Die Königsdisziplin

4 psychologische Erkenntnisse über das Schachspiel und die Menschen, die es meisterlich beherrschen.

Die Illustration zeigt eine Königin und einen König beim Schachspiel
Sowohl Männer als auch Frauen favorisieren aggressive Spieleröffnungen – wenn sie gegen eine Frau spielen. © Till Hafenbrak

Schachspieler und Schachspielerinnen auf Meisterniveau merken sich rund 100000 Eröffnungszüge. Solch beachtliche Denkleistungen der Grandmaster wecken das Interesse der Wissenschaft am Schach. Ursprünglich kommt das „Spiel der Könige“ aus Indien und soll anderthalb Jahrtausende alt sein.

Seit den 1970er Jahren haben Wissenschafts­teams zahlreiche Studien rund um das Brettspiel initiiert, um unter anderem Erkenntnisse über das Denken, die Persönlichkeit und die Intelligenz zu gewinnen. Angel Blanch, Psychologe an der spanischen Universitat de Lleida, hat die Ergebnisse der jahrzehntelangen Forschung in einem umfassenden Buch zusammengetragen. Hier sind einige der interessantesten Beobachtungen.

1. Frauen spielen defensiver

Obgleich Frauen auch auf höchsten Niveaus spielen, unterscheiden sie sich in ihrer Spielart von den Männern – schon beim Setzen des ersten Zuges. Frauen beginnen das Spiel generell vorsichtiger als Männer. Bereits hier konzentrieren sie sich eher auf Verteidigung als auf Angriff. Im Vergleich zu den Spielern gehen die Spielerinnen auch im weiteren Verlauf der Schachpartie defensiver vor.

„Unerwartet wie überraschend ist allerdings die Beobachtung, dass sowohl Männer als auch Frauen aggressive Spieleröffnungen favorisieren – wenn sie gegen eine Frau spielen“, schreibt Blanch. Außerdem hat er bei seiner Analyse der Studien festgestellt: Männer, die gegen eine attraktive Gegnerin antreten, unternehmen sogar noch riskantere Züge als bei anderen Opponenten. Dagegen sind umgekehrt die Frauen immun gegen gutes Aussehen ihrer Konkurrenten.

Leider sind sie nicht immun gegen Stereotype: Ist ihnen nicht bekannt, ob sie es mit einem Gegner oder einer Gegnerin zu tun haben, gewinnen sie deutlich häufiger, als wenn ihnen bewusst ist, dass sie gegen einen Mann antreten. Sie scheinen das Vorurteil verinnerlicht zu haben, demzufolge die Männer besser Schach spielen. Hier stellen also häufig nicht die vermeintlich spieltüchtigeren Schachmeister eine Herausforderung dar, sondern die Hürde besteht in der self-fulfilling prophecy der Schachmeisterinnen.

2. Im Leben Chaos, im Spiel Struktur

Jungen, die laut dem Big Five-Persönlichkeitsmodell weniger verträglich, also nicht sonderlich zartfühlend und rücksichtsvoll sind, zieht es tendenziell eher zum Schachspielen als andere Altersgenossen. „Niedrige Werte von Verträglichkeit deuten auf eine höhere Neigung zur Aggression hin, die einen gewissen Vorteil in dem stark umkämpften Schach darstellt“, summiert Blanch.

Einige Forschende unterscheiden zwischen vier Spielarten: ehrgeizig, konform, robust und riskant. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wollen unter anderem wissen, ob die Art, wie die Profis Schach spielen, Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit zulässt. Ist ein Mensch, der seine Schachpartien beispielsweise eher vorsichtig und defensiv (also robust) spielt, womöglich zurückhaltender und bedachter?

Solche Fragen kann die Forschung je­doch noch nicht beantworten. „Studien dokumentieren, dass Schachspieler und Schachspielerinnen aus ausgeglichenen und geordneten Lebensverhältnissen durch einen besonders aggressiven und ungeordneten Spielstil auffallen können – während umgekehrt einige berühmte Schachspielende mit einem ungeregelten und chaotischen Privatleben hochstrukturiert und mit einer überwältigenden Logik spielen“, fasst Blanch zusammen. Andererseits scheinen ästhetische Vorlieben die Spielweise zu beeinflussen.

3. Talent schlägt Erfahrung

Ein rasches Auffassungsvermögen ist beim Schach zwar hilfreich, doch für die Grandmaster scheint es erstaunlicherweise keine zentrale Rolle zu spielen.

Die Spieler und Spielerinnen auf Meisterniveau zeichnen sich stattdessen unter anderem durch Flexibilität aus: Jene, die weniger an bewährten Schachzügen festhielten und stattdessen offener und unvoreingenommener an die Partie herangingen, hatten mehr Erfolg. So können sich bisweilen jüngere Schachspielerinnen und -spieler gegen etablierte Meister durchsetzen. Auch scheint eine effiziente und vielschichtige Verarbeitung gleichzeitiger Informationen wichtig für den Erfolg zu sein – etwa der analytische Umgang mit räumlich-visuellen Informationen. Ein sehr gutes Kurzzeitgedächtnis ist hier ebenfalls gefragt.

Ansonsten geht es schlicht um eines: Talent, also das Zusammenspiel von kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften. Welche Kombination genau beim Schach Talent ausmacht, gibt der Forschung noch Rätsel auf. Doch die Studien sprechen dafür, „dass Erfahrung in keiner Weise in der Lage ist, Talent zu ersetzen“, berichtet Blanch. „Selbst viel Übung würde einen gewöhnlichen Spieler wahrscheinlich nicht in einen Meisterspieler verwandeln.“ Im Vergleich zu ihren weniger talentierten Altersgenossen scheinen talentierte Spieler und Spielerinnen auch mit zunehmendem Alter nicht auf Schach verzichten zu wollen – sie bleiben ihrer Neigung treu.

4. Übung macht nicht heller

Um eine komplexe Fähigkeit wie das Schachspielen zu meistern, benötige es rund 10000 Übungsstunden. Diese Behauptung dreht immer wieder ihre Runden, seitdem der amerikanische Autor Malcolm Gladwell sie in seinem Bestseller Überflieger popularisiert hat. Zwar nennen einige schachbasierte Studien 10000 Stunden als einen Durchschnitt. Doch andere Beobachtungen weichen deutlich ab: Manche der Spielerinnen und Spieler brauchen lediglich 3000 Übungsstunden, um das Meisterniveau zu erreichen – andere benötigen wiederum 23000.

Ein möglicher Grund: Die langsamen Lerner sind nicht so schlau wie die rasch Lernenden. Eine schnelle Auffassungsgabe spiele gerade beim Erlernen von Schach eine wichtige Rolle, so das Fazit der Studien. So scheint Intelligenz zwar ein Stück weit förderlich für Schach – aber Schach nicht unbedingt förderlich für die Intelligenz. Das haben unter anderem asiatische Forschende zu ihrem Leidwesen herausfinden müssen: Sie wollten die Auffassungsgabe von leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern aufpäppeln, indem sie ihnen das Schachspielen beibrachten. Bessere Noten heimste der Nachwuchs dadurch allerdings nicht ein.

Literatur

Angel Blanch: Chess and Individual Differences. Cambridge University Press, Dezember 2020.

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