassung in der Enteignung der Sinne. Wir könnten uns dann mittels unserer Sinneswahrnehmungen zwar noch in der Welt orientieren, aber sie brächte uns keinen Genuss mehr. Dadurch würden wir von tieferen Erfahrungen abgeschnitten und verbänden uns nicht mehr mit der Welt. Was verursacht diese Trennung?
Was wir im Außen wahrnehmen, erzeugt eine Resonanz in unserer Innenwelt, in den Vorstellungen und Bildern, die wir in uns tragen. Das ist sehr bedeutsam. Jetzt kommt das Thema Zeit hinein. Man kann einen Spaziergang unternehmen, ohne etwas zu riechen oder zu sehen, weil man derweil den nächsten Termin oder das nächste Gespräch konzipiert. Dann spricht die Welt nicht zu uns. Schauen wir genauer hin, entdecken, riechen oder schmecken etwas, dann sind wir mit der äußeren Welt und gleichzeitig mit unseren inneren Bildern und Fantasien in Kontakt.
Was passiert, wenn wir uns darauf nicht einlassen?
Dann greifen wir beispielsweise auf die Fantasien zurück, die es in der Welt schon gibt. Es gibt ja viele Konserven, die uns die Konsumwelt anbietet. Verliebtsein heißt dann, wir sitzen in Dubai auf der Dachterrasse eines Wolkenkratzers und trinken Cocktails. Dann tut man so, als gehe es einem gut und als sei man lebendig, aber man ist es nicht wirklich. Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat das schon vor langer Zeit beschrieben: Anstelle von tiefen Erfahrungen suchen wir Action und werden so zu Getriebenen.
Erst die bewusste Entscheidung ermöglicht uns Resonanzerfahrung?
Man muss Prioritäten setzen und sich die Zeit dafür nehmen.
Letztere gilt als Mangelware.
Das stimmt im Grunde nicht, wir haben viel Zeit. Die Frage ist nur, worauf ich sie verwende. Auch wenn man gelegentlich wahnsinnig viel zu tun hat, kann man sich ein bisschen davon herausschneiden, und sei es nur für 20 Minuten, in denen man ins Grüne schaut, mehr braucht es nicht. Ich finde es sehr wichtig, die Menschen dazu anzuregen. Mit zunehmendem Alter geht eine Veränderung einher. Da ich mehr Kontakt zu älteren Menschen habe, höre ich oft: Ich schaue mir die Natur viel genauer an und habe auch mehr Freude daran
Ich hoffe, Sie empfinden meine Frage nicht als übergriffig: Warum gibt es Menschen wie Sie, die mit 80 noch voller Elan sind, wohingegen wesentlich jüngere innerlich wie erloschen wirken?
Ich habe viele Interessen, denen gehe ich nach, deshalb habe ich auch nicht aufgehört zu arbeiten. Zwar gebe ich mir mehr Zeit als früher, mache aber immer etwas. Einige meiner Kollegen verbringen seit 15 Jahren die Nachmittage mit Kartenspielen. Das sind einfach keine intellektuellen Menschen, die haben sich für etwas anderes interessiert, eben fürs Kartenspielen. Wenn ich denen sage: Ich lese jetzt noch mal Plutarch, der ist unglaublich spannend, höre ich: Geht’s noch, in deinem Alter! Ich weiß nicht, ob es eine Gabe ist oder eine Kunst, sich Menschen auszusuchen, die einen beleben. Führen wir dann ein Gespräch, fühle ich mich beschenkt.
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Prof. Dr. phil. Verena Kast, Psychologin und Psychotherapeutin, war Professorin im Bereich anthropologische Psychologie an der Universität Zürich und Lehranalytikerin am C.-G.-Jung-Institut Zürich. Verena Kast publiziert über Angst, Traumdeutung, Scham und Beziehung.
Quelle
Verena Kast: Mehr Zeit für die Seele. Der Weg zur Lebendigkeit. Patmos 2022