Was wären wir ohne Bäume?

​Bäume prägen unser Leben auf vielfältige Weise. Unsere Beziehung zu ihnen ist seit jeher eine besondere, zahlreiche Mythen und Rituale inklusive.

Vertikale Gärten in Mailand als Beispiel dafür, wie wichtig Bäume für unser Leben sind
Vertikaler Garten in Mailand: Bäume sind für uns unverzichtbar, auch und vor allem in der Stadt. © Getty

Die Sehnsucht des Menschen nach dem Grün der Bäume ist unstillbar. Das mag auch an unserer Vergangenheit liegen, die ohne Bäume undenkbar ist. Wir sind seit Menschengedenken miteinander verbunden. Unsere Entwicklung wurde von den Bäumen immer wohlwollend, schützend und nachsichtig begleitet. Sie sind die viel ältere Spezies, es gibt sie seit Hunderten Millionen von Jahren – lange bevor die letzte Eiszeit sich über Mitteleuropa legte, überwucherten ganze Urwälder das Land.

Gemessen an diesen Zeitläufen, ist…

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ganze Urwälder das Land.

Gemessen an diesen Zeitläufen, ist es gerade einen Wimpernschlag her, dass der Mensch sich aufrichtete und sich aufmachte, die Krone der Schöpfung werden zu wollen. Ohne die Hilfe der Bäume jedoch wären wir eine nichtssagende Laune der Natur geblieben, aufgestiegen aus dem Dunkel der Evolution und längst wieder versunken im schwarzen Nichts.

Bäume ernähren uns mit ihren köstlichen Früchten und nahrhaften Wurzeln, mit Blättern und Blüten. Ohne Bäume hätten wir keine Werkzeuge, keine Häuser, Zäune, Brücken, Autos, Bücher, Computer – und kein Feuer. Bäume beschützen uns vor den Unwägbarkeiten der Natur, vor klirrender Kälte wie vor sengender Hitze, vor Überflutungen und Dürren. Seien wir ehrlich: Ohne Bäume wären wir nichts. Wir brauchen sie wie die Luft zum Atmen.

Sinnbild des Kosmos

So ist es kein Wunder, dass sich die großen Mythen der Menschheitsgeschichte auf allen Kontinenten, in allen Zivilisationen, bei allen Völkern immer um den Baum drehen. In fast allen Kulturen wird der Baum in Verbindung gebracht mit der Herkunft des Menschen, mit seinem Leben und seinem Werden und Wirken. Unzählige Rituale beziehen sich auf den Baum, er war Sinnbild des Kosmos, er gebar Götter, verwandelte sich in gute, große Menschen und andersherum; in den Mythen der Antike nicht anders als in neuzeitlicher Dichtkunst: von Ovids Philemon und Baucis bis zu Hermann Hesses Piktors Verwandlungen – alles Baum, Weltenbaum.

Als axis mundi durchmisst er das All, der Weltenbaum ist die zentrale Achse, um die sich alles dreht. Aus seinem Stamm sprießen Universen, an seinen Ästen blühen Galaxien, auf seinen Zweigen wachsen die Welten und ihre Wesen, verbunden mit ihm und allem.

Das Bild vom Weltenbaum gibt es in Hochkulturen genauso wie in kultischen Stammesgesellschaften: als Yggdrasil der Germanen oder, viel früher noch, als Gaokarana in Persien, als Huluppubaum der Sumerer, Kiskanu in Babylonien, Kein-mou in China, die Sykomore in Ägypten, der jüdische Ez Chajim, als Ts’ogs-shing im tibetischen Buddhismus, als Wakan der Sioux-Indianer oder als Asvattha der Hindu in Indien. So erlangten Buddha im Schatten des Bodhibaumes und Merlin im Wipfel einer Kiefer ihre Erleuchtung.

Von göttlichem Geist durchwebt

Bäume waren auch hierzulande der Ort, zu dem die Seelen der Verstorbenen heimkehrten, in anderen Bäumen warteten die Seelen der noch nicht geborenen Menschenkinder auf das Leben. Für unsere Ahnen waren Bäume, war die Natur, war alles von göttlichem Geist durchwebt. Und so gingen sie mit hoher Achtung und großem Respekt mit ihrer Welt um, immer im Bewusstsein, selbst Teil des ewigen Kreislaufs von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt zu sein. In ausgedehnten Gotteshainen und unter beeindruckenden heiligen Bäumen fanden Rituale statt, Gesänge, Gebete, Tänze und Opferfeste. Der Mensch der Vorzeit verfügte vielleicht nicht über so viel Verstand wie wir Heutigen, sicherlich aber über mehr Vernunft, denn er zerstörte seine Lebensgrundlage nicht, er tat alles, sie unbeschadet zu erhalten.

In der Zeit der großen Bauhütten und Dombaumeister des Mittelalters stößt man auf die Kunst der geheimnisvollen Astwerkgotik: Steinerne, zu Ornamenten geflochtene Natursymbolik prangt an fast jeder Säule und zeigt überdeutlich, dass sie nichts anderes darstellen als der Natur nachempfundene Bäume. Unbewegliche Blättermasken schmücken marmorne Taufsteine und Epitaphe, Gesichtsfratzen, aus deren Mündern Laub quillt, ein Schrei purer Schöpfungslust – nichts könnte deutlicher versinnbildlichen, wie sehr die sakralen Bauwerke, der ganze Himmelsbau dieser Zeit eine erstarrte Nachahmung der Wälder ist.

Goethe verglich in seinem Aufsatz Von Deutscher Baukunst (1772) den Turm des Straßburger Münsters mit einem „hocherhabenen, weitverbreiteten Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern wie Sand am Meer ringsum der Gegend verkündet die Herrlichkeit des Herrn, seines Meisters“. Und wer in luftiger Höhe im Inneren des Turmes des Ulmer Münsters nach oben sieht, erspürt die Form eines zum Himmel strebenden Baumes, der seine Äste spreizt, dessen Blattwerk keiner Schwerkraft unterliegt, als berühre und halte es die Welten aller Sphären.

Sehnsucht und Heimweh

In den Mittelpunkt von Musik, Malerei und Dichtung rückte der Wald schließlich in der Romantik des 18. Jahrhunderts. In Mythos und Märchen spielte er schon immer eine große Rolle, nun eroberte er auch die Herzen der Kunst. Ob als Garten Eden oder als Reich der Toten, Hexen und Dämonen – er wurde gemalt, besungen und bedichtet: Fortan „schlief ein Lied in allen Dingen“.

Joseph von Eichendorff, Richard Wagner, Felix Mendelssohn Bartholdy und Caspar David Friedrich, Ferdinand Georg Waldmüller, Arnold Böcklin und viele andere schufen einen neuen Zugang zum Wald. Einen Weg, der Zuversicht und Heil versprach, Hoffnung auf ein unverfälschtes Urbild des Seins. Die Sehnsucht „nach jenem weiten Land der Seele“, wie Georg Psota und Michael Horowitz es nennen, nach Stille und Ewigkeit durchtränkt noch immer die Herzen der Menschen, vielleicht mehr denn je. Heimweh nach einer märchenhaft-magischen Landschaft, die uns schützend aufnimmt, behütet und birgt.

Bäume sind mehr als nur zu vermessende Holzlatten – sie sind eine Herzensangelegenheit. Beschränkt sich das Bild, das wir uns von ihnen machen, nur auf biologische Fakten und physikalisch-chemische Zusammenhänge, so stirbt das Staunen. Und mit ihm unsere Liebe für den Baum. Um es mit den Worten von Günter Eich zu sagen: „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!“

Andreas Hase ist Geschäftsführer einer gemeinnützigen Ferienanlage für Familien und naturverbundenen Bildungsstätte. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit der Natur, Wald und Bäumen. Dieser Text ist ein leicht veränderter Auszug aus dem Naturführer Bäume. Tief verwurzelt (Kosmos 2018)

Der Wald und seine Arten

Fast ein Drittel der gesamten Fläche Deutschlands ist mit Wald bedeckt. Die waldreichsten Bundesländer sind Hessen und Rheinland-Pfalz mit jeweils 42 Prozent. Österreich überflügelt uns mit 48 Prozent bei weitem, in der Schweiz dagegen sind es nur unwesentlich mehr als 29 Prozent.

Im Jahr 2016 wiesen Wissenschaftler nach, dass bei den bisherigen weltweiten Waldinventuren große Fehler gemacht wurden. Tatsächlich gibt es achtmal mehr Bäume, als bislang angenommen. Auf jeden der mehr als sieben Milliarden Menschen kommen tatsächlich mehr als 400 Bäume. Das entspricht der unglaublichen Zahl von über drei Billionen einzelner Exemplare.

Im Frühjahr 2017 dann wurde erstmals die Gesamtzahl der verschiedenen Baumarten identifiziert: 60 065. Doch noch immer werden jährlich etwa 2000 neue Pflanzenarten entdeckt, katalogisiert und beschrieben, unter ihnen immer wieder auch bislang unbekannte Baumarten.

Die Zahl der hierzulande vorkommenden Baumarten ist im Vergleich zur weltweiten Vielfalt übrigens überraschend gering. Die Angaben schwanken zwischen mindestens 50 und höchstens 90. AH

Grau und Grün: Bäume in der Stadt

Sie wachsen in Parkanlagen, säumen Straßen oder stehen in privaten Gärten: Bäume gibt es in der Stadt an vielen Orten – und sie erfüllen vielfältige Funktionen. An ihnen ­lesen wir die Jahreszeiten ab. Sie geben uns ein Gefühl von ­Heimat, da je nach Ort andere Arten verbreitet sind. Sie vermitteln uns auch durch das Grün ihrer Blätter Ruhe und fördern damit die Erholung. Besonders alte Exemplare stehen für Zeitlosigkeit und verbinden uns so mit früheren ­Epochen.

Bäume fördern die Gesundheit, indem sie die Luftqualität verbessern und die Konzentrationen von Ozon, Stickoxiden, Schwefeldioxid und Kohlenmonoxid senken. Sie binden Mikropartikel und verringern so die Feinstaubbelastung.

Durch die Nähe zu Bäumen wird unser Umweltbewusstsein gefördert: Ihre Entwicklung über das Jahr verbindet Stadtmenschen mit der Natur, mit der sie sonst nur wenig Kontakt haben.

Bäume lenken den Blick und bieten Orientierung, etwa an Straßen, was auch zur Verkehrssicherheit beiträgt. Sie stechen aus der Umgebung heraus und strukturieren und prägen so Räume.

Bei Hitze finden wir unter Bäumen Schatten und Kühlung, die Temperaturdifferenz zu bebauten Flächen beträgt bis zu 5 Grad Celsius. Bäume fungieren auch als Lärmschutz, sie mindern den Schall um bis zu 10 Dezibel. Sie schützen uns vor Wind und Blitzeinschlägen.

Den Bäumen selbst tut das Stadtleben allerdings offenbar nicht so gut: Ihre Lebenserwartung liegt 50 Prozent unter ihrer potenziellen Altersspanne, Straßenbäume erreichen sogar nur 25 Prozent.

EMT

Andreas Roloff: Bäume in der Stadt. Ulmer, Stuttgart 2013

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 54: Natur & Psyche