Zurück zum Ursprung

Im Wald fühlen wir uns geborgen, empfinden aber auch leichtes Unbehagen. Was macht seinen Zauber aus? Über die Psychologie des Waldes.

Saftig grünes Moos im Wald
Der Wald und wir - über eine vielschichtige Beziehung. © Gustav Münnich/EyeEm/Getty Images

Nur einen Schritt jenseits des Waldsaums wird der Boden weich und die Luft lind und kühl. Das Licht dringt grün-golden durch das Geäst. Ein Duft von Harz, Moos und Moder streift die Nase. Das Huschen von Tieren, die uns gewahren, ahnen wir mehr, als dass wir es wahrnehmen. Beschirmende Wipfel rauschen über uns. Den Wald zu betreten ist ein wenig wie Heimkommen – und stets ein kleines Abenteuer.

Er ist Sehnsuchtsort und Sportarena, Schatztruhe von Kindheitserinnerungen und Schauplatz von Verbrechen,…

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Sportarena, Schatztruhe von Kindheitserinnerungen und Schauplatz von Verbrechen, Varus-Bezwinger und Klimaopfer, Lebensraum für Rehkitze und Lindwürmer, Urquell und Friedhof, Freund und Fremder. Der Zauber des Waldes lebt von seiner Vielgesichtigkeit.

Seit jeher verorten wir in ihm den Übergang von der Menschenwelt, die wir kennen, zu Anderswelten, wo geheimnisvolle Kräfte und Wesen walten, die hilfreich, heilsam und schöpferisch, aber auch gefährlich, bedrohlich und zerstörerisch sein können. In den heidnischen Traditionen unserer Urahnen war der Wald Kraftort und Hort des Heiligen. Doch man mied ihn ob der manifesten Gefahren, die dort lauerten. Im Märchenwald erfahren Helden und Heldinnen Schutz und Prüfung, Stärkung und Läuterung, begegnen einander und nicht zuletzt sich selbst.

Kraftort und Quelle von Unbehagen zugleich

Befragt man moderne Mitteleuropäer zum Wald, erscheinen diese Bedeutungen des Waldes in zeitgenössischer Ausdrucksform: Erholung, sportliche Herausforderungen und Nervenkitzel, Linderung diverser physischer und psychischer Leiden, „gute Energie“ und innere Einkehr suchen und finden wir im Wald. Wir wertschätzen seine Ökosystemdienstleistungen als Luftfilter, Wasseraufbereitungsanlage und Schutz vor Erosion und Lawinen.

Zugleich befallen uns gerade in naturbelassenen Wäldern auch Ängste angesichts von Dunkelheit und Unübersichtlichkeit sowie Trauer und Scheu ob der Vergänglichkeit, die in Form von Totholz und vorjährigem Blattwerk im Wald allgegenwärtig ist. Studien zeigen, dass dichte Wälder nicht besonders beliebt und erholsam sind, sondern Menschen vor allem offene, park­ähnliche Landschaftsformen lieben, die gerade natürlich genug sind, um schön und spannend zu sein, dabei aber aufgeräumt und gezähmt genug, um nicht bedrohlich zu erscheinen.

Heute glauben wir zu wissen, dass nicht gute Feen, sondern Terpene oder die mikroklimatische Regulationswirkung der Bäume für unser Wohlbefinden sorgen. Und wir sind sicher, dass nicht das Dräuen böser Zwerge oder gefährlicher Untiere unser latentes Unwohlsein hervorruft, sondern die Befürchtung, dass ein jäh um die Ecke schießender Mountainbiker die Besinnlichkeit stören könnte, wir vor lauter Bäumen die Orientierung verlieren oder zufällig den Forstmörder aus dem letzten Tatort antreffen. Die mannigfaltigen Einzelwesen, die den Superorganismus Wald bilden, erscheinen uns weniger im Kleide von Fabelwesen als in Form von Arboretum, Mykorrhiza, Fau­na und ihrer Symbiose.

Zauber des Urtümlichen

Und doch lebt etwas Urtümliches in dem Zauber fort, den die vielen Gesichter des Waldes auf uns ausüben. Selbst wenn er von Menschenhand angelegt wurde und abgeholzt wird: Im Wald regiert die Wildnis. Sie lebt in jedem Keim, der als Pionier der Verwilderung den Asphalt aufbrechen und Urwäldern den Weg bereiten kann. Diese Vitalität tut uns gut. Nicht zuletzt wegen der schöpferischen Kraft der Natur, die uns im Wald so greifbar wird wie in kaum einem anderen Naturraum, fühlen wir uns in ihm willkommen, gestärkt und geborgen. Zugleich ist es diese Urtümlichkeit, von der ein Gruseln und die Ahnung ausgehen, dass wir hier nicht hingehören, stets nur zu Gast sind.

Es ist wohl diese Kluft, aus der die nie versiegende Sehnsucht nach dem Wald entspringt: Der Wald leiht uns eine Einbettung in die Natur, der der Mensch vor langer Zeit entrissen wurde.

Vergleiche der Bewegungsformen von Primaten und Menschen legen nahe, dass die Hominisation im Wald ihren Ausgang nahm. Wie ihre Körper war auch die Psyche unserer Ahnen auf ihren wäldernen Ursprung bezogen. So wie sie sich neue Lebensumgebungen und -weisen erschlossen, entwirrte sich auch ihr Geist dem Dickicht der Bäume und des Unterbewussten Stück um Stück. Doch dann war es die klar datierbare Entstehung der Fähigkeit, vernetzend und ungekannt schöpferisch zu denken, die den Homo sapiens der Natur entwand und ihm ermöglichte, die Welt begriffs-, ziel- und wertbildend zu gestalten.

Vereint mit unserem Ursprung

Unser tierliches Erbe, die Wildnis in uns verbindet uns mit allem, das mit uns lebendig ist; die Vernunft trennt uns heraus und erhebt sich reflektierend darüber. Der Verlust unseres Eingefügtseins in die Natur ist so eng mit der Menschwerdung verknüpft, dass die Frage nach unserer Zugehörigkeit zu ihr als ein Bestimmungsmerkmal des Menschen gelten darf.

Somit verläuft entlang des Waldsaums auch die schemenhafte Grenze zwischen Kultur und Natur, die sich mitten durch unser Menschsein zieht. Überqueren wir sie, kommen in den Wald, finden wir symbolisch zu unserem Ursprung zurück, solange wir verweilen. Unser Körper wird Teil seines Gefüges und unsere Seele Resonanzraum seiner Farben, Stimmen und Stimmungen. Das Urtümliche und die Reflexion: vereint. Wir können nicht bleiben, aber wir dürfen wiederkehren. In den Wald zu gehen ist wie heimkommen in ein Zuhause, das wir nie hatten.

Uta Maria Jürgens studierte Psychologie und Ethologie in Kiel und Umweltwissenschaften an der Yale School of the Environment. Aktuell erforscht sie als Doktorandin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ­Zürich die Verhältnisse, die Menschen zur Natur und zu Wildtieren haben

Literatur

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2021: Erfüllter leben